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„Die Farben sind ganz von allein herausgefallen, Viktor Nikolajewitschl“ hatte Jankel gestammelt.

„Und direkt in deine Tasche?“

Vikniksor hatte Jankel befohlen, sofort in die Klasse zu gehen, und diesmal hatte der Junge gar nicht erst versucht, um Verzeihung zu bitten. Ohne jemandem etwas von seinem Pech zu sagen, war er in die Klasse gegangen und hatte den Abend in der fürchterlichsten Niedergeschlagenheit verbracht. Nach einer qualvoll schlaflosen Nacht war dann der nächste Tag angebrochen, und allmählich hatte sich Jankel mit der Hoffnung beruhigt, Vikniksor würde seinen Streich in dem allgemeinen Durcheinander vergessen haben. Wie sich jedoch herausstellte, hatte Vikniksor nichts vergessen.

Und jetzt saß Jankel im Mittelpunkt aller Blicke da und dachte, daß er eigentlich leichten Kaufes davongekommen sei. Aber Vikniksor beschränkte sich nicht auf eine Eintragung in die Chronik. Das dicke Buch in der Hand, ging er im Eßraum auf und ab und erläuterte den Jungen Sinn und Bedeutung der Eintragung, um ihnen Angst und Achtung vor der Chronik einzuflößen. Nun steht Tschornych auf der ersten Seite, Kinder. Tschornych wollte Farben stehlen. Die Eintragung ist nicht mehr aus der Chronik fortzuwischen. Wer weiß, vielleicht wird aus Tschornych eines Tages noch ein berühmter Maler. Er sitzt im Kreise seiner Freunde und Verehrer, einer findet die Chronik, schlägt sie auf und liest: „Tschornych wurde bei dem Versuch ertappt, staatseigene Farben zu stehlen. 'Dann wenden sich alle von ihm ab und sagen: 'Du bist ein Dieb! Unter ehrlichen Menschen hast du nichts zu suchen!''“

Vikniksor begeisterte sich am Schwung seiner Rede. Aber plötzlich fiel ihm etwas anderes ein, er ließ den armen Jankel in Ruhe und fuhr fort: „Ja, Kinder, ich bin vom Thema abgewichen. Wir wollen nicht nur die Chronik bei uns einführen, sondern auch die Gruppeneinteilung. Möchtet ihr wissen, was das ist? Es ist eine Art Maßstab für unser Benehmen. Wir werden fünf Gruppen haben. Zur ersten zählen die Schüler, die im Laufe eines Monats kein einziges Mal in die Chronik eingetragen werden. Es sind die mustergültigen Schüler, deren Vorbild die anderen nachstreben sollen. Sie werden privilegiert — innerhalb der Bestimmungen bekommen sie jeden Urlaub, sie dürfen in der Freizeit ungehindert Spazierengehen, werden beim Theater-und Kinobesuch bevorzugt und erhalten bessere Wäsche, Schuhe und Kleider.“

„Kurz, es sind Aristokraten“, rief Japs spöttisch dazwischen. „Ja, wenn du es so ausdrücken willst. Aber sie gehören nicht der erblichen, parasitären Aristokratie an. Sie haben sich ihre Privilegien durch ehrliche Arbeit und musterhaftes Verhalten verdient. Übrigens wünsche ich dir, Jeonin, daß du eines Tages auch so ein Aristokrat wirst.“

„Wie sollte ich!“ Japs grinste unterdrückt.

„Jetzt wollen wir feststellen, was es mit der zweiten Gruppe auf sich hat“, fuhr Vikniksor fort. „Die zweite Gruppe besteht aus den Schülern, die im Laufe einer Woche keine Eintragung bekommen haben. Sie ist ebenfalls zum ungehinderten Spaziergang und Urlaub berechtigt; in allen anderen Dingen muß sie jedoch den Schülern der ersten Gruppe den Vortritt lassen. Man kann nur dann in die erste Gruppe kommen, wenn man einen Monat lang ohne Eintragung in der zweiten war. Zur dritten Gruppe gehören die mittelmäßigen Schüler, die höchstens eine oder zwei unwesentliche Eintragungen bekommen haben. Sie erhält nur einmal in der Woche Urlaub, der tägliche Spaziergang wird ihr entzogen. Ein Schüler aus der dritten Gruppe wird in die zweite versetzt, wenn er im Laufe einer Woche kein einziges Mal aufgeschrieben wurde. Bei einer Eintragung bleibt er in der dritten Gruppe.“

Die Schkider saßen verdutzt und niedergeschlagen da. Sie wußten nicht, daß ihnen dieses scheinbar so verzwickte System schon sehr bald alltäglich werden, daß jeder — vom Schüler aus der ersten Klasse bis zum alteingesessenen „Großen“ — es verstehen würde. Inzwischen verbreitete sich Vikniksor weiter über die neue Schkider Rangordnung.

„Jeder, der mehr als dreimal in der Woche getadelt wird, kommt in die vierte, die Strafgruppe. Ihm werden für eine Woche Urlaub und Spaziergang entzogen. Aber…“, Vikniksor hob vielsagend die Brauen, „aber wenn der Betreffende eine Woche lang in der Strafgruppe gewesen ist und in dieser Zeit kein einziges Mal getadelt wurde, kommt er wieder in die dritte Gruppe. Verstanden?“

„Jawohl!“ antworteten mißmutige Stimmen. „Und die fünfte?“ fragte einer.

„Ja, Kinder!“ Vikniksor schob wieder die Augenbrauen in die Stirn. „Die fünfte Gruppe muß ich euch noch erklären. Es ist eine ganz besondere Kategorie von Leuten, die sie erhält — Diebe und Radaubrüder. Einem Dieb entziehen wir nicht nur den Urlaub und den Spaziergang. Er wird von den anderen Schülern isoliert, und auf seinen Heften steht der Buchstabe 'D'.“

Jankel lief es kalt über den Rücken; die harmlose Eintragung in der Chronik gewann plötzlich einen fürchterlich drohenden Sinn. Er hörte kaum noch, was Vikniksor weiter sagte, obgleich der Direktor lange und viel redete. Unter anderem erklärte er, es würden außer den allgemeinen Schulversammlungen noch tägliche Klassenbesprechungen eingeführt, auf denen die Lehrer in Gegenwart der Schüler die Gruppeneinteilung vornähmen. Er setzte auch besondere Tage für jede Klasse fest, an denen die Einteilung erfolgen sollte. Auf der Versammlung, die am nächsten Freitag in der vierten Abteilung stattfand, erklärte der hierzu eingesetzte Lehrer Alnikpop jedem Schüler seine Gruppenzugehörigkeit. Die meisten kamen in die zweite Gruppe, weil sie den Tadeln bisher entgangen waren. Auf der Liste der dritten Gruppe standen Jankel und Spatz. Japs kam in die vierte Gruppe, weil er sich in der vergangenen Woche fünf Eintragungen, sämtlich „wegen Frechheit und Grobheit“, zugezogen hatte. Auf der Versammlung heimste er einen neuen Tadel ein, weil er Vikniksors neues System öffentlich als „Prophetenstreich“ bezeichnete.

Jankel jubelte — zum Erstaunen seiner Kameraden. Der arme Spatz raufte sich dagegen vor Zorn und Mißmut die Haare. Er hatte einen einzigen Tadel erhalten — wegen „Prügelei auf der Straße“ — wegen jener Prügelei, bei der er sowieso schon genug abbekommen hatte. Die übrigen warteten ab, wie sich die Dinge weiter gestalten, wohin ihr Schicksal und ihr eigenes Verhalten sie führen würden — nach oben oder nach unten.

Mit dem Späherauge der Chronik begann die Schkid ihr neues Schuljahr. Der Sommer war vorbei…

„KAUFMANN“ VON OFFENBACH

Mußestunden in der Schkid * Der Baron in Uniform * Erinnerungen eines ehemaligen Kadetten * Nikolai II. und Hostien mit Butter * Kaufmann * Raufbold und Katzenliebhaber.

Im Klassenraum der vierten Abteilung glimmen schwache Glühbirnen. Graue, unförmige Schatten gleiten über die Wände. Mamachen, Jankel und Zigeuner sitzen am glühenden Ofen. Sie unterhalten sich halblaut, rauchen schweigend an einem Zigarettenstummel und blasen den Rauch in das kleine Ofenloch. Das Feuer wirft einen roten Widerschein auf ihre Gesichter. Die übrigen Schkider hocken in den anderen Ecken der Klasse. Wer gute Augen hat, liest, einige treiben Allotria, manche spielen Karten, hinter den hochgestellten Klapptischen versteckt. Brotkanten spielt mit Spatz Schach, wird dauernd matt gesetzt, merkt aber aus Unerfahrenheit nicht, wie Spatz ihn bemogelt.

Danilow und Elster sitzen vor der Tafel auf dem Fußboden. Sie sind in das interessante „Messerspiel“ vertieft — abwechselnd werfen sie ein Taschenmesser.

„Mit der Handfläche!“ ruft Elster. Sein Messer bohrt sich in den zerschrammten Fußboden.

Dann wirft Danilow, doch bei ihm rutscht das Messer ab. „Mit dem kleinen Finger!“ ruft Elster; wieder bleibt das Messer zielbewußt stecken.

Nach mehreren erfolgreichen Würfen schnippt er die gewonnene Punktzahl laut knallend Danilow auf die Stirn. Der breitschultrige Danilow hat den Kopf gesenkt, starrt stumpfsinnig zu Boden und zuckt jedesmal augenzwinkernd zusammen.