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So vergingen drei Jahren. Eines Tages rief ihn der Vorsitzende des wissenschaftlichen Rats und mit der leicht unterdrückten Freude, die der Situation entsprach, teilte ihm mit, dass sehr geehrter Genosse Professor Parasow die Zeitliche segnete und dass es für Valera die höchste Zeit wäre, seine Dissertation zu verteidigen.

Und so ging es für Valera weiter. Er konnte sich früher nicht vorstellen, was für eine große Rolle Nationalpolitik in der UdSSR spielte. Valera versuchte die Stelle des Leiters seines Laboratoriums zu bekleiden. Vergeblich. Der stellvertretende Direktor für Wissenschaft des Instituts versuchte es nicht, ihm die Ursachen dieser Entscheidung zu erklären. Er sagte nur, dass so ein kluger Mensch wie Valera alles selbst verstehen könnte. Alle Valeras Versuche sein Buch zu veröffentlichten waren umsonst. Mit enormen Schwierigkeiten publizierte er seine Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften. Es gelang ihm nie, in einer Konferenz, die im Ausland stattfand, teilzunehmen. Was die Konferenzen betraf, so erklärte man ihm, dass man einem parteilosen Wissenschaftler nicht vertrauen könnte. Valera wusste nicht, ob er wegen Konferenzen zur Partei gehören wollte, aber wenn doch, dann durfte er es nicht, weil es eine sehr kleine prozentuale Quote für Intelligenzia in der Partei existierte, noch kleinere Quote für Juden, und es gab nur wenige Juden, die in Partei waren und zugleich zu Intelligenzia gehörte.

Doch Valera erlebte die Gesellschaft fast ohne Antisemitismus und dieses Erlebnis gefiel ihm. Er wollte nie mehr zurück in alte Zeiten. So kristallisierte sich für ihn langsam die Frage nach Immigration. Valera merkte schon, dass viele seine Bekannten fehlten. Mehrere Menschen immigrierten nach Israel, Amerika, Deutschland, Griechenland, Neuseeland, Australien, Kanada und England. Vielleicht sollte er auch Russland verlassen? Die Entscheidung war gefallen und Valera flog nach Moskau, um in deutschem Konsulat einen Antrag zu stellen. Neben dem Konsulat am Leninskij Prospekt standen Menschen in zwei großen Schlangen. Die größere bildeten Spätaussiedler, die kleinere – Juden. Nach einigen Stunden wurde er samt anderen in einen Konferenzsaal eingeladen. Eine Dame, die sich als Frau Müller vorstellte, erklärte ihnen sehr sachlich auf gehobenem Russisch, was sie tun mussten, um nach Deutschland zu immigrieren. Dann sagte sie, dass sie es nicht verstehen könnte, warum Menschen aus dem Land der Sieger weg wollten. Danach sprach sie Deutsch. Ungefähr zwei Minuten später hob einen Mann der zitternden Hand und fragte kleinlaut, ob es möglich wäre, sich im Deutschland auf Englisch zu verständigen. Diese Frage brachte Frau Müller in Rage. Sie sagte irritiert, dass auf Englisch überhaupt nicht, aber sie fürchtete sich, dass man bald nur Russisch im Deutschland sprechen würde. Valera bekam Antragsformulare und flog nach Rostow zurück. Er benötigte fast ein halbes Jahr, um alle notwendige Papiere zu sammeln und sie danach zu übersetzen. Manchmal bewunderte er diese Antragsformulare. Zum Beispiel, Valera sollte eine Bescheinigung vorlegen, dass er niemals in der UdSSR verheiratet war. Vielleicht wäre so was in Deutschland möglich, doch gewiss nicht in Russland.

Valera schickte seinen Antrag an das Konsulat und ein Jahr später bekam er eine Einladung für eine Besprechung. Valera brachte alle Originale seiner Papiere mit. Man prüfte das alles sorgfältig, sagte aber, dass die Bescheinigung, dass Valera niemals in der UdSSR verheiratet war, fehlte. Valera versuchte zu erklären, dass solche Bescheinigungen existieren nicht. Der Beamter konterte ganz ernsthaft, dass dieses Problem wäre ihm bekannt, aber jeder wüsste doch, dass man in Russland jegliche Papiere kaufen könnte, aber ohne diese Bescheinigung wäre Valeras Mappe nicht vollständig und sein Fall würde nicht weiter bearbeitet. Aufs Tiefste erschüttert von Logik der Bürokratie, fuhr Valera nach Rostow zurück.

In Rostow kam er zum Bürgeramt und überzeugte eine junge einnehmende Beamtin diese seltsame Bescheinigung ihm zu geben. Er schickte die Bescheinigung nach Moskau und bekam einen Brief, wo geschrieben stand, dass Valera Geduld haben sollte und inzwischen Deutsch lernen. Valera hatte nichts dagegen und begann Deutsch zu lernen. Mit der Geduld stand es etwas anders. Einmal pro Jahr rief Valera an, um sich zu erkundigen, wie es seinem Antrag ging. Er bekam eine standardisierte Antwort, dass er in der Geduld üben sollte. Die Hoffnung bekanntlich stirbt zuletzt, stirbt aber unbedingt. Nach sieben Jahren des Wartevorgangs verlor Valera letzten Endes die Hoffnung. Hin oder her, plötzlich, wider alle Erwartungen, bekam er erneut eine Einladung vom Konsulat. Diesmal verlangte man von ihm neue Papieren - Gewerkschaft Mitgliedsausweis, Komsomol Mitgliedsausweis, Militärausweis der Roter Armee von seinem Großgroßvater und Valeras Abschlussfotos von der Schule und der Uni. Valera war echt beeindruckt von Fantasie der deutschen Bürokratie und fühlte sogar Respekt vor ihr. Er konnte sich nicht vorstellen, wie wichtig für die Entscheidung über seinen Antrag die Daten aus dem Militärausweis der Roter Armee von seinem Großgroßvater waren, z. B., dass er im Jahre 1939 neue Filzstiefel bekam, oder was könnte man aus seine Schulabschlussfoto herauskriegen, aber man weiß nie, was die da oben wissen... Valera brachte die neuen alten Papiere mit, die waren genauso sorgfältig geprüft und dann bekam er die Erlaubnis nach Deutschland einzureisen, genaue gesagt, nach Erfurt, Thüringen.

Valera flog mit Lufthansa von Rostow nach Frankfurt. Diesmal kamen ihm Strophen seines beliebtesten Dichters ganz recht:

Leb doch , ungewasch ' nes Russland, wohl,

Ein Land der Sklaven, ein Land der Herren,

Leben doch Sie, Gendarmen, wohl, 

Und Du, ihnen ergebenes Volk. 

Im Flughafen aß er mit großem Vergnügen Gegrillte Haxe mit Sauerkraut und trank Carolus Doppelbock. Jetzt sah es so aus, als ob das Leben ihm seine schöne Seite zeigte. Sehr begeistert vom Essen ging Valera zur Eisenbahnkasse und kaufte eine Fahrkarte nach Erfurt. Auf Deutsch! Und man verstand ihn! Nach solchem Erfolg machte ihm nichts aus, dass er die ganze Nacht im Flughafen auf seiner Zug warten musste, weil in Deutschland keine Züge nachts fahren. Am Morgen war er schon in Erfurt.

Valera fragte nach dem Weg, ging über die Brücke am anderen Ufer der Gera und näherte sich dem Wohnheim. Unterwegs sah er so viele verwahrloste Ruinen, dass er begann zu zweifeln, ob es Deutschland gut ginge. In Rostow gab es keine Ruinen, nur Neubauten, die er hier nirgendwo sah. Endlich kam er zum Wohnheim, fand den Leiter des Wohnheimes und übergab ihm seine Papiere. Der Mann zauberte etwas im Computer, machte ein paar Telefonate und teilte Valera mit, dass er umsonst in Erfurt ausstieg, weil man auf ihn in Jena wartete. Das war ein Schock für Valera. Er bereitete sich für Erfurt vor, las viel über die Stadt. Über Jena wusste er nur, dass man dort Ferngläser herstellte.

Valeras Kräfte wurden schon wegen seiner Reise so aufgerieben, dass er sich solch einen Luxus erlaubte, mit dem Taxi nach Jena zu fahren. In Erfurt lag überall Schnee, in Jena blühten Rosen. Der Taxifahrer fand mit der Mühe das Wohnheim am Rande der Stadt. Das war ein ehemaliger Kindergarten, der jemand mit seltsamer Fantasie in Wohnheim umbaute. Im Hof begegnete er einem fröhlichen Mann aus Sudan, der ihm in ungeheurem Englisch mitteilte, dass er der Sozialarbeiter war und dass der Wohnheimleiter im Büro sich befand. Valera atmete tief die Luft ein, die er sehr rein im Vergleich zu der in Rostow fand, und suchte nach Wohnheimleiter.

 Valera fand den Wohnheimleiter, stellte sich vor und erzählte, dass man ihm hierher aus Erfurt schickte. Alles auf Deutsch, seine Rede bereitete er im Taxi vor. Doch gutes Deutsch beeindruckte den Wohnheimleiter überhaupt nicht, eher irritierte ihn. Er antwortete im hervorragenden Russisch. Valera merkte es später, dass der Wohnheimleiter mochte es nicht, wenn man ihn auf Deutsch ansprach, als ob wollte er nicht, dass man Deutsch lernte.