4.

Aber nicht die logischen Werthurtheile sind die untersten und gründlichsten, zu denen die Tapferkeit unsers Argwohns hinunterkann: das Vertrauen auf die Vernunft, mit dem die Gültigkeit dieser Urtheile steht und fällt, ist, als Vertrauen, ein moralisches Phänomen… Vielleicht hat der deutsche Pessimismus seinen letzten Schritt noch zu thun? Vielleicht muss er noch Ein Mal auf eine furchtbare Weise sein Credo und sein Absurdum neben einander stellen? Und wenn dies Buch bis in die Moral hinein, bis über das Vertrauen zur Moral hinweg pessimistisch ist, — sollte es nicht gerade damit ein deutsches Buch sein? Denn es stellt in der That einen Widerspruch dar und fürchtet sich nicht davor: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt — warum doch? Aus Moralität! Oder wie sollen wir's heissen, was sich in ihm — in uns — begiebt? denn wir würden unsrem Geschmacke nach bescheidenere Worte vorziehn. Aber es ist kein Zweifel, auch zu uns noch redet ein» du sollst«, auch wir noch gehorchen einem strengen Gesetze über uns, — und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hörbar macht, die auch wir noch zu leben wissen, hier, wenn irgend worin, sind auch wir noch Menschen des Gewissens: dass wir nämlich nicht wieder zurückwollen in Das, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas» Unglaubwürdiges«, heisse es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe; dass wir uns keine Lügenbrücken zu alten Idealen gestatten; dass wir von Grund aus Allem feind sind, was in uns vermitteln und mischen möchte; feind jeder jetzigen Art Glauben und Christlichkeit; feind dem Halb- und Halben aller Romantik und Vaterländerei; feind auch der Artisten-Genüsslichkeit, Artisten-Gewissenlosigkeit, welche uns überreden möchte, da anzubeten, wo wir nicht mehr glauben — denn wir sind Artisten — ; feind, kurzum, dem ganzen europäischen Femininismus (oder Idealismus, wenn man's lieber hört), der ewig» hinan zieht «und ewig gerade damit» herunter bringt«: — allein als Menschen dieses Gewissens fühlen wir uns noch verwandt mit der deutschen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit von Jahrtausenden, wenn auch als deren fragwürdigste und letzte Abkömmlinge, wir Immoralisten, wir Gottlosen von heute, ja sogar, in gewissem Verstande, als deren Erben, als Vollstrecker ihres innersten Willens, eines pessimistischen Willens, wie gesagt, der sich davor nicht fürchtet, sich selbst zu verneinen, weil er mit Lust verneint! In uns vollzieht sich, gesetzt, dass ihr eine Formel wollt, — die Selbstaufhebung der Moral.-

5.

— Zuletzt aber: wozu müssten wir Das, was wir sind, was wir wollen und nicht wollen, so laut und mit solchem Eifer sagen? Sehen wir es kälter, ferner, klüger, höher an, sagen wir es, wie es unter uns gesagt werden darf, so heimlich, dass alle Welt es überhört, dass alle Welt uns überhört! Vor Allem sagen wir es langsam… Diese Vorrede kommt spät, aber nicht zu spät, was liegt im Grunde an fünf, sechs Jahren? Ein solches Buch, ein solches Problem hat keine Eile; überdies sind wir Beide Freunde des lento, ich ebensowohl als mein Buch. Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch das will sagen, ein Lehrer des langsamen Lesens: — endlich schreibt man auch langsam. Jetzt gehört es nicht nur zu meinen Gewohnheiten, sondern auch zu meinem Geschmacke — einem boshaften Geschmacke vielleicht? — Nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die» Eile hat«, zur Verzweiflung gebracht wird. Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden — , als eine Goldschmiedekunst und — kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzuthun hat und Nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nöthiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der» Arbeit«, will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit Allem gleich» fertig werden «will, auch mit jedem alten und neuen Buche: — sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt gut lesen, das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen… Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommene Leser und Philologen: lernt mich gut lesen! —

Ruta bei Genua, im Herbst des Jahres 1886.

Erstes Buch

1.

Nachträgliche Vernünftigkeit. — Alle Dinge, die lange leben, werden allmählich so mit Vernunft durchtränkt, dass ihre Abkunft aus der Unvernunft dadurch unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede genaue Geschichte einer Entstehung für das Gefühl paradox und frevelhaft? Widerspricht der gute Historiker im Grunde nicht fortwährend?

2.

Vorurtheil der Gelehrten. — Es ist ein richtiges Urtheil der Gelehrten, dass die Menschen aller Zeiten zu wissen glaubten, was gut und böse, lobens- und tadelnswerth sei. Aber es ist ein Vorurtheil der Gelehrten, dass wir es jetzt besser wüssten, als irgend eine Zeit.

3.

Alles hat seine Zeit. — Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte er nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben: — den ungeheuren Umfang dieses Irrthums hat er sich sehr spät und jetzt vielleicht noch nicht ganz eingestanden. — Ebenso hat der Mensch Allem, was da ist, eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine ethische Bedeutung über die Schulter gehängt. Das wird einmal ebenso viel und nicht mehr Werth haben, als es heute schon der Glaube an die Männlichkeit oder Weiblichkeit der Sonne hat.

4.

Gegen die erträumte Disharmonie der Sphären. — Wir müssen die viele falsche Grossartigkeit wieder aus der Welt schaffen, weil sie gegen die Gerechtigkeit ist, auf die alle Dinge vor uns Anspruch haben! Und dazu thut noth, die Welt nicht disharmonischer sehen zu wollen als sie ist!

5.

Seid dankbar. — Das grosse Ergebniss der bisherigen Menschheit ist, dass wir nicht mehr beständige Furcht vor wilden Thieren, vor Barbaren, vor Göttern und vor unseren Träumen zu haben brauchen.

6.

Der Taschenspieler und sein Widerspiel. — Das Erstaunliche in der Wissenschaft ist dem Erstaunlichen in der Kunst des Taschenspielers entgegengesetzt. Denn dieser will uns dafür gewinnen, eine sehr einfache Causalität dort zu sehen, wo in Wahrheit eine sehr complicirte Causalität in Thätigkeit ist. Die Wissenschaft dagegen nöthigt uns, den Glauben an einfache Causalitäten gerade dort aufzugeben, wo Alles so leicht begreiflich scheint und wir die Narren des Augenscheins sind. Die» einfachsten «Dinge sind sehr complicirt, — man kann sich nicht genug darüber verwundern!

7.

Um lernen des Raumgefühls. — Haben die wirklichen Dinge oder die eingebildeten Dinge mehr zum menschlichen Glück beigetragen? Gewiss ist, dass die Weite des Raumes zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück erst mit Hülfe der eingebildeten Dinge hergestellt worden ist. Diese Art von Raumgefühl wird folglich, unter der Einwirkung der Wissenschaft, immer verkleinert: so wie wir von ihr gelernt haben und noch lernen, die Erde als klein, ja das Sonnensystem als Punct zu empfinden.

8.

Transfiguration. — Die rathlos Leidenden, die verworren Träumenden, die überirdisch Entzückten, — diess sind die drei Grade, in welche Raffael die Menschen eintheilt. So blicken wir nicht mehr in die Welt — und auch Raffael dürfte es jetzt nicht mehr: er würde eine neue Transfiguration mit Augen sehen.

9.

Begriff der Sittlichkeit der Sitte. — Im Verhältniss zu der Lebensweise ganzer Jahrtausende der Menschheit leben wir jetzigen Menschen in einer sehr unsittlichen Zeit: die Macht der Sitte ist erstaunlich abgeschwächt und das Gefühl der Sittlichkeit so verfeinert und so in die Höhe getragen, dass es ebenso gut als verflüchtigt bezeichnet werden kann. Desshalb werden uns, den Spätgeborenen, die Grundeinsichten in die Entstehung der Moral schwer, sie bleiben uns, wenn wir sie trotzdem gefunden haben, an der Zunge kleben und wollen nicht heraus: weil sie grob klingen! Oder weil sie die Sittlichkeit zu verleumden scheinen! So zum Beispiel gleich der Hauptsatz: Sittlichkeit ist nichts Anderes (also namentlich nicht mehr!), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen; Sitten aber sind die herkömmliche Art zu handeln und abzuschätzen. In Dingen, wo kein Herkommen befiehlt, giebt es keine Sittlichkeit; und je weniger das Leben durch Herkommen bestimmt ist, um so kleiner wird der Kreis der Sittlichkeit. Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in Allem von sich und nicht von einem Herkommen abhängen will: in allen ursprünglichen Zuständen der Menschheit bedeutet» böse «so viel wie» individuell«,»frei«,»willkürlich«,»ungewohnt«,»unvorhergesehen«,»unberechenbar«. Immer nach dem Maassstab solcher Zustände gemessen: wird eine Handlung gethan, nicht weil das Herkommen sie befiehlt, sondern aus anderen Motiven (zum Beispiel des individuellen Nutzens wegen), ja selbst aus eben den Motiven, welche das Herkommen ehemals begründet haben, so heisst sie unsittlich und wird so selbst von ihrem Thäter empfunden: denn sie ist nicht aus Gehorsam gegen das Herkommen gethan worden. Was ist das Herkommen? Eine höhere Autorität, welcher man gehorcht, nicht weil sie das uns Nützliche befiehlt, sondern weil sie befiehlt. — Wodurch unterscheidet sich diess Gefühl vor dem Herkommen von dem Gefühl der Furcht überhaupt? Es ist die Furcht vor einem höheren Intellect, der da befiehlt, vor einer unbegreiflichen unbestimmten Macht, vor etwas mehr als Persönlichem, — es ist Aberglaube in dieser Furcht. — Ursprünglich gehörte die ganze Erziehung und Pflege der Gesundheit, die Ehe, die Heilkunst, der Feldbau, der Krieg, das Reden und Schweigen, der Verkehr unter einander und mit den Göttern in den Bereich der Sittlichkeit: sie verlangte, dass man Vorschriften beobachtete, ohne an sich als Individuum zu denken. Ursprünglich also war Alles Sitte, und wer sich über sie erheben wollte, musste Gesetzgeber und Medicinmann und eine Art Halbgott werden: das heisst, er musste Sitten machen, — ein furchtbares, lebensgefährliches Ding! — Wer ist der Sittlichste? Einmal Der, welcher das Gesetz am häufigsten erfüllt: also, gleich dem Brahmanen, das Bewusstsein desselben überallhin und in jeden kleinen Zeittheil trägt, sodass er fortwährend erfinderisch ist in Gelegenheiten, das Gesetz zu erfüllen. Sodann Der, der es auch in den schwersten Fällen erfüllt. Der Sittlichste ist Der, welcher am meisten der Sitte opfert: welches aber sind die grössten Opfer? Nach der Beantwortung dieser Frage entfalten sich mehrere unterschiedliche Moralen; aber der wichtigste Unterschied bleibt doch jener, welcher die Moralität der häufigsten Erfüllung von der der schwersten Erfüllung trennt. Man täusche sich über das Motiv jener Moral nicht, welche die schwerste Erfüllung der Sitte als Zeichen der Sittlichkeit fordert! Die Selbstüberwindung wird nicht ihrer nützlichen Folgen halber, die sie für das Individuum hat, gefordert, sondern damit die Sitte, das Herkommen herrschend erscheine, trotz allem individuellen Gegengelüst und Vortheil: der Einzelne soll sich opfern, — so heischt es die Sittlichkeit der Sitte. — Jene Moralisten dagegen, welche wie die Nachfolger der sokratischen Fusstapfen die Moral der Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit dem Individuum als seinen eigensten Vortheil, als seinen persönlichsten Schlüssel zum Glück an's Herz legen, machen die Ausnahme — und wenn es uns anders erscheint, so ist es, weil wir unter ihrer Nachwirkung erzogen sind: sie alle gehen eine neue Strasse unter höchlichster Missbilligung aller Vertreter der Sittlichkeit der Sitte, — sie lösen sich aus der Gemeinde aus, als Unsittliche, und sind, im tiefsten Verstande, böse. Ebenso erschien einem tugendhaften Römer alten Schrotes jeder Christ, welcher» am ersten nach seiner eigenen Seligkeit trachtete«, — als böse. — überall, wo es eine Gemeinde und folglich eine Sittlichkeit der Sitte giebt, herrscht auch der Gedanke, dass die Strafe für die Verletzung der Sitte vor Allem auf die Gemeinde fällt: jene übernatürliche Strafe, deren Aeusserung und Gränze so schwer zu begreifen ist und mit so abergläubischer Angst ergründet wird. Die Gemeinde kann den Einzelnen anhalten, dass er den nächsten Schaden, den seine That im Gefolge hatte, am Einzelnen oder an der Gemeinde wieder gut mache, sie kann auch eine Art Rache am Einzelnen dafür nehmen, dass durch ihn, als angebliche Nachwirkung seiner That, sich die göttlichen Wolken und Zorneswetter über der Gemeinde gesammelt haben, — aber sie empfindet die Schuld des Einzelnen doch vor Allem als ihre Schuld und trägt dessen Strafe als ihre Strafe — : die Sitten sind locker geworden, so klagt es in der Seele eines Jeden, wenn solche Thaten möglich sind. «Jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder; es ist gar nicht auszurechnen, was gerade die seltneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben müssen, dass sie immer als die bösen und gefährlichen empfunden wurden, ja dass sie sich selber so empfanden. Unter der Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte hat die Originalität jeder Art ein böses Gewissen bekommen; bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdüsterter, als er sein müsste.