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»Wir müssen sie in Bewegung bringen«, sagte er zu Neubauer.»Wenn sie erst einmal den Appellplatz verlassen haben, ist es leicht, sie 'rauszukriegen. Es ist immer so. Da, wo sie geschlafen haben, wollen sie bleiben, weil ihnen da nichts passiert ist. Das ist für sie eine Art Sicherheit. Alles andere fürchten sie. Wenn sie aber erst wieder in Bewegung sind, gehen sie auch weiter. Fahrt vorläufig einmal nur den Kaffee heran«, kommandierte er.»Und fahrt ihn nicht zurück. Gebt ihn aus! Verteilt ihn drüben.«

Der Kaffeekessel wurde bis in die Menge geschoben. Einer der Kapos schöpfte mit der Kelle heraus und goß die Brühe dem nächsten Mann über den Kopf. Es war der Alte mit dem blutigen weißen Bart. Die Flüssigkeit lief ihm über das Gesicht und färbte den Bart jetzt braun. Es war die dritte Veränderung.

Der Alte hob den Kopf und leckte die Tropfen ab. Seine klauenartigen Hände fuhren umher. Der Kapo hielt ihm die Kelle mit dem Rest an den Mund»Sauf! Kaffee!«

Der Alte öffnete den Mund. Seine Halsstränge begannen plötzlich zu arbeiten. Die Hände schlössen sich um die Kelle, und er schluckte, schluckte, er war nur noch Schlucken und Schlürfen, sein Gesicht zuckte, er zitterte und schluckte.

Sein Nachbar sah es. Ein zweiter, dritter. Sie hoben sich, schoben die Münder, die Hände heran, stießen sich, rissen sich um die Kelle, hingen daran, ein Haufen von Armen und Köpfen.

»He! Verdammt!«

Der Kapo konnte die Kelle nicht loskriegen. Er zerrte und trat mit den l Füßen, vorsichtig nach hinten schielend, wo Neubauer stand. Andere hatten sich inzwischen aufgerichtet und über den heißen Kessel gebeugt. Sie versuchten die Gesichter in den Kaffee zu hängen und mit den dünnen Händen zu schöpfen.»Kaffee! Kaffee!«

Der Kapo fühlte, daß seine Kelle frei war.»Ordnung!«schrie er.»Einer nach dem anderen!

Antreten hintereinander!«

Es nützte nichts. Die Menge war nicht zu halten. Sie hörte nichts. Sie roch das, was sich Kaffee nannte, irgend etwas Warmes, das man trinken konnte, und stürmte blind den Kessel. Weber hatte recht gehabt: da, wo das Gehirn nicht mehr registrierte, war der Magen immer noch Herrscher.

Zieht den Wagen jetzt langsam 'rüber«, kommandierte Weber. Es war unmöglich. Die Menge war rundherum. Einer der Aufseher machte ein erstauntes Gesicht und fiel langsam um. Die Menge hatte ihm die Beine in Boden gerissen. Er schlug um sich wie ein Schwimmer und rutschte runter.

»Keil formieren!«kommandierte Weber. Die Wachen und die Lagerpolizei stellten sich auf.

»Los!«schrie Weber.

»Auf den Kaffeewagen. Zieht ihn 'raus!«

Die Wachen brachen in die Menge ein. Sie rissen die Leute beiseite. Es gelang ihnen, einen Kordon um den Wagen zu formen und ihn zu bewegen. Er war schon fast leer.

Sie schoben ihn, Schulter an Schulter um ihn formiert, heraus. Die Menge folgte.

Hände versuchten über die Schultern und unter die Arme zu gelangen.

Plötzlich sah einer aus dem stöhnenden Haufen den zweiten, entfernter stehenden Wagen. Er lief, in grotesken Sätzen schwankend, drauflos. Andere folgten ihm. Aber hier hatte Weber vorgesorgt; er war umringt von kräftigen Leuten und setzte sich sofort in Bewegung.

Die Menge stürzte hinterher. Nur ein paar blieben und strichen die Hände über die Wände des Kaffeekessels, um die Feuchtigkeit abzulecken. Ungefähr dreißig blieben zurück, die nicht mehr aufstehen konnten.

»Schleppt sie hinterher«, kommandierte Weber.»Und schließt dann eine Kette über die Straße, damit sie nicht hierher zurückkommen können.«

Der Platz war voll von menschlichem Schmutz; aber er war eine Nacht Ruheplatz gewesen. Das war viel. Weber hatte Erfahrung. Er wußte, daß die Menge, wie das Wasser zum tiefsten Punkte, versuchen würde, hierher zurückzukommen, wenn die Raserei des Hungers vorüber war.

Die Wachen trieben die Zurückgebliebenen vorwärts. Sie schleppten gleichzeitig die Sterbenden und Toten. Es waren nur sieben Tote. Der Transport hatte aus den zartesten letzten fünfhundert bestanden.

Am Ausgang des Kleinen Lagers zur Straße brachen einige Leute aus. Die Wachen mit den Sterbenden und Toten konnten nicht rasch genug folgen. Drei der kräftigsten Leute flohen zurück.

Sie rannten zu den Baracken und rissen an den Türen. Die von 22 gab nach. Sie krochen hinein.

»Halt!«schrie Weber, als die Wachen folgen wollten.»Alles hierher! Die drei holen wir später.

Aufpassen! Die anderen kommen zurück.«

Der Schwarm kam die Straße herunter. Der Kessel mit Essen war leer geworden, und als man die Gruppen zum Abmarsch formieren wollte, waren sie umgekehrt. Aber sie waren jetzt nicht mehr dieselben wie vorher. Vorher waren sie ein einziger Block gewesen, jenseits von Verzweiflung, und das hatte ihnen eine stumpfe Kraft gegeben.

Jetzt waren sie durch Hunger und Essen und Bewegung zurückgeworfen in die Verzweiflung – die Angst flatterte in ihnen wieder und machte sie wild und schwach, sie waren keine Masse mehr, sondern viele einzelne, jeder mit seinem eigenen Lebensrest, und das machte sie zu einer leichten Beute. Dazu kam, daß sie nicht mehr eng zusammenhockten.

Sie hatten keine Macht mehr. Sie fühlten wieder Hunger und Schmerz. Sie begannen zu gehorchen.

Ein Teil von ihnen war weiter oben abgeschnitten worden; ein anderer auf dem Wege zurück; den Rest empfing Weber mit seinen Leuten. Sie schlugen nicht auf die Köpfe; nur auf die Körper.

Langsam formierten sich Gruppen. Betäubt standen sie in Reihen zu vieren, die Arme ineinander verschränkt, damit sie nicht fielen. Zwischen die Stärkeren wurde immer ein Sterbender eingehakt.

Von weitem konnte es für jemand, der nichts davon wußte, aussehen, als taumele dort Arm in Arm eine Schar lustiger Betrunkener. Dann plötzlich fingen einige an zu singen. Sie starrten vor sich hin und hoben die Köpfe und hielten die anderen fest und sangen. Es waren nicht viele, und der Gesang war dünn und abgerissen. Sie gingen über den großen Appellplatz an den aufgestellten Arbeitsformationen vorbei hinaus durchs Tor.

»Was ist das, was sie singen?«fragte Werner.

»Ein Lied für Tote.«

Die drei Geflüchteten kauerten in Baracke 22. Sie hatten sich so weit durchgedrängt, wie sie konnten. Zwei lagen halb unter einem Bett. Sie hatten die Köpfe weit darunter gesteckt. Die Beine ragten heraus und zitterten. Das Zittern lief über sie, hörte einen Augenblick auf und begann wieder.

Der dritte starrte mit weißem Gesicht auf die Häftlinge.»Verstecken – Mensch – Mensch -«Er wiederholte es immer wieder und stieß sich mit dem Zeigefinger vor die Brust. Es war das einzige Deutsch, das er kannte.

Weber riß die Tür auf.»Wo sind sie?«

Er stand mit zwei Wachen im Rahmen.»Wird's bald? Wo sind sie?«

Niemand antwortete.»Stubenältester!«schrie Weber.

Berger trat vor.»Baracke 22, Sektion -«begann er zu melden.

»Schnauze! Wo sind sie?«

Berger hatte keine Wahl. Er wußte, daß die Flüchtlinge in wenigen Augenblicken gefunden werden mußten. Er wußte auch, daß die Baracke auf keinen Fall durchsucht werden durfte. Zwei politische Flüchtlinge vom Arbeitslager waren darin versteckt.

Er hob den Arm, um in die Ecke zu zeigen, aber einer der Aufseher, der an ihm vorbeiblickte, kam ihm zuvor.»Da sind sie! Unter dem Bett!«

»Holt sie 'raus!«

Ein Schuffeln begann in dem vollen Raum. Die beiden Wachen rissen die Flüchtlinge wie Frösche an beiden Beinen unter dem Bett hervor. Die Gefangenen krallten ihre Hände um die Pfosten. Sie schwangen in der Luft. Weber trat auf ihre Finger. Es knackte, und die Hände gaben nach. Die beiden wurden herausgezerrt. Sie schrieen nicht. Sie stießen nur ein leises, sehr hohes Stöhnen aus, als sie über den dreckigen Boden geschleift wurden. Der dritte, mit dem weißen Gesicht, stand von selbst auf und folgte ihnen. Seine Augen waren große schwarze Löcher. Er blickte die Häftlinge an, an denen er vorbeiging. Sie wandten die Augen ab.