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Selbst nachts im Schlafraum tuschelten sie weiter. Sie versahen ihre Berichte mit rohen Details, wenn sie einander ihre Herzensgeheimnisse anvertrauten.

Von der ganzen Klasse waren es nur zwei, die von dem allgemeinen Liebesfieber unberührt blieben — Kostja Finkelstein, der sich gerade für Heinrich Heines Phantasiegestalten begeisterte, und scheinbar auch Jankel. Aber Jankel ließ den Kopf hängen.

Ihm waren die Liebesfreuden der anderen nicht gleichgültig. Er beobachtete sie unablässig und wurde dabei von Tag zu Tag niedergeschlagener. Jankel hatte eine schwierige psychologische Aufgabe zu lösen. Er rief sich die Vergangenheit ins Gedächtnis zurück, eine Vergangenheit, die ihm keine Ruhe ließ, die sich zu einer gewaltigen Tragödie auswuchs.

Er dachte an das Auffangheim für Kinder, in dem er ein halbes Jahr verbracht hatte, bevor er so formlos mit einem Frachtbrief in die Schkid geschickt worden war.

Dort hatte man damals viele kleine Jungen und Mädchen zusammengeholt. Jankel — er hieß zu jener Zeit noch nicht Jankel, sondern Grischka — kam sich unter ihnen wie Gulliver bei den Liliputanern vor. Aus Langeweile verprügelte er die Jungen und zog die Mädchen an den Zöpfen.

Eines Tages wurde eine Neue ins Heim gebracht. Sie war größer als das übrige Kindervolk, schwarz wie die Nacht und hatte dunkle, feuchte Augen.

„Wie heißt du?“ fragte Grischka. „Tonja.“

„Nachname?“

„Markoni“, antwortete das Mädchen. „Tonja Markoni.“

„Was bist du denn für eine?“ setzte Grischka das Verhör fort. Er musterte das Mädchen mit frechen Blicken. Die Neue spürte seine Feindseligkeit und wurde wütend. „Was geht dich das an?“ versetzte sie ebenso grob. Ihre Dreistigkeit reizte Grischka. „Hast du feste Zöpfe?“ forschte er drohend. „Versuch doch, dran zu ziehen.“

Grischka streckte die Hand aus. Er glaubte, das Mädchen würde nun aufkreischen und wegrennen, um zu petzen. Doch Tonja lief nicht fort. Sie ballte schweigend die Fäuste, um sich zu wehren. Dieser wortlose Mut setzte Grischka in Verlegenheit.

„Ich will mir an dir nicht die Hände schmutzig machen“, brummte er und ging weg.

Er rührte sie nicht mehr an, sprach aber auch nicht mit ihr, obgleich er keinen besonders großen Zorn empfand. Tonja richtete als erste das Wort an ihn.

Einmal bekam Grischka den Auftrag, Holz zu sägen. Er ging in den Saal, um sich einen Helfer zu suchen, und blieb unentschlossen stehen, weil er nicht wußte, wen er wählen sollte. Tonja stand in seiner Nähe, betrachtete ein Weilchen abwechselnd ihn und die Säge, die er in der Hand hielt, und ging dann zu ihm hin.

„Sägen?“ fragte sie schüchtern. „Ja“, brummte Grischka.

„Ich komm' mit“, meinte Tonja errötend. „Ich mag gern sägen.“ Grischka runzelte die Stirn und betrachtete das Mädchen zweifelnd. „Na, meinetwegen“, sagte er dann mißmutig.

Einen halben Tag arbeiteten sie schweigend. Tonja hielt mit ihm Schritt, und ihr war nicht anzumerken, daß sie müde wurde. Grischka machte allmählich ein freundlicheres Gesicht. „Wo hast du sägen gelernt?“ erkundigte er sich.

„In der Kolonie“, Tonja lachte über Grischkas erstauntes Gesicht. „In der Moika“, fügte sie hinzu. „Die haben wir Müllgrube genannt. Dort waren nur Mädchen, und wir mußten unser Holz selbst sägen.“

„Du arbeitest anständig“, lobte Grischka.

Sie unterhielten sich, bis es Abend wurde. Nach dem Sägen setzte sich Grischka auf einen Balken und drehte sich eine Zigarette. Tonja erzählte von ihren Streichen in der Moika, und Grischka machte die Entdeckung, daß Mädchen viel Interessantes berichten und einen Jungen sogar verstehen können. Stolz erzählte er ebenfalls einige seiner Heldentaten. Tonja lauschte aufmerksam und lachte vergnügt, wenn er etwas Komisches sagte. Allmählich vergaß Grischka vollständig, daß er ein Mädchen vor sich hatte, und fluchte im Eifer des Gefechts sogar zweimal. „Du bist genau wie ein Junge“, meinte er.

„Wirklich?“ Tonja errötete vor Vergnügen. „Wie ein richtiger Junge? Ich kann sogar rauchen. Gib mal her!“

Sie nahm Grischka den Zigarettenstummel aus der Hand, machte mutig einen kräftigen Zug und blies den Rauch von sich. „Tüchtig!“ Grischka war begeistert. „Prima Mädel!“

„Ach, ich möchte so gern ein Junge sein. Ich muß immer dran denken“, sagte Tonja traurig. „Das ist doch kein Leben — wenn man groß ist, muß man heiraten und kriegt Kinder… So was Langweiliges…“

Tonja seufzte schwer. Grischka wischte sich verlegen die Stirn. „Das stimmt.“ Er nickte. „Ihr Mädels habt Pech.“ Nach einer Woche waren sie schon unzertrennlich. Tonja hatte viel gelesen und erzählte Grischka davon. Er kannte nur Kriminalromane und war nun sehr verblüfft zu erfahren, daß es noch viele andere, ebenso interessante Bücher gab. Nach Tonjas Berichten zu urteilen, waren die Helden darin allerdings ziemlich öde. Sie verliebten sich nur dauernd und waren dann eifersüchtig. Aber Grischka vervollständigte Tonjas Erzählungen durch kriminalistische Einzelheiten. Wenn Tonja sich über einen Grafen ausließ, der an Eifersucht litt, weil seine Gräfin ihn mit einem armen Dichter betrog, schüttelte Grischka den Kopf und warf dazwischen: „Dummkopf!“

„Wieso?“

„Er hätte sie verdreschen sollen.“

„Geht nicht. Er liebte sie doch.“

„Na, dann hätte er dem Federfuchser richtig eins in die Fresse geben müssen.“

„Dann war sie mit ihm geflohen. Der Graf war doch so eifersüchtig.“

„Ach so, eifersüchtig…“ Grischka vermochte sich dieses merkwürdige Gefühl nur undeutlich vorzustellen. „Das ist was anderes.“

„Na gut — der Graf reiste ab, und die beiden lebten nun zusammen.“

„Reiste ab?“ Grischka griff sich an den Kopf. „Und ließ alles da?“

„Natürlich.“

„Die Möbel hat er auch nicht mitgenommen?“

„Nein. Er war doch so großzügig.“ Grischka hustete vor Ärger. „Dein Graf ist ein Idiot. Ich an seiner Stelle hätte alles mitgenommen — Bett und Tisch und Kommode. Laß die anderen doch wohnen, worin sie wollen…“

Manchmal stritten sie heftig miteinander, und der Tag reichte nicht aus, um alles gründlich zu erörtern.

„Weißt du was“, sagte Tonja einmal. „Komm zu uns in den Schlafraum, wenn die anderen eingeschlafen sind. Dann stört uns niemand, und wir können uns bis zum Morgen unterhalten.“ Grischka willigte ein.

Eine ganze Stunde lang lag er wartend im Bett, bis sich die anderen Kinder beruhigt hatten und die Erzieherinnen weggegangen waren. Dann schlich er in den Schlafraum der Mädchen. Tonja erwartete ihn.

„Sei leise“, flüsterte sie und rückte beiseite. Tonja war bis zum Hals zugedeckt.

Grischka kauerte sich neben sie. „Weißt du, wer mein Vater ist?“ fragte Tonja leise. „Nein, wer denn?“

„Der berühmte Erfinder Markoni… Ein Italiener…“

„Und du bist Russin. Wie kommt das?“

„Meine Mutter war Russin — Ballerina. Sie ist im Marinsker Theater aufgetreten. Als mein Vater nach Italien floh und sie verließ, hat sie sich vergiftet… aus unglücklicher Liebe.“ Grischka riß vor Erstaunen die Augen auf. Er konnte nicht unterscheiden, was bei Tonjas Berichten Wahrheit und was Lüge war. Er kramte ebenfalls alles hervor, was es in seinen kargen Erinnerungen an interessanten Dingen gab, und versuchte sogar einmal zu schwindeln, um den Bericht spannender zu machen. „Mein Vater war auch ein… wie heißt das noch?“

„Ein Graf?“

„Ja.“

„Wie heißt er?“

„Damaskin.“ Tonja prustete los.

„Damaskin… Damaskin… solche Grafennamen gibt's gar nicht!“ erklärte sie entschieden.

Grischka wurde sehr verlegen und versuchte sich herauszureden. „Er war… eine Art Graf… Er diente bei einem Grafen… als Kutscher.“

Tonja lachte Grischka aus und nannte ihn „Grafenkutscher“. Er gewöhnte sich so an sie, daß er sich ohne sie langweilte. Und wer weiß, womit diese Freundschaft geendet hätte, wenn Grischka nicht dieses Unglück zugestoßen wäre. Er hatte bekanntlich mächtig randaliert, und daraufhin stellte ihm die Kanzlei des Heimes die Begleitpapiere zur Schkid aus.