Marco übersetzt, und als ich begreife, was geschehen ist, stürzt für mich eine Welt zusammen. Nur mit größter Anstrengung kann ich die Tränen der Enttäuschung zurückhalten. Ich flehe Marco an: „Frag, was wir tun können, wir sind nur noch morgen hier!“ Er antwortet kühl: „Das ist hier eben so, wir können nichts machen, und ich bin froh, wenn wir endlich zu Hause sind.“ Ich lasse nicht locker: „Edy“, so heißt der Massai, „können wir ihn suchen?“ Ja, er sammle heute abend bei den anderen Massai Geld und morgen um zehn Uhr fahre er los und versuche, ihn zu finden. Es sei schwierig, weil man nicht wisse, in welches der fünf Gefängnisse er gebracht worden sei.
Ich bitte Marco darum, daß wir mitgehen, er habe uns ja schließlich auch geholfen.
Nach längerem Hin und Her wil igt er ein, und wir verabreden uns mit Edy um zehn Uhr vor dem Hotel. Die ganze Nacht kann ich nicht schlafen. Ich weiß immer noch nicht, was in mich gefahren ist. Ich weiß nur, daß ich Lketinga wiedersehen will, ja muß, bevor ich in die Schweiz zurückfliege.
Auf der Suche
Marco hat es sich anders überlegt und bleibt im Hotel. Er versucht noch, mir das Vorhaben auszureden, aber gegen diese Kraft, die mir sagt, ich muß gehen, kommen al e gutgemeinten Ratschläge nicht an. So lasse ich ihn zurück und verspreche, gegen zwei Uhr wieder da zu sein. Edy und ich fahren in Richtung Mombasa mit dem Matatu. Diese Art von Taxi benutze ich zum ersten Mal. Es ist ein kleiner Bus mit zirka acht Sitzplätzen. Als er hält, befinden sich bereits dreizehn Leute darin, dichtgedrängt zwischen ihrem Gepäck. Der Kontrolleur hängt draußen am Fahrzeug. Ich schaue ratlos in das Gewühl. „Go, go in!“ sagt Edy, und ich klettere über Taschen und Beine und halte mich in gebückter Haltung fest, damit ich in den Kurven nicht auf die anderen falle.
Gott sei Dank steigen wir nach etwa fünfzehn Kilometern aus. Wir sind in Ukunda, dem ersten größeren Dorf, das ein Gefängnis hat. Gemeinsam gehen wir hinein.
Noch bevor ich einen Fuß über die Schwelle gesetzt habe, hält uns ein bulliger Typ auf. Fragend sehe ich Edy an. Er verhandelt, und nach etlichen Minuten, nachdem ich angewiesen wurde, stehenzubleiben, öffnet der Typ eine Tür hinter sich. Da es im Inneren dunkel ist und ich draußen in der Sonne stehe, kann ich nicht viel erkennen.
Dafür schlägt uns ein so schrecklicher Gestank entgegen, daß ich Brechreiz verspüre. Der Dicke schreit etwas in das dunkle Loch, und nach ein paar Sekunden erscheint ein Mensch, der völ ig verwahrlost aussieht. Es ist anscheinend ein Massai, doch ohne Schmuck. Ich schüttle erschreckt den Kopf und frage Edy: „Ist nur dieser Massai hier?“ Offensichtlich ist es so, und der Gefangene wird zurückgestoßen zu den anderen, die am Boden kauern. Wir gehen, und Edy sagt: „Komm, wir nehmen noch mal ein Matatu, die sind schneller als die großen Busse, und suchen in Mombasa weiter.“
Wieder geht es hinüber mit der Likoni-Fähre und weiter mit dem nächsten Bus an den Stadtrand zum dortigen Gefängnis. Es ist wesentlich größer als das letzte. Auch hier werde ich als Weiße grimmig angeschaut. Der Mann hinter der Barriere nimmt keine Notiz von uns. Er liest gelangweilt in seiner Zeitung, und wir stehen ratlos herum. Ich stupse Edy an: „Frag doch mal!“ Nichts passiert, bis Edy mir erklärt, ich solle diesem Kerl unauffällig einige Kenia-Schillinge hinlegen. Aber wieviel? Ich habe in meinem Leben noch nie jemanden bestechen müssen. Also lege ich 100 Kenia-Schillinge hin, was etwa zehn Franken entspricht. Scheinbar achtlos streicht er das Geld ein und schaut uns endlich an. Nein, in letzter Zeit sei kein Massai namens Lketinga eingeliefert worden. Es seien zwei Massai hier, aber die seien viel kleiner als der Beschriebene. Ich will sie trotzdem sehen, denn vielleicht täuscht er sich ja, und das Geld hat er bereits genommen. Mit einem finsteren Blick auf mich erhebt er sich und sperrt eine Tür auf.
Was ich hier sehe, schockiert mich. In einem Raum ohne Fenster hocken zusammengepfercht mehrere Personen, die einen auf Pappkartons, die anderen auf Zeitungen oder direkt auf dem Betonboden. Durch den Lichtstrahl geblendet, halten sie sich die Hände vor die Augen. Nur ein kleiner Gang zwischen den kauernden Menschen ist frei. Im nächsten Augenblick sehe ich auch, warum, denn ein Angestel ter kommt, um einen Kübel mit „Essen“ hineinzuschütten, direkt auf den Betongang. Es ist unfaßbar, so füttert man bestenfalls Schweine! Bei dem Wort Massai kommen zwei Männer heraus, aber keiner von beiden ist Lketinga. Ich bin entmutigt. Was erwartet mich überhaupt, wenn ich ihn finde?
Wir fahren in die Innenstadt, nehmen ein anderes Matatu und rumpeln zirka eine Stunde zur Nordküste. Edy beruhigt mich und meint, hier müsse er sein. Doch wir kommen gar nicht erst bis zum Eingang. Ein bewaffneter Polizist fragt, was wir wollen. Edy erklärt unser Anliegen, doch der andere schüttelt den Kopf, seit zwei Tagen hätten sie keinen Neuen bekommen. Wir verlassen den Ort, und ich bin völlig ratlos.
Edy sagt, es sei bereits spät, wenn ich um zwei Uhr zurück sein wolle, müßten wir uns beeilen. Ich wil aber nicht ins Hotel. Nur noch heute habe ich Zeit, Lketinga zu finden. Edy schlägt vor, wir sol ten noch mal beim ersten Gefängnis nachfragen, weil die Insassen oft verlegt werden. Also fahren wir in der brütenden Hitze wieder zurück nach Mombasa.
Als sich unsere Fähre mit einer entgegenkommenden kreuzt, sehe ich, daß sich auf dem anderen Schiff fast keine Menschen, sondern nur Fahrzeuge befinden, wovon eines besonders hervorsticht. Es ist knallgrün und vergittert. Edy sagt, dies sei der Gefangenentransporter. Mir wird übel beim Gedanken an diese armen Geschöpfe, aber weiter denke ich nicht. Ich bin müde, durstig und total verschwitzt.
Um 14.30 Uhr sind wir wieder in Ukunda.
Vor dem Gefängnis steht jetzt ein anderer Wächter, der wesentlich freundlicher wirkt. Edy erklärt nochmals, wen wir suchen, und es wird lebhaft diskutiert. Ich verstehe nichts. „Edy, was ist los?“ Er erklärt mir, Lketinga sei vor einer knappen Stunde an die Nordküste, von der wir gerade kommen, gebracht worden. Er sei in Kwale gewesen, dann kurz hier und jetzt auf dem Weg zu dem Gefängnis, in dem er bis zu seiner Verhandlung bleiben müsse.
Langsam beginne ich durchzudrehen. Wir waren den ganzen Morgen unterwegs, und vor einer halben Stunde fuhr er an uns vorbei, in der grünen Minna. Edy schaut mich ratlos an. Wir sollten besser ins Hotel gehen, er werde es morgen wieder versuchen, er wisse jetzt, wo Lketinga sei. Ich könne ihm ja das Geld geben, er werde ihn auslösen.
Ich muß nicht lange überlegen und bitte Edy, noch einmal mit mir zur Nordküste zu fahren. Er ist nicht begeistert, aber er kommt mit. Schweigend fahren wir den langen Weg zurück, und ständig frage ich mich, warum, Corinne, warum tust du das? Was wil ich Lketinga überhaupt sagen? Ich weiß es nicht, ich werde einfach von dieser unheimlichen Kraft weitergetrieben.
Kurz vor sechs Uhr erreichen wir erneut das Gefängnis an der Nordküste. Es steht noch derselbe bewaffnete Mann dort. Er erkennt uns und berichtet, daß Lketinga vor etwa zweieinhalb Stunden angekommen sei. Jetzt bin ich völ ig wach. Edy erklärt, wir wollten den Massai herausholen. Der Wächter schüttelt den Kopf und meint, vor Silvester gehe das nicht, da der Gefangene noch keine Verhandlung gehabt habe und der Chef des Gefängnisses bis dahin in Ferien sei.
Mit allem habe ich gerechnet, damit aber nicht. Selbst mit Geld ist Lketinga nicht freizubekommen. Mit Müh und Not bringe ich den Wächter soweit, mir zumindest zu erlauben, Lketinga für zehn Minuten zu sehen, da er verstanden hat, daß ich morgen abfliege. Und dann kommt er strahlend heraus auf das Gelände. Ich erschrecke zutiefst.
Er trägt keinen Schmuck mehr, hat die Haare in ein schmutziges Tuch gewickelt und stinkt fürchterlich. Dennoch scheint er sich zu freuen und wundert sich nur, warum ich ohne Marco hier bin. Ich könnte schreien, der merkt auch gar nichts! Ich sage ihm, daß wir morgen nach Hause fliegen, ich aber so schnell wie möglich wiederkommen werde. Ich schreibe ihm meine Adresse auf und bitte ihn um seine.