34.

Moralische Gefühle und moralische Begriffe. — Ersichtlich werden moralische Gefühle so übertragen, dass die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und dass sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen nachmachen; im späteren Leben, wo sie sich voll von diesen angelernten und wohl geübten Affecten finden, halten sie ein nachträgliches Warum, eine Art Begründung, dass jene Neigungen und Abneigungen berechtigt sind, für eine Sache des Anstandes. Diese» Begründungen «aber haben weder mit der Herkunft, noch dem Grade des Gefühls bei ihnen Etwas zu thun: man findet sich eben nur mit der Regel ab, dass man als vernünftiges Wesen Gründe für sein Für und Wider haben müsse, und zwar angebbare und annehmbare Gründe. Insofern ist die Geschichte der moralischen Gefühle eine ganz andere, als die Geschichte der moralischen Begriffe. Erstere sind mächtig vor der Handlung, letztere namentlich nach der Handlung, angesichts der Nöthigung, sich über sie auszusprechen.

35.

Gefühle und deren Abkunft von Urtheilen. — »Vertraue deinem Gefühle!«— Aber Gefühle sind nichts Letztes, Ursprüngliches, hinter den Gefühlen stehen Urtheile und Werthschätzungen, welche in der Form von Gefühlen (Neigungen, Abneigungen) uns vererbt sind. Die Inspiration, die aus dem Gefühle stammt, ist das Enkelkind eines Urtheils — und oft eines falschen! — und jedenfalls nicht deines eigenen! Seinem Gefühle vertrauen — das heisst seinem Grossvater und seiner Grossmutter und deren Grosseltern mehr gehorchen als den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung.

36.

Eine Narrheit der Pietät mit Hintergedanken. — Wie! die Erfinder der uralten Culturen, die ältesten Verfertiger der Werkzeuge und Messschnüre, der Wagen und Schiffe und Häuser, die ersten Beobachter der himmlischen Gesetzmässigkeit und der Regeln des Einmaleins, — sie seien etwas unvergleichlich Anderes und Höheres, als die Erfinder und Beobachter unserer Zeiten? Die ersten Schritte hätten einen Werth, dem alle unsere Reisen und Weltumsegelungen im Reiche der Entdeckungen nicht gleichkämen? So klingt das Vorurtheil, so argumentirt man für die Geringschätzung des gegenwärtigen Geistes. Und doch liegt auf der Hand, dass der Zufall ehemals der grösste aller Entdecker und Beobachter und der wohlwollende Einbläser jener erfinderischen Alten war, und dass bei der unbedeutendsten Erfindung, die jetzt gemacht wird, mehr Geist, Zucht und wissenschaftliche Phantasie verbraucht wird, als früher in ganzen Zeitläuften überhaupt vorhanden war.

37.

Falsche Schlüsse aus der Nützlichkeit. — Wenn man die höchste Nützlichkeit einer Sache bewiesen hat, so ist damit auch noch kein Schritt zur Erklärung ihres Ursprungs gethan: das heisst, man kann mit der Nützlichkeit niemals die Nothwendigkeit der Existenz verständlich machen. Aber gerade das umgekehrte Urtheil hat bisher geherrscht — und bis in die Gebiete der strengsten Wissenschaft hinein. Hat man nicht selbst in der Astronomie die (angebliche) Nützlichkeit in der Anordnung der Satelliten (das durch die grössere Entfernung von der Sonne abgeschwächte Licht anderweitig zu ersetzen, damit es den Bewohnern der Gestirne nicht an Licht mangele) für den Endzweck ihrer Anordnung und für die Erklärung ihrer Entstehung ausgegeben? Wobei man sich der Schlüsse des Columbus erinnern wird.- die Erde ist für den Menschen gemacht, also, wenn es Länder giebt, müssen sie bewohnt sein.»Ist es wahrscheinlich, dass die Sonne auf Nichts scheine und dass die nächtlichen Wachen der Sterne an pfadlose Meere und menschenleere Länder verschwendet werden?»

38.

Die Triebe durch die moralischen Urtheile umgestaltet. — Der selbe Trieb entwickelt sich zum peinlichen Gefühl der Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels, den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat: oder zum angenehmen Gefühl der Demuth, falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich an's Herz gelegt und gut geheissen hat. Das heisst: es hängt sich ihm entweder ein gutes oder ein böses Gewissen an! An sich hat er, wie jeder Trieb, weder diess noch überhaupt einen moralischen Charakter und Namen, noch selbst eine bestimmte begleitende Empfindung der Lust oder Unlust: er erwirbt diess Alles erst, als seine zweite Natur, wenn er in Relation zu schon auf gut und böse getauften Trieben tritt, oder als Eigenschaft von Wesen bemerkt wird, welche vom Volke schon moralisch festgestellt und abgeschätzt sind. — So haben die älteren Griechen anders über den Neid empfunden, als wir; Hesiod zählt ihn unter den Wirkungen der guten, wohlthätigen Eris auf, und es hatte nichts Anstössiges, den Göttern etwas Neidisches zuzuerkennen: begreiflich bei einem Zustande der Dinge, dessen Seele der Wettstreit war; der Wettstreit aber war als gut festgestellt und abgeschätzt. Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in der Abschätzung der Hoffnung — man empfand sie als blind und tückisch; Hesiod hat das Stärkste über sie in einer Fabel angedeutet, und zwar etwas so Befremdendes, dass kein neuerer Erklärer es verstanden hat, — denn es geht wider den modernen Geist, welcher vom Christenthum her an die Hoffnung als eine Tugend zu glauben gelernt hat. Bei den Griechen dagegen, welchen der Zugang zum Wissen der Zukunft nicht gänzlich verschlossen schien und denen in zahllosen Fällen eine Anfrage um die Zukunft zur religiösen Pflicht gemacht wurde, wo wir uns mit der Hoffnung begnügen, musste wohl, Dank allen Orakeln und Wahrsagern, die Hoffnung etwas degradirt werden und in's Böse und Gefährliche hinabsinken. — Die Juden haben den Zorn anders empfunden, als wir, und ihn heilig gesprochen: dafür haben sie die düstere Majestät des Menschen, mit welcher verbunden er sich zeigte, unter sich in einer Höhe gesehen, die sich ein Europäer nicht vorzustellen vermag; sie haben ihren zornigen heiligen Jehovah nach ihren zornigen heiligen Propheten gebildet. An ihnen gemessen, sind die grossen Zürner unter den Europäern gleichsam Geschöpfe aus zweiter Hand.

39.

Das Vorurtheil vom» reinen Geiste«. — Überall, wo die Lehre von der reinen Geistigkeit geherrscht hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen die Nervenkraft zerstört: sie lehrte den Körper geringschätzen, vernachlässigen oder quälen, und um aller seiner Triebe willen den Menschen selber quälen und geringschätzen; sie gab verdüsterte, gespannte, gedrückte Seelen, — welche noch überdiess glaubten, die Ursache ihres Elend-Gefühls zu kennen und sie vielleicht heben zu können!» Im Körper muss sie liegen! erblüht immer noch zu sehr!«— so schlossen sie, während thatsächlich derselbe gegen seine fortwährende Verhöhnung durch seine Schmerzen Einsprache über Einsprache erhob. Eine allgemeine, chronisch gewordene Übernervosität war endlich das Loos jener tugendhaften Reingeistigen: die Lust lernten sie nur noch in der Form der Ekstase und anderer Vorläufer des Wahnsinns kennen — und ihr System kam auf seine Spitze, als es die Ekstase als das hohe Ziel des Lebens und als den verurtheilenden Maassstab für alles Irdische nahm.

40.

Das Grübeln über Gebräuche. — Zahllose Vorschriften der Sitte, einem einmaligen seltsamen Vorkommniss flüchtig abgelesen, wurden sehr schnell unverständlich; es liess sich ihre Absicht ebenso wenig mit Sicherheit ausrechnen wie die Strafe, welche der Übertretung folgen werde; selbst über die Folge der Ceremonien blieb Zweifel; — aber indem man darüber hin und her rieth, wuchs das Object eines solchen Grübelns an Werth, und gerade das Absurdeste eines Gebrauches gieng zuletzt in die heiligste Heiligkeit über. Man denke nicht gering von der hier in Jahrtausenden aufgewendeten Kraft der Menschheit und am wenigsten von der Wirkung dieses Grübelns über Gebräuche! Wir sind hier auf der ungeheuren Übungsstätte des Intellectes angelangt, — nicht nur dass hier die Religionen ausgesponnen und fortgesponnen werden: hier ist die würdige, obschon schauerliche Vorwelt der Wissenschaft, hier wuchs der Dichter, der Denker, der Arzt, der Gesetzgeber! Die Angst vor dem Unverständlichen, welches in zweideutiger Weise von uns Ceremonien forderte, gieng allmählich in den Reiz des Schwerverständlichen über, und wo man nicht zu ergründen wusste, lernte man schaffen.