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Sie sagte es fast jedesmal, bevor sie sich von mir trennte. Es war die Zeit, als wir das Freiwild aller waren, sowohl der französischen Gendarmen, die aus einem wildgewordenen Ordnungssinn nach uns fahndeten, als auch der Gestapo, die in die Lager einzudringen versuchte, obschon es hieß, daß ein Abkommen mit der Regierung Pétain bestehe, das dies untersagte. Man wußte nie, wer einen schnappen würde, und jeder Abschied am Morgen war immer der letzte.

Helen brachte mir Brot und Obst und manchmal ein Stück Wurst oder Käse. Ich traute mich nicht hinunter in das nächste Städtchen, um dort zu wohnen. Ich richtete mich im Walde ein und lebte in dem Rest eines alten, zerstörten Klosters, das ich ein Stück entfernt entdeckte. Tagsüber schlief ich dort, oder ich las, was Helen mir brachte, und beobachtete die Straße von einem Gebüsch aus, in dem ich nicht gesehen werden konnte. Helen brachte mir auch die Nachrichten und die Gerüchte: daß die Deutschen näher und näher rückten und sich nicht um ihre Verträge kümmerten.

Es war trotzdem ein fast panisches Leben. Die Furcht kam ab und zu bitter wie Magensaft hoch; aber die Gewohnheit, nur der Stunde zu leben, siegte immer wieder. Wir hatten gutes Wetter, und der Himmel war nachts voll mit Sternen. Helen hatte eine Zeltplane besorgt, auf der wir unter trockenem Laub in dem zerstörten Klostergang lagen und auf die Geräusche der Nacht horchten. ›Wie kommt es, daß du so fortkannst?‹ fragte ich sie einmal. ›Und so oft?‹

›Ich habe eine Vertrauensstelle und etwas Protektion‹, erwiderte sie nach einer Weile. ›Du hast ja gesehen – ich bin auch manchmal im Dorf.‹

›Kannst du deshalb das Essen für mich bekommen?‹

›Ich bekomme es von der Kantine. Wir dürfen dort etwas kaufen, wenn wir Geld haben und solange es etwas gibt.‹

›Hast du keine Angst, daß jemand dich hier sehen könnte oder dich verraten würde?‹

Sie lächelte. ›Nur für dich. Nicht für mich. Was kann mir passieren? Ich bin ja schon im Gefängnis.‹

Am nächsten Abend kam sie nicht. Die Klagemauer löste sich auf, ich schlich heran, die Baracken lagen schwarz im schwachen Licht, ich wartete, aber sie kam nicht. Ich hörte die Nacht durch die Frauen, die zur Toilettenbaracke wanderten, ich hörte Seufzen und Stöhnen, und plötzlich sah ich die abgeschirmten Lichter von Automobilen auf der Straße. Tagsüber blieb ich im Walde. Ich war unruhig; irgend etwas mußte passiert sein. Eine Zeitlang dachte ich an das, was ich im Lager gehört hatte, und in einer sonderbar umgekehrten Weise wurde es mir zum Trost. Alles war besser, als daß Helen krank, abtransportiert oder tot war. Diese drei Möglichkeiten lagen so dicht beieinander, daß alle dasselbe bedeuteten. Und unser Leben war so ausweglos, daß es jetzt nur auf eines ankam: sich nicht zu verlieren, und irgendwann zu versuchen, aus dem Wirbel in eine stille Bucht zu flüchten. Vielleicht konnten wir dann noch einmal alles vergessen.

Man kann es nicht«, sagte Schwarz.»Nicht mit aller Liebe, allem Mitleid, aller Güte, aller Zärtlichkeit. Ich wußte das, und es war mir gleich, ich lag im Walde und starrte auf die schwebenden Leichen der bunten Blätter, die sich von den Zweigen lösten, und dachte nur: Laß sie leben! Laß sie leben, Gott, und ich will sie nie nach etwas fragen. Das Leben eines Menschen ist so viel größer als die Verstrickungen, in die er gerät, laß sie leben, nur leben, und wenn es ohne mich sein muß, so laß sie leben ohne mich, aber laß sie leben!

Helen kam auch nicht in der folgenden Nacht. Dafür sah ich abends wieder zwei Automobile. Sie kamen die Straße zum Lager herauf. Ich schlich in weitem Bogen herum und erkannte Uniformen. Ich konnte nicht sehen, ob es SS- oder Wehrmachts-Uniformen waren, aber es mußten deutsche sein. Ich verbrachte eine entsetzliche Nacht. Die Wagen waren gegen neun Uhr gekommen und fuhren erst nach ein Uhr wieder ab. Die Tatsache, daß sie nachts gekommen waren, ließ es fast zur Gewißheit werden, daß es Gestapo war. Als sie abfuhren, konnte ich nicht erkennen, ob Leute aus dem Lager mitgenommen wurden. Ich irrte – ich irrte im buchstäblichen Sinne des Wortes – auf der Straße und um das Lager herum bis zum Morgen. Dann wollte ich noch einmal versuchen, als Monteur in das Lager zu gelangen, aber ich sah, daß die Wachen verdoppelt waren und daß ein Zivilist mit Listen dabeisaß.

Der Tag schien kein Ende zu nehmen. Als ich zum hundertsten Male an den Stacheldrähten vorbeistrich, sah ich plötzlich, etwa zwanzig Schritte davon entfernt, auf meiner Seite, ein Paket, das in eine Zeitung gewickelt war. Es enthielt ein Stück Brot und zwei Äpfel und einen Zettel ohne Unterschrift: ›heute abend‹. Helen mußte es herausgeworfen haben, als ich nicht da war. Ich aß das Brot auf den Knien, so schwach war mir plötzlich. Dann ging ich zu meinem Versteck und schlief. Nachmittags wachte ich auf Es war ein sehr klarer Tag, gefüllt mit goldenem Licht wie mit Wein. Das Laub hatte sich jede Nacht stärker gefärbt. Jetzt standen die Buchen und eine Linde in der warmen Nachmittagssonne, die auf meine Lichtung fiel, so gelb und rot da, als habe ein unsichtbarer Maler während meines Schlafes sie in Fackeln verwandelt, die in einem völlig stillen Licht bewegungslos leuchteten. Nicht ein Blatt rührte sich.«

Schwarz unterbrach sich.»Bitte werden Sie nicht ungeduldig, wenn ich scheinbar unnötige Naturschilderungen mache. Die Natur war so wichtig in all dieser Zeit für uns, wie sie es für Tiere ist. Sie war auch das, was uns nie zurückwies. Wir brauchten keinen Paß und keinen Arierausweis für sie. Sie gab und nahm, aber sie war unpersönlich, und das war wie eine Medizin. An diesem Nachmittag regte ich mich lange nicht; ich fürchtete, ich könne überfließen wie eine Schale, randvoll mit Wasser. Dann sah ich plötzlich, in der vollkommenen Stille, ohne einen Hauch von Wind, Hunderte von Blättern von den Bäumen niederschweben, als hätten sie einem geheimnisvollen Kommando gehorcht. Sie glitten gelassen durch die klare Luft, und einige fielen auf mich nieder. In diesem Augenblick erkannte ich die Freiheit des Todes und ihren ungeheuren Trost. Ich wußte, ohne einen Entschluß zu fassen, daß ich die Gnade hatte, mein Leben beenden zu können, wenn Helen stürbe, daß ich nicht allein zurückzubleiben brauchte, und daß diese Gnade der Ausgleich ist, der dem Menschen gegeben ist für das Übermaß an Liebe, dessen er fähig ist und das über das Maß der Kreatur hinausgeht; – ich erkannte es, ohne zu denken, und während ich es erkannte, war es, in einem fernen Sinne, schon nicht mehr ganz notwendig, zu sterben.

Helen stand nicht in der Reihe der Klagemauer. Sie kam erst, als die andern fort waren. Sie trug ein Paar kurze Hosen und eine Bluse und reichte mir eine Flasche Wein und ein Paket durch den Draht. In dem ungewohnten Anzug erschien sie sehr jung.

›Der Kork ist gezogen‹, sagte sie. ›Hier ist auch ein Trinkbecher.‹ Sie schlüpfte leicht durch die Stacheldrähte. ›Du mußt fast verhungert sein. Ich habe in der Kantine etwas bekommen, was ich seit Paris nicht mehr gesehen habe.‹

›Eau de Cologne‹, sagte ich. Sie roch danach, frisch in der frischen Nacht.

Sie schüttelte den Kopf. Ich sah, daß ihr Haar geschnitten war; es war kürzer als vorher.

›Was ist nur passiert?‹ fragte ich, plötzlich ärgerlich. ›Ich habe geglaubt, man hätte dich abgeholt oder du wärest im Sterben, und du kommst wieder, als hättest du einen Schönheitssalon besucht. Hast du auch die Nägel manikürt bekommen?‹

›Ich habe es selbst getan.‹ Sie hob die Hände und lachte. ›Laß uns den Wein trinken!‹

›Was ist passiert? War die Gestapo da?‹

›Nein. Eine Kommission der Armee. Aber es waren zwei Gestapo-Beamte dabei.‹

›Haben sie jemand mitgenommen?‹

›Nein‹, erwiderte sie. ›Gib mir zu trinken.‹

Ich sah, daß sie sehr erregt war. Ihre Hände waren heiß, und ihre Haut war so trocken, als müßte sie knistern.

›Sie waren da‹, sagte sie. ›Sie kamen, um eine Liste der Nazis im Lager zu machen. Sie sollen nach Deutschland zurückgeschickt werden.‹