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»Menschenskinder!«sagte Lebenthal.»Habt ihr das gehört?«

Es wurde warm. Abends erfuhr die Baracke, daß auch das Krematorium beschädigt worden war.

Eine der Umfassungsmauern war eingestürzt, und der Galgen stand schief; aber der Schornstein rauchte mit Volldampf weiter.

Der Himmel bezog sich. Es wurde immer schwüler. Das Kleine Lager bekam kein Abendessen.

Die Baracken waren still. Wer konnte, lag draußen. Es schien, als müsse die schwere Luft Nahrung geben. Die Wolken, die dichter und fahler wurden, sahen aus wie Säcke, aus denen Essen fallen könne. Lebenthal kam müde von einem Patrouillengang zurück. Er meldete, daß nur vier Baracken im Arbeitslager Abendessen bekommen hätten. Die anderen nicht; angeblich sei die Proviantabteilung beschädigt. Es seien keine Kontrollen in den Baracken vorgenommen worden.

Offenbar habe die SS den Verlust der Waffen noch nicht bemerkt.

Es wurde immer wärmer. Die Stadt lag in einem sonderbaren, schwefligen Licht. Die Sonne war längst untergegangen, aber die Wolken hingen noch voll von dem gelben, fahlen Licht, das nicht weichen wollte.»Es gibt ein Gewitter«, sagte Berger. Er lag blaß neben 509.»Hoffentlich.«

Berger sah ihn an. Das Wasser lief ihm in die Augen. Sehr langsam drehte er den Kopf, und plötzlich floß ein Schwall Blut aus seinem Munde. Es war mühelos und so natürlich, daß 509 es in der ersten Sekunde einfach nicht faßte. Dann richtete er sich auf.»Was ist los? Berger! Berger!«

Berger krümmte sich und lag still.»Nichts«, sagte er.»Ist das ein Blutsturz?«»Nein.«

»Was denn?«»Magen.«»Magen?«

Berger nickte. Er spuckte das Blut aus, das noch in seinem Munde war.»Nichts Schlimmes«, flüsterte er.

»Schlimm genug. Was müssen wir machen? Sag, was wir tun müssen?«»Nichts.

Liegen. Ruhig liegenlassen.«

»Sollen wir dich hineinbringen? Du kannst ein Bett für dich haben. Wir werfen ein paar andere hinaus.«»Laß mich nur liegen.«509 war plötzlich völlig verzweifelt. Er hatte so viele Menschen sterben sehen und war so oft beinahe selbst gestorben, daß er geglaubt hatte, ein einzelner Tod könne nicht mehr viel für ihn bedeuten. Jetzt aber traf es ihn wie das erstemal. Ihm schien, als verliere er den letzten und einzigen Freund seines Lebens. Er war sofort hoffnungslos.

Berger lächelte ihm mit schweißnassem Gesicht zu – aber 509 sah ihn bereits regungslos am Rande des Zementweges liegen.

»Irgend jemand muß noch was zu essen haben! Oder Medizin besorgen! Lebenthal!«

»Nichts zu essen«, flüsterte Berger. Er hob eine Hand und öffnete die Augen.

»Glaub mir. Ich werde sagen, was ich brauche. Und wann. Jetzt nichts. Glaub mir. Es ist nur der Magen.«Er schloß die Augen wieder.

Nach dem Abpfeifen kam Lewinsky aus der Baracke. Er hockte sich zu 509.»Warum bist du eigentlich nicht in der Partei?«fragte er.

509 blickte auf Berger. Berger atmete regelmäßig.»Wozu willst du das gerade jetzt wissen?«fragte er zurück.

»Es ist schade. Ich wollte, du wärest einer von uns.«509 wußte, was Lewinsky meinte. Die Kommunisten bildeten in der unterirdischen Lagerleitung eine besonders zähe, verschlossene und energische Gruppe. Sie arbeitete zwar mit den anderen zusammen, traute ihnen aber nie ganz und verfolgte ihre besonderen Ziele. Sie schützte und förderte zuerst ihre eigenen Leute.

»Wir könnten dich gebrauchen«, sagte Lewinsky.»Was warst du früher?

Beruf meine ich?«

»Redakteur«, erwiderte 509 und wunderte sich selbst, wie sonderbar das klang.

»Redakteure könnten wir besonders gut gebrauchen.«509 erwiderte nichts. Er wußte, daß eine Diskussion mit einem Kommunisten ebenso zwecklos war wie mit einem Nazi.»Hast du eine Ahnung, was für einen Blockältesten wir kriegen?«fragte er nach einer Weile.

»Ja. Wahrscheinlich einen von unseren eigenen Leuten. Sicher aber einen Politischen.

Bei uns ist auch ein neuer eingesetzt worden. Er gehört zu uns.«

»Dann gehst du wieder zurück?«

»In ein oder zwei Tagen. Das hat mit dem Blockältesten nichts zu tun.«

»Hast du sonst etwas gehört?«

Lewinsky blickte 509 prüfend an. Dann rückte er näher heran.»Wir erwarten die Übernahme des Lagers in etwa zwei Wochen.«

»Was?«

»Ja. In zwei Wochen.«

»Du meinst die Befreiung?«

»Die Befreiung und die Übernahme durch uns. Wir müssen es übernehmen, wenn die SS abzieht.«

»Wer wir?«

Lewinsky zögerte wieder einen Augenblick.»Die künftige Lagerleitung«, sagte er dann.»Es muß eine dasein, und sie wird bereits organisiert; sonst gibt es nichts als Verwirrung. Wir müssen bereit sein, sofort einzugreifen. Die Verpflegung des Lagers muß ohne Unterbrechung weitergeführt werden, das ist das wichtigste. Verpflegung, Versorgung, Verwaltung – Tausende von Menschen können nicht gleich auseinanderlaufen -«

»Hier sicher nicht. Hier können nicht alle laufen.«

»Das kommt dazu. Ärzte, Medizin, Transportmöglichkeiten, Nahrungsnachschub, Requisitionen dafür in den Dörfern -«

»Und wie wollt ihr das alles machen?«

»Man wird uns helfen, das ist gewiß. Aber wir müssen es organisieren. Die Engländer oder Amerikaner, die uns befreien, sind kämpfende Truppen. Sie sind nicht ausgerüstet dafür, sofort KZ-Lager zu verwalten. Das müssen wir selbst machen. Mit ihrer Hilfe natürlich.«509 sah den Kopf Lewinskys gegen den wolkigen Himmel. Er war wuchtig und rund, ohne Weichheit.

»Sonderbar«, sagte er.»Wie selbstverständlich wir mit der Hilfe unserer Feinde rechnen, wie?«

»Ich habe geschlafen«, sagte Berger.»Ich bin wieder in Ordnung. Es war nur der Magen, weiter nichts.«

»Du bist krank, und es ist nicht der Magen«, erwiderte 509.»Ich habe nie gehört, daß man vom Magen Blut spuckt.«

Berger hatte die Augen weit geöffnet.»Ich habe etwas Sonderbares geträumt. Es war sehr deutlich und wirklich. Ich operierte. Das helle Licht -«

Er blickte in die Nacht.»Lewinsky glaubt, daß wir in zwei Wochen frei sind, Ephraim«, sagte 509 behutsam.»Sie empfangen jetzt dauernd Nachrichten.«

Berger rührte sich nicht. Es schien, als habe er nichts gehört.»Ich operierte«, sagte er.

»Ich setzte zum Schnitt an. Eine Magenresektion. Ich setzte an, und plötzlich wußte ich nicht weiter. Ich hatte alles vergessen. Der Schweiß brach mir aus. Der Patient lag da, offen, bewußtlos – und ich wußte nicht weiter. Ich hatte die Operation vergessen. Es war entsetzlich.«

»Denk nicht darüber nach. Es war ein Alptraum, weiter nichts. Was habe ich nicht alles schon geträumt! Und was werden wir nicht noch alles träumen, wenn wir hier heraus sind!«509 roch plötzlich ganz deutlich Spiegeleier mit Speck. Er bemühte sich, nicht daran zu denken.»Es wird nicht alles Jubel sein«, sagte er.»Das ist sicher.«»Zehn Jahre.«Berger starrte in den Himmel.»Zehn Jahre nichts. Weg! Fort! Nicht gearbeitet. Ich habe bis jetzt nie daran gedacht. Es ist möglich, daß ich viel vergessen habe. Ich weiß auch jetzt nicht genau, wie die Operation geht. Ich kann mich nicht richtig erinnern. In der ersten Zeit im Lager habe ich nachts Operationen rekapituliert. Um drin zu bleiben. Dann nicht mehr. Es kann «ein, daß ich es vergessen habe -«»Es kommt einem aus dem Sinn; aber man vergißt es nicht wirklich. Es ist wie mit Sprachen oder Radfahren.«»Man kann es verlernen. Die Hände. Die Präzision. Man kann unsicher werden. Oder nicht mehr mitkommen. In zehn Jahren ist viel passiert. Vieles entdeckt. Ich weiß nichts davon. Ich bin nur älter geworden, älter und müder.«»Merkwürdig«, sagte 509.»Ich habe vorhin auch zufällig an meinen früheren Beruf gedacht. Lewinsky hat mich danach gefragt. Er glaubt, daß wir in zwei Wochen hier 'rauskommen. Kannst du dir das vorstellen?«Berger schüttelte abwesend den Kopf.»Wo ist die Zeit geblieben?«sagte er.»Es war endlos. Jetzt sagst du zwei Wochen. Und auf einmal fragt man: Wo sind die zehn Jahre geblieben?«Die brennende Stadt glühte im Talkessel. Es war immer noch schwül, obschon es Nacht war. Dunst begann aufzusteigen. Blitze zuckten. Am Horizont glimmten noch zwei andere Feuer – ferne, bombardierte Städte.»Wollen wir es nicht einstweilen damit genug sein lassen, daß wir überhaupt denken können, was wir jetzt denken. Ephraim?«»Ja. Du hast recht.«»Wir denken doch schon wieder wie Menschen. Und an das, was nach dem Lager sein wird. Wann konnten wir das? Alles andere wird schon von selbst wiederkommen.«Berger nickte.»Und wenn ich mein Leben lang Strümpfe stopfen muß, wenn ich hier 'rauskomme! Trotzdem -«Der Himmel zerriß unter einem Blitz, und langsam folgte von weit der Donner.»Willst du 'reingehen?«fragte 509.»Kannst du vorsichtig aufstehen oder kriechen?«Das Gewitter brach um elf Uhr los. Die Blitze erhellten den Himmel, und für Sekunden wurde eine fahle Mondlandschaft mit den Trichtern und den Ruinen der zerstörten Stadt hochgeworfen. Berger schlief fest. 509 saß in der Türöffnung von Block 22. Die Baracke war wieder frei für ihn, seit Handke von Lewinsky getötet worden war. Er hielt die Revolver und die Munition unter seiner Jacke verborgen. Er fürchtete, daß sie bei starkem Regen in dem Loch unter dem Bett naß und unbrauchbar werden könnten. Aber es regnete wenig in dieser Nacht. Das Gewitter zog und zog, es teilte sich, und lange Zeit waren es mehrere, die sich Blitze von Horizont zu Horizont zuwarfen wie Schwerter. Zwei Wochen, dachte 509 und sah die Landschaft jenseits des Stacheldrahtes aufflammen und erlöschen. Sie schien ihm einer anderen Welt zu gleichen, die unmerklich näher und näher gekommen war in der letzten Zeit, langsam herangewachsen aus einem Niemandsland der Hoffnungslosigkeit, und nun schon dicht vor den Stacheldrähten lagernd, wartend mit dem Geruch von Regen und Feldern, von Zerstörung und Brand, aber auch von Wachsen und Wäldern und Grün. Er fühlte, wie die Blitze durch ihn hindurchgingen und sie erhellten und wie gleichzeitig eine verlorene Vergangenheit aufdämmerte, fahl, entfernt, fast unverständlich und unerreichbar. Er fröstelte in der warmen Nacht. Er war nicht so sicher, wie er sich Berger gegenüber gezeigt hatte. Er konnte sich erinnern, und es schien ihm viel, und es bewegte ihn, aber ob es genug war nach den Jahren hier, wußte er nicht. Zuviel Tod war zwischen früher und jetzt. Er wußte nur, daß Leben bedeutete, aus dem Lager zu' entkommen, aber gleich danach wurde alles ungewiß und riesig und schwankend, und er konnte nicht weit darüber hinaussehen. Lewinsky konnte es, aber er dachte als Parteimitglied. Die Partei würde ihn auffangen, und er würde in ihr sein, das genügte ihm. Was konnte es dann sein? dachte 509, was war es, das rief, außer dem primitiven Lebenswunsch? Rache? Mit Rache allein war wenig getan. Rache gehörte zu dem anderen, dem finsteren Teil, der erledigt werden mußte, doch was kam danach? Er spürte ein paar warme Regentropfen auf seinem Gesicht, wie Tränen von nirgendwoher. Wer hatte noch Tränen? Sie waren ausgebrannt, vertrocknet seit vielen Jahren. Das stumme Reißen manchmal, das Wenigerwerden von etwas, das schon fast als Nichts vorher erschienen war – das war das einzige, was noch zeigte, daß immer noch etwas verloren werden konnte. Ein Thermometer, das schon längst den tiefsten Punkt des Gefühls anzeigte – und daß es kälter wurde, sah man nur noch daran, daß manchmal ein erfrorenes Glied, ein Finger, ein Fuß abfiel, beinahe ohne Schmerzen. Die Blitze folgten sich schneller, und unter lang rollendem Donner lag der Hügel gegenüber sehr klar im zuckenden, schattenlosen Licht – das ferne, weiße Haus mit dem Garten. Bucher, dachte 509. Bucher hatte noch etwas. Er war jung, und mit ihm war Ruth. Jemand, der mit ihm hinausgehen würde. Aber würde es halten? Doch wer fragte danach? Wer wollte schon Garantien? Und wer konnte sie geben? 509 lehnte sich zurück. Was denke ich für Unsinn? dachte er. Berger muß mich angesteckt haben. Wir sind nur müde. Er atmete langsam und glaubte durch den Gestank des Platzes und der Baracke wieder den Frühling und das Wachsen zu riechen. Das kam wieder, jedes Jahr, mit Schwalben und Blüten, gleichgültig gegen Krieg und Tod und Trauer und Hoffnung. Es kam. Es war da. Das war genug. Er zog die Tür zu und kroch zu seiner Ecke. Es blitzte die ganze Nacht weiter, das geisterhafte Licht fiel durch die zerbrochenen Fenster, und die Baracke schien ein Schiff zu sein, das lautlos auf einem unterirdischen Strom dahinglitt, angefüllt mit Toten, die durch eine dunkle Magie noch atmeten – und darunter einige, die sich nicht verlorengaben.