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Ich wache wieder auf. Ich weiß jetzt genau, wen ich im Kaufland sah. Das war Löscha Inow. Das zehnte Mitglied.

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Ich komme nach Hause schleppend Milch, Brot, Wurst und Gott weiß, was ich noch kaufte, mit. Unterwegs sah ich wieder eine pittoreske Gruppe hiesiger Alkoholiker neben Rewe. Mir ist immer interessant, warum sie ausgerechnet Rewe bevorzugen. Dabei denke ich, dass in Russland genau so viel oder sogar weniger Alkoholiker gibt. Aber gleichzeitig erinnere ich an einen Witz aus Internet, wie man sich Russen in Westen vorstellt:

- Schatz, ich bin's!

- Wieso so spät?

- Unterwegs bin einem Bär begegnet, der zu schwach war, um zu Bärenhöhle zu kriechen. Ich gab ihm Pelzmütze, Filzstiefel und Wodka als Verstärkung.

 

- Kinder, Essen ist fertig!

- Ich will nicht. Ich spiele lieber mit Bär!

- Gut, aber trink zunächst Wodka!

 

- Wo ist Opa!

- Er steht Schlange, um Wodka zu kaufen. Es ist gut, dass er zuerst schon Wodka getrunken hat.

- Du sollst auch was machen, aber trink zuerst Wodka!

 

- Schatz, es ist kalt geworden. Schalte bitte Atomreaktor ein!

- Gleich, aber ich trinke vorerst diese Flasche Wodka aus.

- Schatz, du muss unsere Tochter in Kita bringen. Vergiss bloß nicht, ihr Wodka zu geben! Und nimm eine Flasche für Erzieherin. Sie sagte, sie ertrüge Kinder ohne Wodka nicht. 

 

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Apropos, ich sah diesen Löscha Inow wieder. Er stand im Rewe und tat so, als ob er mich nicht bemerkte. Ich hatte auch keine Lust, ihn zu begrüßen. Was macht er eigentlich hier? Soll ich das Alina erzählen? Ich entscheide, dass es nicht so wichtig ist und dass ich bis auf weiterem damit warten kann.

Dieser Löscha zwingt mich wieder an unsere letzte Trainingssitzung zu erinnern. Als Augenkontakt erstellt wird, entscheidet die Gruppe, ob wir miteinander duzen oder siezen werden. Es ist in Russland nicht üblich, unbekannte Leute per Du zu nennen. Besonders schwer gelingt es, wenn Menschen von verschiedenen Generationen miteinander kommunizieren müssen. Nach einer heftigen Diskussion kommen alle zu erstaunlichem Ergebnis, dass man dessenungeachtet Respekt zeigen kann, wenn man auch duzt. Diese Diskussion gibt Gruppenmitglieder die Möglichkeit, sich zu positionieren und Gruppenstruktur zu bilden. Man sieht gleich Kandidaten für Leaderrolle.

Diese Gruppe besteht aus Akademiker von verschiedenen Berufen. Alle hatten schon Erfolge in ihren Beruf erzielt, manche bekleideten Führungspositionen. Russische Wende – Perestroika, nahm ihnen das weg. Unternehmen machten Pleite, viele wurden zu Arbeitslosen. Jetzt machen sie Umschulung auf eigene Kosten, weil der Staat auch Pleite ist. Alle sind nicht so richtig von Buchhaltung, die ihnen angeboten war, begeistert, haben gar keine andere Wahl. Sie sind etwas zu alt, um auf den Strich zu gehen, schlecht trainiert, um als Banditen Karriere zu machen und haben kein Geld, um als Selbstständige zu fungieren. Andere Berufe sind momentan in Russland nicht nachgefragt.

Die meisten empfinden die Ausbildung als Beleidigung, die ihnen ihr Staat antut. Unsere Aufgabe besteht darin, dieses Gefühl zu bearbeiten helfen und die Gruppe so umstrukturieren, dass sie möglichst effektiv Lernprozess unterstützen könnte.

Nach einigen Minuten der Diskussion wurde es klar, dass hier zwei Prätendenten auf führende Position gibt: Alik Baklanow und Löscha Inow.

Alik ist ein großgewachsener Mann, ungefähr ein Meter vierundneunzig. Wie manche Riesen, versucht er kleiner auszusehen und krümmt seinen Rücken. Seine gelben Haare sind gekräuselt, er trägt Brille und sieht viel junger, als er ist, aus. Er pflegt es, mit allen auf gutem Fuß zu sein, erzählt nonstop Witze und ist etwas hyperaktiv. Von Beruf ist er Pädagoge und war erfolgreich als Lehrer, aber sein Gehalt reicht nicht mehr, um zu überleben.

Löscha Inow sieht mittelmäßig aus. So mittelmäßig, dass ich und Alina müssen uns speziell konzentrieren, um sein Aussehen einzuprägen. Er hat glatte spärliche Haare undefinierbarer Farbe. Seine hellen Augen sehen die Menschen vorbei. Er ist mittelgroß und kleidet sich ganz gewöhnlich. Es gibt nichts Unangenehmes an ihn, aber man fühlt etwas Schlüpfriges... Löscha ist kontaktfreudig und findet schnell allgemeine Themata. Smalltalk fällt ihm ausgesprochen gut. Man unterhaltet leicht mit ihm, kann danach aber an nichts erinnern. Löscha sagt, dass er ein Chemiker von Beruf ist und stammt aus kleinem Dorf (Hutor) neben Stadt Asow. Das ist auch interessant, weil er spricht eher als ein Geisteswissenschaftler mit ausgeprägter moskauer Aussprache. Wenn ich ihn nach Buckminsterfullerene fragte, tat er, als ob er die Frage überhörte. Das scheint seltsam, weil in den neunziger XXXXXXXXXXX Buckminsterfullerene ein Hit in Chemiewissenschaft waren.

Alik spricht viel und etwas zu laut, spart an Gestik nicht, versucht alle Anwesenden zu betören. XXXXX XXXXX XXXXXXXXX XXXXXXXX XXXX XXX XXXXXXX XXXXXXXX XXXXXXXX XXXXXXXX XXXXXXXX XXXX XXXXXX XXXXXXXX XXXXXXXXXX XXXXXXXXXX XXXXXXXXXXXXX.

Er lässt anderen fast keine Zeit, um ihre Aussagen zu machen. Seine Annäherungsversuche ähneln sich einem Orkan. Er unterdrückt anderen, um selbst Solo zu sprechen. Das gefällt nicht allen Teilnehmern. Offensichtlich irritiert Alik Nina Bontschuk und Rafail Altmayer. Ihnen gefällt Löscha's enthaltsamer Führungsstil viel mehr. Er spricht bestimmt weniger, meist ironisch und oft zu persönlich. Das alles aber unter dem Schleier der Höflichkeit. So man nie genau weiß, ob man beleidigt war oder gelobt. Es scheint, dass Löscha zwei treue Anhänger fand.

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Wenn man als Gruppentrainer arbeitet, muss man Jazz mögen, weil Training ein purer Jazz ist. Du hast nur Ziel, das die Gruppe erreichen soll, und einen Vorrat von Methoden, einige von denen man benutzen kann, aber nicht notwendigerweise. Wie im Jazz, man hat das Thema, Melodie, und kann damit improvisieren, um dieses Thema (Ziel) zu erreichen. Alles aber hängt davon ab, wie andere Jazzmen oder Gruppenmitglieder reagieren. Man muss nicht an diese oder jene Methode hängen, man darf sogar neue Methoden erfinden und gleich benutzen. Im Training, wie im Jazz, ist alles möglich – vorausgesetzt, man versteht, was man tut und dabei kennt sich in solchen Sachen aus. Wenn man mal Training probiert, dann scheinen ihm „normale“ (übliche, traditionelle) Vorlesungen und Seminare zu langweilig.

Das ist aber nicht die ganze Wahrheit vom Training. Stellen Sie sich vor: man muss ein großes Lastwagenrad rollen. Also muss man zweierlei Dinge im Sinne haben: man hat dafür zu sorgen, dass es nicht hinstürzt und dass es sich genau dorthin bewegt, wo Sie es haben wollen. Am besten macht man das zu zweit. Deswegen muss man parat die Antworten auf folgende Fragen haben: Was mache ich jetzt? Warum mache ich das? Wie hilft so was das Ziel zu erreichen? Was tut die Gruppe? Was tut jedes einzelne Mitglied der Gruppe und warum tut er das? Was macht momentan mein Partner und warum macht er das? Und Sie müssen bereit sein, in jedem Moment die Fortführung der Gruppe zu übernehmen.

Wie auch schön und erregend diese Arbeit sein mag, sie verlangt einen großen Energieverbrauch. Ein normales Training dauert gewöhnlicherweise eine Woche lang, acht Stunden pro Tag und nach dem Training sind wir, genauso wie Trainingsteilnehmer, nur für eines fähig, nämlich – sich zu erholen. Management der sozialen Beziehungen ist sehr schwere Tätigkeit, es ist bloß nicht allen bekannt.

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