»Sei nicht verrückt. Hier gibt es keine Priester. Die SS duldet das nicht. Sie wird dich in den Bunker stecken.«
»Das macht nichts.«
Lebenthal starrte Sulzbacher an.»Berger, 509«, sagte er dann.»Habt ihr das gehört?«
Sulzbachers Gesicht war sehr blaß. Seine Kinnbacken traten stark heraus. Er sah niemand an.»Es nützt nichts«, sagte Berger zu ihm.»Es ist verboten. Wir wissen auch keinen unter den Gefangenen.
Meinst du, wir hätten ihn sonst nicht schon geholt?«
»Ich gehe«, erwiderte Sulzbacher.
»Selbstmord!«Lebenthal griff sich in die Haare.»Und noch für einen Antisemiten!«
Sulzbachers Kiefer arbeiteten.»Gut, für einen Antisemiten.«
»Meschugge! Wieder einer meschugge!«
»Gut, meschugge, ich gehe.«
»Bucher, Berger, Rosen«, sagte 509 ruhig.
Bucher stand bereits mit einem Knüppel hinter Sulzbacher. Er schlug ihm auf den Kopf. Der Schlag war nicht besonders stark, aber er genügte, um Sulzbacher taumeln zu lassen. Alle zerrten ihn jetzt herunter und rollten sich über ihn.»Gib die Bänder vom Schäferhund, Ahasver«, sagte Berger.
Sie banden die Hände und Füße Sulzbachers und ließen ihn los.»Wenn du schreist, müssen wir dir was in den Mund stecken«, sagte 509.
»Ihr versteht mich nicht -«
»Doch. Du bleibst so, bis dein Koller vorbei ist. Wir haben schon genug Leute so verloren -«
Sie schoben ihn in eine Ecke und kümmerten sich nicht mehr um ihn. Rosen richtete sich auf.»Er ist noch durcheinander«, murmelte er, als müsse er für ihn um Entschuldigung bitten.»Ihr müßt das verstehen. Sein Bruder damals -«
Ammers war heiser geworden. Er flüsterte nur noch.»Wo bleibt er?
Wo – der Priester -«
Sie hatten allmählich alle genug.»Ist wirklich kein Priester oder Küster oder Meßdiener in den Baracken?«fragte Bucher.»Irgendeiner, damit er Ruhe gibt.«
»Es waren vier in siebzehn. Einer ist entlassen worden; zwei sind tot; der andere ist im Bunker«, sagte Lebenthal.»Breuer verprügelt ihn jeden Morgen mit einer Kette. Er nennt das: die Messe mit ihm lesen.«
»Bitte -«flüsterte Ammers weiter.»Um Christi willen – einen -«
»Ich glaube, in B ist ein Mann, der Lateinisch kann«, sagte Ahasver.»Ich habe mal davon gehört.
Kann man den nicht nehmen?«
»Wie heißt er?«
»Ich weiß es nicht genau. Dellbrück oder Hellbrück oder so ähnlich. Der Stubenälteste weiß das sicher.«509 stand auf.»Das ist Mahner. Wir können ihn fragen.«
Er ging mit Berger hinüber.»Es kann Hellwig sein«, sagte Mahner.»Das ist einer, der Sprachen spricht. Er ist etwas verrückt. Ab und zu deklamiert er. Er ist in A.«
»Das wird er sein.«
Sie gingen zu Sektion A. Mahner sprach mit dem Stubenältesten dort, einem großen, dünnen Mann mit einem Birnenkopf. Der Birnenkopf zuckte schließlich die Achseln.
Mahner ging in das Labyrinth von Betten, Beinen, Armen und Stöhnen hinein und rief den Namen aus.
Er kam nach einigen Minuten zurück. Ein mißtrauischer Mann folgte ihm.»Dies ist er«, sagte Mahner zu 509.»Laßt uns 'rausgehen. Hier kann man ja kein Wort verstehen.«509 erklärte Hellwig die Situation.»Sprichst du Lateinisch?«fragte er.
»Ja.«Hellwigs Gesicht zuckte nervös.»Wißt ihr, daß mir jetzt mein Eßnapf gestohlen wird?«
»Wieso?«
»Hier wird gestohlen. Gestern ist mir mein Löffel weggekommen, während ich auf der Latrine saß.
Ich hatte ihn unter meinem Bett versteckt. Jetzt habe ich den Eßnapf drinnen gelassen.«
»Dann hole ihn.«
Hellwig verschwand ohne ein Wort.»Der kommt nicht wieder«, sagte Mahner.
Sie warteten. Es wurde dunkler. Schatten krochen aus Schatten; Dunkelheit aus der Dunkelheit der Baracken. Dann kam Hellwig zurück. Er hielt den Eßnapf an die Brust gepreßt.
»Ich weiß nicht, wieviel Ammers versteht«, sagte 509.»Sicher nicht mehr als ego te absolvo. Das mag er behalten haben. Wenn du ihm das sagst und noch irgend etwas, was dir einfällt-«
Hellwig knickte mit seinen langen dünnen Beinen beim Gehen ein.»Virgil?«fragte er.
»Horaz?«
»Gibt es nicht etwas Kirchliches?«
»Credo in unum deum -«
»Sehr gut.«
»Oder Credo quia absurdum -«509 blickte auf. Er sah in zwei sonderbar rastlose Augen.»Das tun wir alle«, sagte er.
Hellwig blieb stehen. Er zeigte dabei mit dem knotigen Zeigefinger auf 509, als wollte er ihn aufspießen.»Es ist eine Gotteslästerung, das weißt du. Aber ich will es tun. Er braucht mich nicht.
Es gibt eine Reue und Sündenvergebung ohne Beichte.«
»Vielleicht kann er nicht bereuen, ohne daß einer dabei ist.«
»Ich tue es nur, um ihm zu helfen. Inzwischen stehlen sie meine Portion Suppe.«
»Mahner wird deine Suppe für dich halten. Aber gib mir deinen Eßnapf«, sagte 509.
»Ich bewahre ihn für dich, während du drin bist.«
»Warum?«
»Er glaubt dir vielleicht eher, wenn du keinen Eßnapf bei dir hast.«
»Gut.«
Sie traten in die Tür. Die Baracke war auch vorn jetzt schon fast dunkel. Man hörte Ammers flüstern.»Hier«, sagte 509.»Wir haben einen gefunden, Ammers.«
Ammers wurde still.»Wirklich?«fragte er dann deutlich.»Ist er da?«
»Ja.«
Hellwig bückte sich.»Gelobt sei Jesus Christus!«
»In Ewigkeit, Amen«, flüsterte Ammers mit einer Stimme wie ein erstauntes Kind.
Sie begannen zu murmeln. 509 und die anderen gingen hinaus. Draußen stand der späte Abend sehr still über den Wäldern am Horizont. 509 setzte sich gegen die Barackenwand. Sie hatte noch etwas Wärme von der Sonne behalten. Bucher kam und setzte sich neben ihn.»Sonderbar«, sagte er nach einer Weile.
Manchmal sterben hundert, und man fühlt nichts, und dann stirbt ein einzelner, einer, der einen nicht mal viel angeht – und es ist, als wären es tausend.«509 nickte.»Unsere Einbildungskraft kann nicht zählen. Und Gefühl wird durch Ziffern nicht stärker. Es kann immer nur bis eins zählen. Eins – aber das ist genug, wenn man es wirklich spürt.«
Hellwig kam aus der Baracke. Er trat gebückt durch die Tür, und einen Augenblick war es, als trüge er die stinkende Dunkelheit wie ein Schäfer ein schwarzes Schaf auf seinen Schultern, um sie fortzunehmen und in dem reinen Abend zu waschen. Dann richtete er sich auf und war wieder ein Gefangener.
»War es ein Sakrileg?«fragte 509.
»Nein. Ich habe keine priesterliche Handlung ausgeführt. Ich habe ihm nur bei der Reue assistiert.«
»Ich wollte, wir hätten etwas für dich. Eine Zigarette oder ein Stück Brot.«509 gab Hellwig den Eßnapf zurück.»Aber wir haben selbst nichts. Alles, was wir dir anbieten können, ist Ammers'
Suppe, wenn er vor dem Abendessen stirbt. Wir empfangen sie dann noch mit.«
»Ich brauche nichts. Ich will auch nichts. Es wäre eine Schweinerei, dafür etwas zu nehmen.«509 sah jetzt erst, daß Hellwig Tränen in den Augen hatte. Er blickte ihn maßlos erstaunt an.»Ist er ruhig?«fragte er dann.
»Ja. Er hat heute mittag ein Stück Brot gestohlen, das Ihnen gehörte. Er wollte, daß ich es Ihnen sage.«
»Ich habe das schon gewußt.«
»Er möchte, daß Sie kommen. Er will Sie alle um Verzeihung bitten.«
»Um Himmels willen! Wozu denn das?«
»Er will es. Besonders einen, der Lebenthal heißt.«
»Hörst du, Leo?«sagte 509.
»Er will rasch noch sein Geschäft mit Gott machen, deshalb«, erklärte Lebenthal unversöhnlich.
»Ich glaube nicht.«Hellwig nahm seinen Eßnapf unter den Arm.»Komisch, ich wollte wirklich einmal Priester werden«, sagte er.»Riß dann aus. Verstehe es jetzt nicht mehr. Wollte, ich hätte es nicht getan.«Er ließ seine merkwürdigen Augen über die Sitzenden flattern.»Man leidet weniger, wenn man an etwas glaubt.«
»Ja. Aber es gibt vieles, an das man glauben kann. Nicht nur Gott.«
»Gewiß«, erwiderte Hellwig plötzlich so verbindlich, als stände er in einem Salon und diskutierte.
Er hielt den Kopf leicht schief, als lausche er auf etwas.»Es war eine Art von Notbeichte«, sagte er dann.»Nottaufen hat es immer gegeben. Notbeichten -«