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»Wo könnt ihr so viele verstecken?«

»Sie wechseln jede Nacht die Baracken. Schlafen anderswo.«

»Und wenn die SS sie zum Tor kommandiert? Oder zur Schreibstube?«

»Dann kommen sie nicht.«

»Was?«

»Sie kommen nicht«, wiederholte Goldstein. Er sah, daß 509 sich erstaunt aufgerichtet hatte.»Die SS hat keine genaue Übersicht mehr«, erklärte er.»Seit ein paar Wochen ist das Durcheinander jeden Tag größer geworden. Wir haben dazu getan, was wir konnten. Die Leute, die gesucht werden, sind angeblich immer auf Kommandos geschickt worden oder einfach nicht aufzufinden.«

»Und die SS? Kommt die nicht, sie zu holen?«

Goldsteins Zähne blinkten.»Nicht mehr gerne. Oder höchstens in Trupps und bewaffnet.

Gefährlich ist nur die Gruppe, in der Niemann, Breuer und Steinbrenner sind.«509 schwieg eine

Weile. Es war zu unglaublich, was er gerade gehört hatte.»Seit wann ist das so?«fragte er schließlich.»Seit ungefähr einer Woche. Jeden Tag ändert sich was.«»Du meinst, die SS hat Angst?«»Ja. Sie hat plötzlich gemerkt, daß wir Tausende sind. Und sie weiß, wie der Krieg steht.«»Ihr gehorcht einfach nicht?«509 konnte es immer noch nicht fassen.»Wir gehorchen. Aber wir tun es umständlich, und es dauert lange, und wir sabotieren, was wir können. Die SS erwischt trotzdem immer noch genug. Wir können nicht alle retten.«Goldstern stand auf.»Ich muß sehen, daß ich Platz zum Schlafen finde.«»Wenn du nichts findest, frage Berger.«»Gut.«509 lag neben dem Haufen von Toten zwischen den Baracken. Der Haufen war höher als sonst. Es hatte am Abend vorher kein Brot gegeben. Das zeigte sich immer am nächsten Tag in der Anzahl der Toten. 509 lag dicht daneben, weil ein nasser, kalter Wind wehte. Die Toten schützten ihn davor. Sie schützten ihn, dachte er. Sie schützten ihn selbst vom Krematorium her und darüber hinaus. Irgendwo trieb im nassen, kalten Wind der Rauch von Flormann, dessen Namen er jetzt trug; der Rest waren ein paar ausgebrannte Knochen, aus denen in der Mühle bald Knochenmehl werden würde. Aber der Name, das Flüchtigste und Belangloseste, war geblieben und zu einem Schild geworden für ein anderes Leben, das sich gegen den Untergang wehrte. Er hörte, wie der Haufen der Toten ächzte und sich verschob. Die Gewebe und Säfte in ihnen arbeiteten noch. Ein zweiter, chemischer Tod schlich durch sie, spaltete sie, vergaste sie, bereitete sie vor für den Zerfall; – und wie ein geisterhafter Reflex des entwichenen Lebens bewegten sich die Bäuche noch, schwollen und fielen zusammen, die toten Münder stießen Luft aus, und aus den Augen sickerte trübe Flüssigkeit wie viel zu späte Tränen. 509 bewegte die Schultern. Er trug die Attila-Uniformjacke der Honved-Husaren. Sie war eines der wärmsten Kleidungsstücke der Baracke und wurde reihum von denen getragen, die nachts draußen lagen. Er betrachtete die Aufschläge, die matt im Dunkeln schimmerten. Es lag eine gewisse Ironie darin: gerade jetzt, wo er sich wieder an seine Vergangenheit und an sich selbst erinnerte, wo er keine Nummer mehr sein wollte, mußte er unter dem Namen eines Toten leben und trug dazu nachts eine ungarische Uniform. Er fröstelte und versteckte die Hände in den Ärmeln. Er hätte in die Baracke gehen können, um einige Stunden in dem warmen Gestank dort zu schlafen; aber er tat es nicht. Er war zu unruhig dazu. Er saß lieber und fror und starrte in die Nacht und wartete und wußte nicht, was schon in der Nacht geschehen könnte, daß er so darauf wartete. Es war das, was einen verrückt machte, dachte er. Wie ein Netz hing das Warten lautlos über dem Lager und fing alle Hoffnungen und alle Furcht in sich auf. Ich warte, dachte er, und Handke und Weber sind hinter mir her; Goldstein wartet, und sein Herz setzt alle Augenblicke aus; Berger wartet und fürchtet, daß er noch mit der Krematoriumsmannschaft erledigt wird, bevor wir befreit werden; wir alle warten und wissen nicht, ob man uns nicht noch im letzten Augenblick auf Todestransporte und in Vernichtungslager schicken wird -»509«, sagte Ahasver aus dem Dunkel.»Bist du da?«»Ja, hier. Was ist?«»Der Schäferhund ist tot.«Ahasver tappte heran.»Er war doch nicht krank«, sagte 509.»Nein. Er ist so weggeschlafen.«»Soll ich dir helfen, ihn herauszulegen?«»Das ist nicht nötig. Ich war mit ihm draußen. Er liegt drüben. Ich wollte es nur jemand sagen.«»Ja, Alter.«»Ja, 509.«

XVII

Der Transport kam überraschend. Die Eisenbahnlinien vom Westen zur Stadt waren einige Tage unterbrochen gewesen. Nach ihrer Reparatur war mit einem der ersten Züge eine Anzahl gedeckter Güterwagen angekommen. Sie hatten zu einem Vernichtungslager weitergeleitet werden sollen.

Nachts waren jedoch die Verbindungen aufs neue zerbombt worden. Der Zug war einen Tag stehengeblieben; dann hatte man die Insassen ins Mellener Lager geschickt.

Es waren nur Juden, Juden aus allen Gegenden Europas. Es waren polnische und ungarische, rumänische und tschechische, russische und griechische Juden, Juden aus Jugoslawien und Holland und Bulgarien und sogar einige aus Luxemburg. Sie sprachen ein Dutzend verschiedener Sprachen, und die meisten verstanden einander kaum. Selbst das gemeinsame Jiddisch schien verschieden zu sein. Sie waren zweitausend gewesen, und jetzt waren sie noch fünfhundert. Ein paar hundert lagen tot in den Güterwagen.

Neubauer war außer sich.»Wo sollen wir denn mit denen hin? Das Lager ist doch schon überfüllt!

Und außerdem sind sie gar nicht offiziell zu uns überwiesen! Wir haben nichts damit zu tun! Das ist ja ein wildes Durcheinander! Es gibt keine Ordnung mehr! Was ist nur los?«

Er rannte in seinem Büro auf und ab. Zu all seinen persönlichen Sorgen kam jetzt auch noch dies!

Sein Beamtenblut empörte sich. Er verstand nicht, daß so viele Umstände mit Leuten gemacht wurden, die zum Tode verurteilt waren. Wütend starrte er aus dem Fenster.»Wie die Zigeuner liegen sie da vor den Toren, mit Sack und Pack! Sind wir auf dem Balkan oder in Deutschland?

Verstehen Sie, was los ist, Weber?«

Weber blieb gleichgültig.»Irgendeine Stelle muß es angeordnet haben«, sagte er.

»Sonst wären sie nicht heraufgekommen.«

»Das ist es ja gerade! Irgendeine Stelle da unten am Bahnhof. Ohne daß ich gefragt worden bin.

Nicht einmal vorher verständigt. Von ordnungsgemäßer Abwicklung ganz zu schweigen. Das gibt es scheinbar überhaupt nicht mehr! Jeden Tag tauchen neue Ämter auf. Die am Bahnhof behaupten, die Leute hätten zuviel geschrieen. Es hätte einen schlechten Eindruck auf die Zivilbevölkerung gemacht. Was haben wir damit zu tun? Unsere Leute schreien nicht!«

Er sah Weber an. Weber lehnte nachlässig an der Tür.»Haben Sie schon mit Dietz darüber gesprochen?«fragte er.

»Nein, noch nicht. Sie haben recht, ich werde das gleich mal tun!«Neubauer ließ sich verbinden und sprach eine Zeitlang. Dann legte er den Hörer nieder. Er war ruhiger geworden.»Dietz sagt, wir brauchen sie nur die Nacht über hierzubehalten.

Geschlossen in einem Block. Nicht auf die Baracken verteilen. Nicht aufnehmen.

Einfach dalassen und bewachen. Morgen werden sie weitergeschickt. Bis dahin ist die Eisenbahnlinie wieder repariert.«Er blickte wieder aus dem Fenster.»Aber wo sollen wir sie nur lassen? Wir haben doch alles überfüllt.«

»Wir können sie auf dem Appellplatz lassen.«

»Den Appellplatz brauchen wir für die Kommandos morgen früh. Das gibt nur Konfusion.

Außerdem werden die Balkanesen ihn völlig verdrecken. Das geht nicht.«

»Wir können sie auf den Appellplatz vom Kleinen Lager stecken. Da sind sie nicht im Wege.«

»Ist da genug Platz?«

»Ja. Wir müssen alle unsere eigenen Leute dann in die Baracken packen. Sie haben bis jetzt zum Teil draußen gelegen.«»Warum? Sind die Baracken so überfüllt?«

»Das kommt darauf an, wie man es ansieht. Man kann Leute packen wie Sardinen.