311.

Die sogenannte Seele. — Die Summe innerer Bewegungen, welche dem Menschen leicht fallen und die er in Folge dessen gerne und mit Anmuth thut, nennt man seine Seele; — er gilt als seelenlos, wenn er Mühe und Härte bei inneren Bewegungen merken lässt.

312.

Die Vergesslichen. — In den Ausbrüchen der Leidenschaft und im Phantasiren des Traumes und des Irrsinns entdeckt der Mensch seine und der Menschheit Vorgeschichte wieder: die Thierheit mit ihren wilden Grimassen; sein Gedächtniss greift einmal weit genug rückwärts, während sein civilisirter Zustand sich aus dem Vergessen dieser Urerfahrungen, also aus dem Nachlassen jenes Gedächtnisses entwickelt. Wer als ein Vergesslicher höchster Gattung allem Diesen immerdar sehr fern geblieben ist, versteht die Menschen nicht, — aber es ist ein Vortheil für Alle, wenn es hier und da solche Einzelne giebt, welche» sie nicht verstehen «und die gleichsam aus göttlichem Samen gezeugt und von der Vernunft geboren sind.

313.

Der nicht mehr erwünschte Freund. — Den Freund, dessen Hoffnungen man nicht befriedigen kann, wünscht man sich lieber zum Feinde.

314.

Aus der Gesellschaft der Denker. — Inmitten des Ozeans des Werdens wachen wir auf einem Inselchen, das nicht grösser als ein Nachen ist, auf, wir Abenteuerer und Wandervögel, und sehen uns hier eine kleine Weile um: so eilig und so neugierig wie möglich, denn wie schnell kann uns ein Wind verwehen oder eine Welle über das Inselchen hinwegspülen, sodass Nichts mehr von uns da ist! Aber hier, auf diesem kleinen Raume, finden wir andere Wandervögel und hören von früheren, — und so leben wir eine köstliche Minute der Erkenntniss und des Errathens, unter fröhlichem Flügelschlagen und Gezwitscher mit einander und abenteuern im Geiste hinaus auf den Ozean, nicht weniger stolz als er selber!

315.

Sich entäussern. — Etwas von seinem Eigenthume fahren lassen, sein Recht aufgeben — macht Freude, wenn es grossen Reichthum anzeigt. Dahin gehört die Grossmuth.

316.

Schwache Secten. — Die Secten, welche fühlen, dass sie schwach bleiben werden, machen Jagd auf einzelne intelligente Anhänger und wollen durch Qualität ersetzen, was ihnen an Quantität abgeht. Hierin liegt keine geringe Gefahr für die Intelligenten.

317.

Das Urtheil des Abends. — Wer über sein Tages und Lebenswerk nachdenkt, wenn er am Ende und müde ist, kommt gewöhnlich zu einer melancholischen Betrachtung: das liegt aber nicht am Tage und am Leben, sondern an der Müdigkeit. — Mitten im Schaffen nehmen wir uns gewöhnlich keine Zeit zu Urtheilen über das Leben und das Dasein, und mitten im Geniessen auch nicht: kommt es aber einmal doch dazu, so geben wir Dem nicht mehr Recht, welcher auf den siebenten Tag und die Ruhe wartete, um Alles, was da ist, sehr schön zu finden, — er hatte den besseren Augenblick verpasst.

318.

Vorsicht vor den Systematikern! — Es giebt eine Schauspielerei der Systematiker: indem sie ein System ausfüllen wollen und den Horizont darum rund machen, müssen sie versuchen, ihre schwächeren Eigenschaften im Stile ihrer stärkeren auftreten zu lassen, — sie wollen vollständige und einartig starke Naturen darstellen.

319.

Gastfreundschaft. — Der Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft ist: das Feindliche im Fremden zu lähmen. Wo man im Fremden nicht mehr zunächst den Feind empfindet, nimmt die Gastfreundschaft ab; sie blüht, so lange ihre böse Voraussetzung blüht.

320.

Vom Wetter. — Ein sehr ungewöhnliches und unberechenbares Wetter macht die Menschen auch gegen einander misstrauisch; sie werden dabei neuerungssüchtig, denn sie müssen von ihren Gewohnheiten abgehen. Desshalb lieben die Despoten alle Länderstriche, wo das Wetter moralisch ist.

321.

Gefahr in der Unschuld. — Die unschuldigen Menschen werden in allen Stücken die Opfer, weil ihre Unwissenheit sie hindert, zwischen Maass und Übermaass zu unterscheiden und bei Zeiten vorsichtig gegen sich selber zu sein. So gewöhnen sich unschuldige, das heisst unwissende junge Frauen an den häufigen Genuss der Aphrodisien und entbehren ihn später sehr, wenn ihre Männer krank oder frühzeitig welk werden; gerade die harmlose und gläubige Auffassung, als ob diese häufige Art, mit ihnen zu verkehren, das Recht und die Regel sei, bringt sie zu einem Bedürfniss, welches sie später den heftigsten Anfechtungen und Schlimmerem aussetzt. Aber ganz allgemein und hoch genommen: wer einen Menschen und ein Ding liebt, ohne ihn und es zu kennen, wird die Beute von Etwas, das er nicht lieben würde, wenn er es sehen könnte. Überall, wo Erfahrenheit, Vorsicht und abgewogene Schritte noth thun, wird gerade der Unschuldige am gründlichsten verdorben werden, denn er muss mit blinden Augen die Hefe und das unterste Gift jeder Sache austrinken. Man erwäge die Praxis aller Fürsten, Kirchen, Secten, Parteien, Körperschaften: wird nicht immer der Unschuldige als der süsseste Köder zu den ganz gefährlichen und verruchten Fällen verwendet? — so wie Odysseus den unschuldigen Neoptolemos verwendet, um dem alten kranken Einsiedler und Unhold von Lemnos den Bogen und die Pfeile abzulisten. — Das Christenthum, mit seiner Verachtung der Welt, hat aus der Unwissenheit eine Tugend gemacht, die christliche Unschuld, vielleicht weil das häufigste Resultat dieser Unschuld eben, wie angedeutet, die Schuld, das Schuldgefühl und die Verzweiflung ist, somit eine Tugend, welche auf dem Umweg der Hölle zum Himmel führt: denn nun erst können sich die düsteren Propyläen des christlichen Heils aufthun, nun erst wirkt die Verheissung einer nachgeborenen zweiten Unschuld sie ist eine der schönsten Erfindungen des Christenthums!

322.

Womöglich ohne Arzt leben. — Es will mir scheinen, als ob ein Kranker leichtsinniger sei, wenn er einen Arzt hat, als wenn er selber seine Gesundheit besorgt. Im ersten Falle genügt es ihm, streng in Bezug auf alles Vorgeschriebene zu sein; im andern Falle fassen wir Das, worauf jene Vorschriften abzielen, unsere Gesundheit, mit mehr Gewissen in's Auge und bemerken viel mehr, gebieten und verbieten uns viel mehr, als auf Veranlassung des Arztes geschehen würde. — Alle Regeln haben diese Wirkung: vom Zwecke hinter der Regel abzuziehen und leichtsinniger zu machen. — Und wie würde der Leichtsinn der Menschheit in's Unbändige und Zerstörerische gestiegen sein, wenn sie jemals vollkommen ehrlich der Gottheit als ihrem Arzte Alles überlassen hätte, nach dem Worte» wie Gott will«! —

323.

Verdunkelung des Himmels. — Kennt ihr die Rache der schüchternen Menschen, welche sich in der Gesellschaft benehmen, als hätten sie ihre Gliedmaassen gestohlen? Die Rache der demüthigen christenmässigen Seelen, welche sich auf Erden überall nur durchschleichen? Die Rache Derer, die immer sogleich urtheilen und immer sogleich Unrecht bekommen? Die Rache der Trunkenbolde aller Gattungen, denen der Morgen das Unheimlichste am Tage ist? Desgleichen der Krankenbolde aller Gattungen, der Kränkelnden und Gedrückten, welche nicht mehr den Muth haben, gesund zu werden? Die Zahl dieser kleinen Rachsüchtigen und gar die ihrer kleinen Rache-Acte ist ungeheuer; die ganze Luft schwirrt fortwährend von den abgeschossenen Pfeilen und Pfeilchen ihrer Bosheit, sodass die Sonne und der Himmel des Lebens dadurch verdunkelt werden — nicht nur ihnen, sondern noch mehr uns, den Anderen, Übrigen: was schlimmer ist, als dass sie uns allzu oft Haut und Herz ritzen. Leugnen wir nicht mitunter Sonne und Himmel, blos weil wir sie so lange nicht gesehen haben? — Also: Einsamkeit! Auch darum Einsamkeit!