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Die nackten Körper, die verbucht waren, wurden neben einen Aufzug gelegt. Oben, im Verbrennungsraum, wurde dieser Aufzug jedesmal heraufgezogen, wenn Bedarf für die Öfen da war. Der Mann, der hinausgegangen war, kam mit vier Leuten wieder. Sie waren aus der Gruppe, die 509 gesehen hatte. Mosse und Brede waren dabei.»Marsch, dorthin!«sagte Schulte.»Ausziehen helfen und Sachen notieren! Lagerkleidung auf einen Haufen, Zivilsachen auf einen anderen, Schuhe extra. Vorwärts.«Schulte war ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, blond, mit grauen Augen und einem klaren, regelmäßigen Gesicht. Er hatte schon vor der Machtergreifung zur Hitlerjugend gehört und war dort erzogen worden. Er hatte gelernt, daß es Herrenmenschen und Untermenschen gab, und er glaubte es fest. Er kannte die Rassentheorien und die Parteidogmen, und sie waren seine Bibel. Er war ein guter Sohn, aber er hätte seinen Vater angezeigt, wenn er gegen die Partei gewesen wäre. Die Partei war unfehlbar für ihn; er kannte nichts anderes. Die Insassen des Lagers waren Feinde der Partei und des Staates und standen deshalb außerhalb der Begriffe von Mitleid oder Menschlichkeit. Sie waren geringer als Tiere. Wenn sie getötet wurden, so war das, als tötete man schädliche Insekten. Schulte hatte ein völlig ruhiges Gewissen. Er schlief gut, und das einzige, was er bedauerte, war, nicht an der Front zu sein. Das Lager hatte ihn wegen eines Herzfehlers reklamiert. Er war ein zuverlässiger Freund, liebte Musik und Poesie und hielt Folter für ein unumgängliches Mittel, um Informationen von Verhafteten zu bekommen, weil alle Feinde der Partei logen. Er hatte in seinem Leben auf Befehl sechs Menschen getötet und nie darüber nachgedacht – zwei davon langsam, um Mithelfer genannt zu bekommen. Er war verliebt in die Tochter eines Landgerichtsrats und schrieb ihr hübsche, etwas romantische Briefe. In seiner Freizeit sang er gern. Er hatte einen netten Tenor. Die letzten nackten Leichen wurden neben dem Aufzug aufgeschichtet. Mosse und Brede trugen sie heran. Mosses Gesicht war entspannt. Er lächelte Berger zu. Seine Furcht draußen war ohne Grund gewesen. Er hatte geglaubt, an den Galgen zu kommen. Jetzt arbeitete er, so wie es ihnen gesagt worden war. Es war in Ordnung. Er war gerettet. Er arbeitete rasch, um seinen guten Willen zu zeigen. Die Tür öffnete sich, und Weber trat ein.»Achtung!«Alle Häftlinge standen stramm. Weber trat mit blanken, eleganten Stiefeln an den Tisch. Er liebte gute Stiefel; sie waren fast seine einzige Leidenschaft. Vorsichtig klopfte er eine Zigarette ab, die er gegen den Leichengestank angezündet hatte.»Fertig?«fragte er Schulte.»Jawohl, Sturmführer. Soeben. Alles verbucht und aufgenommen.«Weber sah in die Kästen mit dem Gold. Er hob die Medaille heraus, die die stehende Leiche getragen hatte.»Was ist das?«»Ein St. Christophorus, Sturmführer«, erklärte Schulte eifrig.»Eine Medaille für Glück.«Weber grinste. Schulte hatte nicht gemerkt, daß er einen Witz gemacht hatte.»Schön«, sagte Weber und legte die Medaille zurück.»Wo sind die vier von oben?«Die vier Leute traten vor. Die Tür öffnete sich wieder, und der SS-Scharführer Günther Steinbrenner kam mit den beiden, die draußen geblieben waren, herein.»Stellt euch zu den vieren«, sagte Weber.»Die anderen 'raus! Nach oben!«Die Häftlinge vorn Krematoriumskommando verschwanden rasch. Berger folgte ihnen. Weber betrachtete die sechs Zurückgebliebenen.»Nicht dahin«, sagte er.»Stellt euch dorthin, unter die Haken.«

An der Querwand des Raumes, dem Schacht gegenüber, waren vier starke Haken angebracht. Sie waren etwa einen halben Meter höher als die Köpfe der Häftlinge, die darunter standen. In der Ecke rechts davon stand ein dreibeiniger Schemel; daneben, in einer Kiste, lagen Stricke, die zu kurzen Schlingen geknüpft waren, an deren Enden sich Haken befanden.

Weber gab mit seinem linken Stiefel dem Schemel einen Stoß, so daß er vor den ersten Häftling rutschte,»'rauf da!«Der Mann zitterte und stellte sich auf den Schemel.

Weber blickte auf die Kiste mit den kurzen Stricken.»So, Günther«, sagte er dann zu Steinbrenner.»Der Zauber kann losgehen. Zeig mal, was du kannst.«

Berger tat so, als ob er hülfe, zwei Bahren mit Leichen zu beladen. Er wurde sonst für diese Arbeit nie gebraucht; er war viel zu schwach dazu. Aber der Vorarbeiter hatte, als die fortgejagten Häftlinge heraufkamen, alle angeschrieen, sich nützlich zu machen; da war das einfachste, so zu tun, als folgte man dem Befehl.

Eine der Leichen auf den Bahren war die Frau mit dem losen Haar; die andere ein Mann, der aussah, als sei er aus schmutzigem Wachs. Berger hob die Schultern der Frau und schob ihr Haar darunter, damit es nicht durch den Glutwind beim Einschieben aufflammen, zurückfliegen und ihm und den anderen die Hände verbrennen würde. Es war sonderbar, daß es nicht abgeschnitten war; früher geschah das regelmäßig, und das Haar wurde gesammelt. Wahrscheinlich lohnte es nicht mehr; es waren nur noch wenige Frauen im Lager.

»Fertig«, sagte er zu den anderen.

Sie öffneten die Ofentüren. Die Glut strömte heraus. Mit einem Ruck schoben sie die flachen Eisenbahren in das Feuer.»Türen zu!«rief jemand.

»Türen zu!«

Zwei Häftlinge warfen die schweren Türen zu, aber eine flog wieder auf, Berger sah noch, wie die Frau sich aufbäumte, als erwachte sie. Das brennende Haar umflammte einen Augenblick ihren Kopf wie ein wilder weißgelber Heiligenschein, dann schlug die Tür, an deren Kante ein schmales Stück Knochen eingeklemmt gewesen war, zum zweiten Male und ganz zu.

»Was war das?«fragte einer der Häftlinge erschreckt. Er hatte bisher immer nur Leichen ausgekleidet.»Lebte die noch?«

»Nein. Das war die Hitze«, erwiderte Berger krächzend. Der heiße Wind hatte seinen Hals ausgetrocknet. Selbst die Augen schienen verbrannt zu sein.

»Sie bewegen sich immer.«»Sie tanzen manchmal Walzer«, sagte ein kräftiger Mann, der zum Kommando gehörte und vorbeikam.»Was macht ihr eigentlich hier oben, ihr Kellergespenster?«

»Wir sind 'raufgeschickt worden.«

Der Mann lachte.»Wozu? Um auch in den Ofen zu kommen?«

»Unten sind neue Leute«, sagte Berger.

Der Mann hörte auf zu lachen.»Was? Neue? Für was?«

»Das weiß ich nicht. Sechs neue.«

Der Mann starrte Berger an. Seine Augen glänzten sehr weiß in dem schwarzen Gesicht.»Das kann nicht sein! Wir sind erst zwei Monate hier. Sie können uns noch nicht ablösen. Das dürfen sie nicht! Ist es bestimmt wahr?«

»Ja. Sie haben es selbst gesagt.«

»Krieg das 'raus! Kannst du es nicht genau 'rauskriegen?«

»Ich werde es versuchen«, sagte Berger.»Hast du ein Stück Brot? Oder was anderes zu essen?

Ich gebe dir Bescheid.«

Der Mann holte ein Stück Brot aus der Tasche und brach es in zwei Teile. Das kleinere Stück gab er Berger.»Hier. Aber finde es 'raus. Wir müssen das wissen!«

»Ja.«Berger trat zurück. Jemand klopfte ihm von hinten auf die Schulter. Es war der grüne Kapo, der Mosse, Brede und die vier anderen zum Krematorium geführt hatte.

»Bist du der Zahnklempner?«

»Ja.«

»Da ist noch ein Zahn 'rauszuziehen, unten. Du sollst 'runterkommen.«

Der Kapo war sehr blaß. Er schwitzte und lehnte sich gegen die Wand. Berger blickte auf den Mann, der ihm das Brot gegeben hatte, und kniff ein Auge zu. Der Mann folgte ihm zum Ausgang.

»Es ist schon aufgeklärt«, sagte Berger.»Es war keine Ablösung. Sie sind tot. Ich muß 'runter.«

»Sicher?«

»Ja. Ich müßte sonst nicht 'runter.«

»Gott sei Dank.«Der Mann atmete auf.»Gib mir das Brot zurück«, sagte er dann.

»Nein.«Berger steckte die Hand in die Tasche und hielt das Stück fest.

»Schafskopf! Ich will dir nur das größere Stück dafür geben. Das ist die Sache wert.«

Sie tauschten, und Berger ging in den Keller zurück. Steinbrenner und Weber waren fort. Nur Schulte und Dreyer waren noch da. An den vier Haken an der Wand hingen vier Leute. Einer von ihnen war Mosse. Er war aufgehängt worden mit seiner Brille.