Die Stimmung als Argument. — Was ist die Ursache freudiger Entschlossenheit zur That? — Diese Frage hat die Menschen viel beschäftigt. Die älteste und immer noch geläufige Antwort ist: Gott ist die Ursache, er giebt uns dadurch zu verstehen, dass er unserem Willen zustimmt. Wenn man ehemals die Orakel über ein Vorhaben befragte, wollte man von ihnen jene freudige Entschlossenheit heimbringen; und jeder beantwortete einen Zweifel, wenn ihm mehrere mögliche Handlungen vor der Seele standen, so.-»ich werde Das thun, wobei jenes Gefühl sich einstellt. «Man entschied sich also nicht für das Vernünftigste, sondern für ein Vorhaben, bei dessen Bilde die Seele muthig und hoffnungsvoll wurde. Die gute Stimmung wurde als Argument in die Wagschale gelegt und überwog die Vernünftigkeit: desshalb, weil die Stimmung abergläubisch ausgelegt wurde, als Wirkung eines Gottes, der Gelingen verheisst und durch sie seine Vernunft als die höchste Vernünftigkeit reden lässt. Nun erwäge man die Folgen eines solchen Vorurtheils, wenn kluge und machtdurstige Männer sich seiner bedienten — und bedienen!» Stimmung machen!«— damit kann man alle Gründe ersetzen und alle Gegengründe besiegen!
Die Schauspieler der Tugend und der Sünde. — Unter den Männern des Alterthums, welche durch ihre Tugend berühmt wurden, gab es, wie es scheint, eine Un- und Überzahl von solchen, die vor sich selber schauspielerten: namentlich werden die Griechen, als eingefleischte Schauspieler, diess eben ganz unwillkürlich gethan und für gut befunden haben. Dazu war Jeder mit seiner Tugend im Wettstreit mit der Tugend eines Andern oder aller Anderen: wie sollte man nicht alle Künste aufgewendet haben, um seine Tugend zur Schau zu bringen, vor Allem vor sich selber, schon um der Übung willen! Was nützte eine Tugend, die man nicht zeigen konnte oder die sich nicht zu zeigen verstand! — Diesen Schauspielern der Tugend that das Christenthum Einhalt: dafür erfand es das widerliche Prunken und Paradiren mit der Sünde, es brachte die erlogene Sündhaftigkeit in die Welt (bis zum heutigen Tage gilt sie als» guter Ton «unter guten Christen).
Die verfeinerte Grausamkeit als Tugend. — Hier ist eine Moralität, die ganz auf dem Triebe nach Auszeichnung beruht, — denkt nicht zu gut von ihr! Was ist denn das eigentlich für ein Trieb und welches ist sein Hintergedanke? Man will machen, dass unser Anblick dem Anderen wehe thue und seinen Neid, das Gefühl der Ohnmacht und seines Herabsinkens wecke; man will ihm die Bitterkeit seines Fatums zu kosten geben, indem man auf seine Zunge einen Tropfen unseres Honigs träufelt und ihm scharf und schadenfroh bei dieser vermeintlichen Wohlthat in's Auge sieht. Dieser ist demüthig geworden und vollkommen jetzt in seiner Demuth, — suchet nach Denen, welchen er damit seit langer Zeit eine Tortur hat machen wollen! ihr werdet sie schon finden! Jener zeigt Erbarmen gegen die Thiere und wird desshalb bewundert, — aber es giebt gewisse Menschen, an welchen er eben damit seine Grausamkeit hat auslassen wollen. Dort steht ein grosser Künstler: die vorempfundene Wollust am Neide bezwungener Nebenbuhler hat seine Kraft nicht schlafen lassen, bis dass er gross geworden ist, — wie viele bittere Augenblicke anderer Seelen hat er sich für das Grosswerden zahlen lassen! Die Keuschheit der Nonne: mit welchen strafenden Augen sieht sie in das Gesicht anders lebender Frauen! wie viel Lust der Rache ist in diesen Augen! — Das Thema ist kurz, die Variationen darauf könnten zahllos sein, aber nicht leicht langweilig, — denn es ist immer noch eine gar zu paradoxe und fast wehethuende Neuigkeit, dass die Moralität der Auszeichnung im letzten Grunde die Lust an verfeinerter Grausamkeit ist. Im letzten Grunde — das soll hier heissen: jedesmal in der ersten Generation. Denn wenn die Gewohnheit irgend eines auszeichnenden Thuns sich vererbt, wird doch der Hintergedanke nicht mit vererbt (nur Gefühle, aber keine Gedanken erben sich fort): und vorausgesetzt, dass er nicht durch die Erziehung wieder dahintergeschoben wird, giebt es in der zweiten Generation schon keine Lust der Grausamkeit mehr dabei: sondern Lust allein an der Gewohnheit als solcher. Diese Lust aber ist die erste Stufe des» Guten«.
Der Stolz auf den Geist. — Der Stolz des Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung von Thieren sträubt und zwischen Natur und Mensch die grosse Kluft legt, — dieser Stolz hat seinen Grund in einem Vorurtheil über Das, was Geist ist: und dieses Vorurtheil ist verhältnissmässig jung. In der grossen Vorgeschichte der Menschheit setzte man Geist überall voraus und dachte nicht daran, ihn als Vorrecht des Menschen zu ehren. Weil man im Gegentheil das Geistige (nebst allen Trieben, Bosheiten, Neigungen) zum Gemeingut und folglich gemein gemacht hatte, so schämte man sich nicht, von Thieren oder Bäumen abzustammen (die vornehmen Geschlechter glaubten sich durch solche Fabeln geehrt) und sah in dem Geiste Das, was uns mit der Natur verbindet, nicht was uns von ihr abscheidet. So erzog man sich in der Bescheidenheit, — und ebenfalls in Folge eines Vorurtheils.
Der Hemmschuh. — Moralisch zu leiden und dann zu hören, dieser Art Leiden liege ein Irrthum zu Grunde, diess empört. Es giebt ja einen so einzigen Trost, durch sein Leiden eine» tiefere Welt der Wahrheit «zu bejahen, als alle sonstige Welt ist, und man will viel lieber leiden und sich dabei über die Wirklichkeit erhaben fühlen (durch das Bewusstsein, jener» tieferen Welt der Wahrheit «damit nahe zu kommen) als ohne Leid und dann ohne diess Gefühl des Erhabenen sein. Somit ist es der Stolz und die gewohnte Art, ihn zu befriedigen, welche sich dem neuen Verständniss der Moral entgegenstemmen. Welche Kraft wird man also anzuwenden haben, um diesen Hemmschuh zu beseitigen? Mehr Stolz? Einen neuen Stolz?
Die Verachtung der Ursachen, der Folgen und der Wirklichkeit. — Jene bösen Zufälle, welche eine Gemeinde treffen, plötzliche Wetter oder Unfruchtbarkeiten oder Seuchen, leiten alle Mitglieder auf den Argwohn, dass Verstösse gegen die Sitte begangen sind oder dass neue Gebräuche erfunden werden müssen, um eine neue dämonische Gewalt und Laune zu beschwichtigen. Diese Art Argwohn und Nachdenken geht somit gerade der Ergründung der wahren natürlichen Ursachen aus dem Wege, sie nimmt die dämonische Ursache als die Voraussetzung. Hier ist die eine Quelle der erblichen Verkehrtheit des menschlichen Intellects: und die andere Quelle entspringt daneben, indem man ebenso grundsätzlich den wahren natürlichen Folgen einer Handlung ein viel geringeres Augenmerk schenkte, als den übernatürlichen (den sogenannten Strafen und Gnaden der Gottheit). Es sind zum Beispiel bestimmte Bäder für bestimmte Zeiten vorgeschrieben: man badet, nicht um rein zu werden, sondern weil es vorgeschrieben ist. Man lernt nicht die wirklichen Folgen der Unreinlichkeit fliehen, sondern das vermeintliche Missfallen der Götter an der Versäumniss eines Bades. Unter dem Drucke abergläubischer Angst argwöhnt man, es müsse sehr viel mehr mit diesem Abwaschen der Unreinlichkeit auf sich haben, man legt zweite und dritte Bedeutungen hinein, man verdirbt sich den Sinn und die Lust am Wirklichen und hält diess zuletzt, nur insofern es Symbol sein kann, noch für werthvoll. So verachtet der Mensch im Banne der Sittlichkeit der Sitte erstens die Ursachen, zweitens die Folgen, drittens die Wirklichkeit, und spinnt alle seine höheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) an eine eingebildete Welt an: die sogenannte höhere Welt. Und noch jetzt sehen wir die Folge: wo das Gefühl eines Menschen sich erhebt, da ist irgendwie jene eingebildete Welt im Spiel. Es ist traurig: aber einstweilen müssen dem wissenschaftlichen Menschen alle höheren Gefühle verdächtig sein, so sehr sind sie mit Wahn und Unsinn verquickt. Nicht dass sie es an sich oder für immer sein müssten: aber gewiss wird von allen allmählichen Reinigungen, welche der Menschheit bevorstehen, die Reinigung der höheren Gefühle eine der allmählichsten sein.