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›Habt ihr viele?‹

›Genug. Wir haben nicht geglaubt, daß es so viele wären. Manche haben es nie zugegeben. Eine war dabei, die ich kannte – sie trat plötzlich vor und erklärte, sie gehöre zur Partei, sie habe sich wertvolle Nachrichten verschafft, sie wolle zurück ins Vaterland, man habe sie hier abscheulich behandelt, man solle sie gleich mitnehmen. Ich kannte sie gut. Zu gut. Sie weiß -‹

Helen trank rasch und gab mir den Becher. ›Was weiß sie?‹ fragte ich.

›Ich kann es nicht mehr genau sagen. Es gab so viele Nächte, wenn man redete und redete. Sie weiß, wer ich bin -‹ Sie hob den Kopf ›Ich gehe nie zurück, nie! Ich bringe mich um, wenn sie mich holen wollen.‹

›Du wirst dich nicht umbringen, und sie werden dich nicht holen. Warum? Georg ist Gott weiß wo; er erfährt nicht alles. Und wozu sollte die Frau das verraten wollen? Was kann es ihr helfen?‹

›Versprich, daß du mich nicht zurückholen läßt.‹

›Ich verspreche es dir‹, sagte ich. Sie war zu erregt, als daß ich etwas anderes hätte tun können, als in meiner Ohnmacht Allmacht zu versprechen.

›Ich liebe dich‹, sagte sie mit ihrer heiseren, erregten Stimme. ›Ich liebe dich, und was immer auch passieren mag, das mußt du immer glauben!‹

›Ich glaube es‹, erwiderte ich und glaubte es und glaubte es nicht.

Sie lehnte sich erschöpft zurück. ›Wir wollen fliehen‹, sagte ich. ›Heute nacht noch.‹

›Wohin? Hast du deinen Paß?‹

›Ja. Jemand, der im Büro arbeitete, wo die Papiere der Internierten verwahrt wurden, hat ihn mir gegeben. Wer hat deinen?‹

Sie antwortete nicht. Sie starrte eine Weile vor sich hin. ›Eine jüdische Familie ist hier‹, sagte sie dann. ›Mann, Frau und Kind. Vor wenigen Tagen gekommen. Das Kind ist krank. Sie traten mit vor. Sie wollen nach Deutschland zurück. Der Hauptmann fragte sie, ob sie nicht Juden wären. Sie wären Deutsche, sagte der Mann. Sie wollten zurück. Der Hauptmann wollte ihnen etwas sagen, aber die beiden Gestapoleute standen dabei. ›Sie wollen wirklich zurück?‹ fragte er noch einmal. ›Schreiben Sie sie auf, Hauptmann‹, sagte einer der Gestapoleute und lachte. ›Wenn sie soviel Sehnsucht nach der Heimat haben, wollen wir ihnen den Gefallen tun.‹ Sie wurden aufgeschrieben. Es ist nicht mit ihnen zu reden. Sie sagen, sie könnten nicht mehr weiter. Das Kind sei schwer krank. Die andern Juden hier würden ohnehin auch bald abgeholt; da sei es besser, sich vorher zu melden. Wir säßen in der Falle. Es sei besser, freiwillig zu gehen. Sie sind wie taube Maulesel. Du mußt mit ihnen reden.‹

›Ich? Was kann ich ihnen sagen?‹

›Du bist dagewesen. Du warst drüben in einem Lager. Du bist zurückgegangen. Und wieder geflohen.‹

›Wo soll ich es ihnen sagen?‹

›Hier. Ich hole den Mann. Ich weiß, wo er ist. Sofort. Ich habe es ihm gesagt. Man kann ihn noch retten.‹

Nach einer Viertelstunde brachte sie einen schmächtigen Mann, der sich weigerte, durch den Stacheldraht zu kriechen. Er stand auf der Lagerseite und ich auf der anderen, und er hörte mir zu. Ein wenig später kam die Frau. Sie war sehr blaß und sprach kein Wort. Man hatte die beiden und ihr Kind vor etwa zehn Tagen aufgegriffen. Sie waren getrennt in verschiedenen Lagern gewesen und dann geflohen, und der Mann hatte die Frau durch ein Wunder wiedergefunden. Sie hatten überall auf den Straßensteinen und an den Häuserecken ihre Namen hinterlassen.«

Schwarz sah mich an.»Sie kennen die Via Dolorosa?«

»Wer kennt sie nicht! Sie reicht von Belgien bis in die Pyrenäen.«

Die Via Dolorosa war zu Beginn des Krieges entstanden. Nach dem Einbruch der deutschen Truppen in Belgien und dem Durchbruch der Maginotlinie hatte die große Flucht eingesetzt, zuerst mit Automobilen, beladen mit Hausrat und Betten, dann mit jeder Art von Vehikeln, mit Fahrrädern, mit Pferdekarren, mit Karren, die von Menschen gezogen wurden, mit Kinderwagen, und schließlich in endlosen Reihen zu Fuß, dem Süden zu verfolgt von Stuka-Bombern, durch den Hochsommer Frankreichs. Auch die Flucht der Emigranten, dem Süden zu, begann. Damals entstanden die Straßenzeitungen. An den Mauern der Straßen, an Häusern in Dörfern, an den Ecken der Kreuzungen wurden die Namen und Hilferufe von Menschen, die sich suchten, von ihnen angeschrieben, mit Kohle, mit Kreide, mit Farbe. Die Emigranten, die bereits seit Jahren flüchteten und sich vor der Polizei versteckten, hatten außerdem eine Kette von Stützpunkten, die von Nizza bis Neapel und von Paris bis Zürich reichte. Es waren Leute, die dort wohnten und Nachrichten vermittelten, Adressen austauschten, Rat gaben und bei denen man auch ein paar Nächte unterkommen konnte. Durch ihre Hilfe hatte der Mann, von dem Schwarz sprach, seine Frau und sein Kind wiedergefunden, etwas, was sonst schwieriger gewesen wäre, als die sprichwörtliche Stecknadel in einem Heuhaufen zu finden.

»›Wenn wir bleiben wollen, werden wir wieder getrennt‹, erklärte der Mann mir«, sagte Schwarz.»›Dies ist ein Frauenlager. Wir sind zusammen eingeliefert worden, aber nur für ein paar Tage. Man hat mir schon mitgeteilt, daß ich anderswohin käme, in eines der Männerlager. Wir könnten es nicht ertragen.‹ Er hatte alles überlegt; es sei besser so. Fliehen könnten sie nicht; das hätten sie versucht. Sie wären fast dabei verhungert. Jetzt sei das Kind krank, die Frau erschöpft – und er selbst habe keine Kraft mehr. Es sei besser, freiwillig zu gehen; wir andern seien nur noch wie Vieh in den Hallen eines Schlachthofes. Man würde uns nach Bedarf und Laune holen. ›Weshalb hat man uns nicht gehen lassen, als es noch Zeit war?‹ sagte er zum Schluß, ein sanfter, schmaler Mann mit einem schmalen Gesicht und einem kleinen, dunklen Schnurrbart. Niemand hätte eine Antwort darauf gewußt. Man wollte uns zwar nicht haben, aber man wollte uns auch nicht gehen lassen – das war im Zusammenbruch einer Nation ein geringfügiges Paradox, dem wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde von denen, die es hätten ändern können.

Am folgenden Nachmittag kamen zwei Lastwagen die Straße herauf. Im gleichen Augenblick sah ich, wie der Stacheldraht lebendig wurde. Etwa ein Dutzend Frauen halfen einander beim Hindurchkriechen. Sie schwärmten in den Wald. Ich hielt mich versteckt, bis ich Helen bemerkte. ›Wir sind gewarnt worden von der Präfektur‹, sagte sie. ›Die Deutschen sind da, die abzuholen, die zurück wollen. Man weiß nicht, was sonst noch passiert; deshalb ist uns erlaubt worden, uns im Walde zu verstecken, bis sie weg sind.‹

Es war das erste Mal, daß ich sie am Tage sah, abgesehen von dem Augenblick auf der Straße. Ihre langen Beine und ihr Gesicht waren braun; aber sie war sehr dünn. Die Augen waren zu groß und zu glänzend, und das Gesicht war zu schmal. ›Du gibst mir dein Essen und hungerst selbst‹, sagte ich.

›Ich habe genug zu essen‹, erwiderte sie. ›Dafür ist gesorgt. Hier -‹ sie steckte die Hand in die Tasche, ›da ist sogar ein Stück Schokolade. Gestern konnten wir Pate de foie gras und Sardinen in Büchsen kaufen. Aber kein Brot.‹

›Geht der Mann, mit dem ich gesprochen habe?‹ fragte ich.

›Ja -‹

Helens Gesicht zuckte plötzlich. ›Ich gehe nie zurück‹, sagte sie dann. ›Nie! Du hast es mir versprochen! Ich will nicht, daß sie mich fangen!‹

›Sie werden dich nicht fangen.‹

Die Wagen fuhren nach einer Stunde wieder ab. Die Frauen sangen. Verweht klang es herüber: Deutschland, Deutschland über alles.

In dieser Nacht gab ich Helen einen Teil des Giftes, das ich in Le Vernet bekommen hatte.

Einen Tag später wußte sie, daß Georg erfahren hatte, wo sie war.

›Wer hat es dir gesagt?‹ fragte ich.

›Jemand, der es weiß.‹

›Wer?‹

›Der Arzt des Lagers.‹

›Woher weiß er es?‹

›Von der Kommandantur. Dort ist angefragt worden.‹

›Hat der Arzt gesagt, was du tun sollst?‹

›Er kann mich ein paar Tage in der Krankenbaracke verstecken. Nicht lange.‹

›Dann mußt du aus dem Lager heraus. Von wem kam gestern die Warnung, daß die von euch, die gefährdet seien, sich im Wald verstecken sollten?‹