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Brede und der letzte der sechs lagen bereits am Boden.

»Mach den dort los«, sagte Schulte gleichmütig.»Er hat vorne eine Goldkrone.«

Berger versuchte, den Mann anzuheben. Er konnte es nicht. Erst als Dreyer ihm half, gelang es.

Der Mann fiel wie eine Puppe, die mit Sägemehl ausgefüllt war, zu Boden.

»Ist er das?«fragte Schulte.

»Jawohl.«

Der Tote hatte einen goldenen Eckzahn. Berger zog ihn aus und legte ihn in den Kasten. Dreyer machte eine Notiz.

»Hat noch einer von den anderen was?«fragte Schulte.

Berger untersuchte die beiden Toten am Boden. Der Kapo leuchtete mit der Taschenlampe.

»Diese haben nichts. Zement und Silberamalgamfüllungen bei einem.«

»Das können wir nicht brauchen. Wie ist es bei denen, die noch hängen?«

Berger versuchte vergeblich, Mosse hochzuheben.»Laß das«, erklärte Schulte ungeduldig.»Man kann es besser sehen, wenn sie hängen.«

Berger drückte die geschwollene Zunge in dem weit offenen Mund beiseite. Das eine gequollene Auge hinter dem Brillenglas war dicht vor ihm. Es erschien durch die starke Linse noch größer und verzerrt. Das Lid über der anderen, leeren Augenhöhle stand halb offen. Flüssigkeit war herausgesickert. Die Backe war feucht davon. Der Kapo stand seitlich neben Berger, Schulte direkt hinter ihm. Berger fühlte Schuhes Atem in seinem Nacken. Er roch nach Pfefferminztabletten.»Nichts«, sagte Schulte.»Der nächste.«

Der nächste war leichter zu kontrollieren; er hatte keine Vorderzähne. Sie waren ausgeschlagen.

Zwei Silberamalgamplomben, wertlos, im rechten Kiefer. Der Atem Schuhes war wieder in Bergers Nacken. Der Atem eines eifrigen Nazis, der unschuldig seine Pflicht tat, hingegeben daran, Goldplomben zu finden, gleichmütig gegen die Anklage eines soeben erst gemordeten Mundes.

Berger glaubte plötzlich, es kaum mehr aushalten zu können, diesen stoßenden Knabenatem zu fühlen. Als suche er Vogeleier in einem Nest, dachte er.

»Schön, nichts«, sagte Schulte enttäuscht. Er nahm eine der Listen und den Kasten mit Gold und zeigte auf die sechs Toten.

»Lassen Sie die hier 'raufschaffen und den Raum tadellos schrubben.«

Aufrecht und jung ging er hinaus. Berger begann Brede auszuziehen. Es war einfach.

Er konnte es allein. Diese Toten waren noch weich. Brede trug ein Netzhemd und eine Zivilhose zu der Lederjacke. Dreyer zündete sich eine Zigarette an. Er wußte, daß Schulte nicht mehr zurückkam.

»Er hat die Brille vergessen«, sagte Berger.

»Was?«

Berger zeigte auf Mosse. Dreyer trat heran. Berger nahm die Brille von dem toten Gesicht.

Steinbrenner hatte es für einen Witz gehalten, Mosse mit der Brille aufzuhängen.

»Die eine Linse ist noch heil«, sagte der Kapo.»Aber wozu ist eine einzelne Linse schon zu brauchen? Höchstens als Brennglas für Kinder.«

»Der Brillen rahmen ist gut.«

Dreyer beugte sich weiter vor.»Nickel«, sagte er verächtlich.»Billiges Nickel.«

»Nein«, sagte Berger.»Weißes Gold.«

»Was?«

»Weißes Gold.«

Der Kapo nahm die Brille.»Weißes Gold? Ist das sicher?«

»Absolut. Der Rahmen ist schmutzig. Wenn man ihn mit Seife wäscht, werden Sie es selbst sehen.«

Dreyer wog Mosses Brille auf der flachen Hand.»Das hat dann seinen Wert.«

»Ja.«

»Wir müssen es aufschreiben.«

»Die Listen sind fort«, sagte Berger und sah den Kapo an.»Scharführer Schulte hat sie mitgenommen.«

»Das macht nichts. Ich kann ihm nachgehen.«

»Ja«, sagte Berger und sah Dreyer weiter an.»Scharführer Schulte hat die Brille nicht beachtet.

Oder er hat sie für wertlos gehalten. Vielleicht ist sie auch wertlos. Ich kann mich täuschen; vielleicht ist es wirklich Nickel.«

Dreyer blickte auf.»Man kann sie weggeworfen haben«, sagte Berger.»Zu dem nutzlosen Zeug dort. Eine zerbrochene Nickelbrille.«

Dreyer legte das Gestell auf den Tisch.»Mach hier erst mal fertig.«

»Ich kann das nicht allein machen. Die Leute sind zu schwer.«»Dann hole dir drei Mann von oben dazu.«

Berger ging und kam mit drei Sträflingen zurück. Sie machten Mosse los. Die aufgestaute Luft entwich rasselnd aus den Lungen, als die Schlinge um den Hals sich löste. Die Haken an der Wand waren gerade hoch genug, daß die Gehängten mit den Füßen den Boden nicht mehr erreichen konnten. Das Sterben dauerte so bedeutend länger. Bei einem normalen Galgen brach gewöhnlich der Nacken durch den Fall. Das tausendjährige Reich hatte das geändert. Die Galgen wurden auf langsames Ersticken eingerichtet. Man wollte nicht nur töten, man wollte langsam und sehr schmerzhaft töten. Eine der ersten Kulturleistungen der neuen Regierung war gewesen, die Guillotine abzuschaffen und statt ihrer das Handbeil wieder einzuführen.

Mosse lag jetzt nackt auf dem Boden. Seine Fingernägel waren abgebrochen. Weißer Kalkstaub klebte darunter. Er hatte sie in der Atemnot in die Wand gekrallt. Man konnte das auch an der Wand sehen. Hunderte von Erhängten hatten an dieser Stelle Löcher hineingekratzt. Ebenso da, wo die Füße hingen. Berger legte Mosses Kleider und Schuhe auf die entsprechenden Haufen. Er blickte auf Dreyers Tisch. Die Brille lag nicht mehr da. Sie lag auch nicht auf dem Häufchen von Papier, schmutzigen Briefen und wertlosen Fetzen, die aus den Taschen der Toten herausgeholt worden waren. Dreyer arbeitete am Tisch herum. Er blickte nicht auf.

»Was ist das?«fragte Ruth Holland.

Bucher lauschte.»Ein Vogel, der singt. Es muß eine Drossel sein.«

»Eine Drossel?«

»Ja. So früh im Jahr singt kein anderer Vogel. Es ist eine Drossel. Ich erinnere mich von früher.«

Sie hockten zu beiden Seiten des doppelten Stacheldrahtes, der die Frauenbaracken vom Kleinen Lager trennte. Es war nicht auffallend; das Kleine Lager war jetzt so voll, daß überall Leute herumlagen und -saßen. Außerdem hatten die Posten die Wachtürme verlassen, weil ihre Zeit um war. Sie hatten nicht auf die Ablösung gewartet. Das kam jetzt im Kleinen Lager ab und zu vor. Es war verboten, aber die Disziplin war längst nicht mehr so wie früher.

Die Sonne stand tief. Ihr Widerschein hing rot unten in den Fenstern der Stadt. Eine ganze Straße, die nicht zerstört war, leuchtete, als brenne es in den Häusern. Der Fluß spiegelte den unruhigen Himmel.»Wo singt sie?«»Drüben. Dort, wo die Bäume stehen.«

Ruth Holland starrte durch den Stacheldraht zu dem hinüber, was drüben war: einer Wiese, Äckern, ein paar Bäumen, einem Bauernhaus mit einem Strohdach und, ferner, auf einem Hügel, einem weißen, niedrigen Hause mit einem Garten.

Bucher sah sie an. Die Sonne machte ihr ausgemergeltes Gesicht sanfter. Er holte eine Brotrinde aus der Tasche.»Hier, Ruth – Berger hat mir das für dich gegeben. Er hat es heute bekommen. Ein Extrastück für uns.«

Er warf die Rinde geschickt durch den Stacheldraht. Ihr Gesicht zuckte. Die Rinde lag neben ihr.

Sie antwortete eine Zeitlang nicht.»Es ist deins«, sagte sie schließlich mit Anstrengung.

»Nein. Ich habe schon ein Stück gehabt.«

Sie schluckte.»Du sagst das nur -«

»Nein, bestimmt nicht -«Er sah, wie ihre Finger sich rasch über der Rinde schlössen.

»Iß es langsam«, sagte er.»Dann gibt es mehr her.«

Sie nickte und kaute schon.»Ich muß es langsam essen. Ich habe schon wieder einen Zahn verloren. Sie fallen einfach aus. Es tut nicht weh. Es sind jetzt sechs.«

»Wenn es nicht weh tut, macht es nichts. Wir hatten hier jemand, dem der ganze Kiefer vereitert war. Er stöhnte, bis er starb.«

»Ich werde bald keine Zähne mehr haben.«

»Man kann künstliche einsetzen. Lebenthal hat auch ein Gebiß.«

»Ich will kein Gebiß haben.«

»Warum nicht? Viele Leute haben eins. Es macht wirklich nichts, Ruth.«

»Sie werden mir kein Gebiß geben.«

»Hier nicht. Aber man kann später eins machen lassen. Es gibt wunderbare Gebisse.

Viel besser als das von Lebenthal. Das ist alt. Er hat es schon zwanzig Jahre. Es gibt jetzt neue, sagt er, die man überhaupt nicht spürt. Sie sitzen fest und sind schöner als wirkliche Zähne.«