›Was soll das alles?‹ sagte Helen. ›Ich bin nicht krank, und ich gehe nicht in ein Krankenhaus.‹
›Können Sie sie in ein Krankenhaus bringen‹, fragte ich den Arzt, ›so, daß sie dort sicher ist?‹
›Nein‹, erwiderte er nach einer Pause.
Helen lachte wieder. ›Natürlich nicht. Welch ein dummes Gespräch. Adieu, Jean.‹
Sie ging voraus, die Straße entlang. Ich wollte den Arzt fragen, was sie hätte; aber ich konnte es nicht. Er starrte mich an, dann drehte er sich rasch um und ging zum Lager zurück. Ich folgte Helen.
›Hast du deinen Paß?‹ fragte ich.
Sie nickte. ›Gib mir deine Tasche‹, sagte ich.
›Es ist nicht viel darin.‹
›Gib sie mir trotzdem.‹
›Ich habe das Abendkleid noch, das du mir in Paris gekauft hast.‹
Wir gingen die Straße hinunter. ›Du bist krank?‹ fragte ich.
›Wenn ich wirklich krank wäre, könnte ich doch nicht gehen. Ich müßte Fieber haben. Ich bin nicht krank. Er lügt. Er wollte, ich sollte bleiben. Sieh mich an. Sehe ich krank aus?‹ Sie blieb stehen.
›Ja‹, sagte ich.
›Sei nicht traurig‹, erwiderte sie.
›Ich bin nicht traurig.‹
Ich wußte jetzt, daß sie krank war; und ich wußte, daß sie es mir nie gestehen würde. ›Würde es dir helfen, wenn du in einem Krankenhaus wärest?‹
›Nein!‹ sagte sie. ›Nicht im geringsten! Du mußt mir das glauben. Wenn ich krank wäre und ein Hospital könnte mir helfen, würde ich sofort versuchen, hineinzukommen. Glaube mir das!‹
›Ich glaube es dir.‹
Was hätte ich sonst tun sollen? Ich war plötzlich entsetzlich mutlos. ›Vielleicht wärest du lieber im Lager geblieben‹ sagte ich schließlich.
›Ich hätte mich getötet, wenn du nicht gekommen wärest.‹
Wir gingen weiter. Der Regen wurde stärker. Er war wie ein grauer Schleier aus sehr feinen Tropfen, der um uns herumwehte. ›Wir wollen sehen, daß wir bald nach Marseille kommen‹, sagte ich. ›Und von dort nach Lissabon und dann nach Amerika.‹ Es gibt dort gute Ärzte, dachte ich. Und Krankenhäuser, in denen man nicht verhaftet wird. Ich werde vielleicht auch arbeiten dürfen. ›Wir werden Europa vergessen wie einen bösen Traum‹, sagte ich. Helen antwortete nicht.«
15
»Die Odyssee begann«, sagte Schwarz.»Die Wanderung durch die Wüste. Der Zug durch das Rote Meer. Sie kennen ihn sicher auch.«
Ich nickte.»Bordeaux. Das Abtasten der Grenzübergänge. Die Pyrenäen. Der langsame Sturm auf Marseille. Der Sturm auf die trägen Herzen und die Flucht vor den Barbaren. Dazwischen der Irrsinn der wildgewordenen Bürokratie. Keine Aufenthaltserlaubnis – aber auch keine Ausreiseerlaubnis. Und wenn man sie schließlich erhielt, war inzwischen das spanische Durchreisevisum abgelaufen, das man wiederum nur bekam, wenn man ein Einreisevisum für Portugal besaß, das oft noch von einem anderen abhängig war, was hieß, daß alles wieder von vorn zu beginnen hatte – das Warten vor den Konsulaten, diesen Vororten des Himmels und der Hölle! Ein Circulus vitiosus des Wahnsinns!«
»Wir kamen vorerst in eine Windstille«, sagte Schwarz.»Helen brach am Abend zusammen. Ich hatte ein Zimmer in einem abgelegenen Gasthof gefunden. Wir waren zum ersten Mal wieder legal; – wir hatten zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder ein Zimmer für uns allein – das war es, was den Weinkrampf bei ihr hervorrief. Wir saßen nachher schweigend in dem kleinen Garten des Gasthofs. Es war schon sehr kühl, aber wir wollten noch nicht schlafen gehen. Wir tranken eine Flasche Wein und blickten auf die Straße, die zum Lager führte und die man vom Garten aus sehen konnte. Eine tiefe Dankbarkeit saß mir fast schmerzhaft im Nacken. Alles war an diesem Abend ausgelöscht durch sie, sogar die Furcht, daß Helen krank sei. Sie sah nach ihrem Weinkrampf gelöst und sehr ruhig aus, wie eine Landschaft nach einem Regen, und so schön, wie man manchmal Gesichter auf alten Kameen sieht. Sie werden das verstehen«, sagte Schwarz.»In einem Dasein, wie wir es führen, hat Krankheit eine andere Bedeutung als sonst. Krankheit heißt bei uns, nicht mehr fliehen zu können.«
»Ich weiß«, erwiderte ich bitter.
»Am andern Abend sahen wir die abgeblendeten Lichter eines Wagens die Straße zum Lager emporkriechen. Helen wurde unruhig. Wir hatten uns den Tag über kaum aus unserm Zimmer gerührt. Wieder ein Bett zu haben und einen eigenen Raum, war ein solches Erlebnis, daß man es nicht genug genießen konnte. Wir spürten auch beide, wie müde und erschöpft wir waren, und ich hätte mich gern für Wochen nicht aus dem Gasthof gerührt. Aber Helen wollte plötzlich fort. Sie wollte die Straße zum Lager nicht mehr sehen. Sie fürchtete, die Gestapo würde sie weiter suchen.
Wir packten unsere paar Sachen. Es war vernünftig, weiterzuwandern, solange wir noch eine Aufenthaltserlaubnis für unseren Bezirk hatten; wenn wir anderswo geschnappt würden, konnte man uns höchstens hierher zurückweisen, aber uns nicht gleich festnehmen, hofften wir.
Ich wollte nach Bordeaux; auf dem Wege aber hörten wir, daß es längst zu spät dafür sei. Ein kleiner Citroen-Zweisitzer nahm uns mit, und der Fahrer riet uns, zu versuchen, irgendwoanders unterzukommen. Es sei da ein kleines Schloß in der Nähe seines Zieles; er wisse, daß es leerstände, vielleicht könnten wir da für die Nacht kampieren.
Wir hatten kaum eine Wahl. Am späten Nachmittag setzte uns der Fahrer ab. Vor uns im grauen Licht lag das Schlößchen, eigentlich eher ein Landhaus, dessen Fenster dunkel waren und keine Gardinen zeigten. Ich ging die Freitreppe hinauf und versuchte die Tür. Sie war offen und zeigte Spuren, daß sie gewaltsam geöffnet worden war. Meine Schritte hallten in der dämmerigen Halle. Ich rief und bekam ein gebrochenes Echo als Antwort. Die Räume waren vollkommen leer. Alles, was weggenommen werden konnte, war weggenommen worden. Geblieben aber waren die Räume des achtzehnten Jahrhunderts, die getäfelten Wände, die edlen Maße der Fenster, die Decken und die graziösen Treppen.
Wir gingen langsam hindurch. Niemand antwortete auf unsere Rufe. Ich suchte nach elektrischen Schaltern. Es waren keine da. Das Schlößchen hatte noch keine Elektrizität; es war geblieben, wie es erbaut war. Ein kleines Speisezimmer war da in Gold und Weiß – ein Schlafzimmer in hellem Grün und Gold. Nicht ein einziges Möbel; die Besitzer mußten es ausgeräumt haben, um zu flüchten.
In einem Mansardenzimmer fanden wir endlich eine Truhe. Sie enthielt ein paar Masken, bunte, billige Kostüme, die von einem Fest stammen mußten, und ein paar Pakete Kerzen. Besser aber war eine eiserne Bettstelle mit einer Matratze. Wir suchten weiter und entdeckten etwas Brot in der Küche, ein paar Büchsen Sardinen, ein Büschel Knoblauch, ein halbgeleertes Glas Honig und im Keller ein paar Pfund Kartoffeln, ein paar Flaschen Wein und einen Stapel Holz. Es war ein Feenland!
Das Haus hatte fast überall Kamine. Wir verhängten das Fenster eines Zimmers, das wahrscheinlich ein Schlafzimmer gewesen war, mit einigen der Kostüme, die wir gefunden hatten. Ich ging noch einmal um das Haus und entdeckte einen Obst- und Gemüsegarten. Äpfel und Birnen hingen noch an den Bäumen. Ich sammelte sie und brachte sie herein.
Als es so dunkel war, daß man keinen Rauch mehr aufsteigen sehen konnte, machte ich ein Feuer im Kamin an, und wir begannen zu essen. Es war eine gespenstische und verzauberte Stimmung. Der Schein des Feuers flackerte über die herrlichen Boiserien, und unsere Schatten schwankten dazwischen wie Geister aus einer glücklichen Welt.
Es wurde warm, und Helen wechselte ihre Kleider, um die andern zu trocknen. Sie holte ihr Abendkleid aus Paris hervor und zog es an. Ich öffnete eine Flasche Wein. Wir hatten keine Gläser und tranken aus der Flasche. Helen zog sich später noch einmal um. Sie holte aus der Truhe einen Domino und eine Halbmaske und lief damit durch das dunkle Treppenhaus. Sie rief von oben und von unten und huschte umher, ihre Stimme hallte von überall wider, ich sah sie nicht mehr, ich hörte nur ihre Füße, bis sie plötzlich hinter mir im Dunkel stand und ich ihren Atem in meinem Nacken spürte.