Gegen Mitternacht betreten einige Massai die Disco. Ich sehe sie mir genau an, erkenne aber nur ein paar von denen, die im Hotel ihren Auftritt hatten. Enttäuscht kehre ich an den Tisch zurück. Ich fasse den Entschluß, die restlichen Abende in der Disco zu verbringen, denn es scheint mir die einzige Möglichkeit zu sein, meinen Massai wiederzufinden. Marco protestiert zwar, aber allein im Hotel bleiben will er auch nicht. So machen wir uns jeden Abend nach dem Essen auf den Weg zur Bush-Baby-Disco.
Nach dem zweiten Abend, es ist bereits der 21. Dezember, hat mein Freund genug von den Ausflügen. Ich verspreche ihm, es sei nur noch dieses eine Mal. Wie immer sitzen wir an dem inzwischen zu unserem Stammplatz gewordenen Tisch unter der Palme. Ich entschließe mich zu einem Solotanz inmitten der tanzenden Schwarzen und Weißen. Er muß doch einfach kommen!
Kurz nach elf Uhr, ich bin schon ganz schweißgebadet, öffnet sich die Tür. Mein Massai! Er legt seinen Schlagstock beim Kontrolleur nieder, geht langsam zu einem Tisch und setzt sich mit dem Rücken zu mir. Meine Knie zittern, ich kann kaum noch stehen. Jetzt schießt mir der Schweiß erst recht aus allen Poren. Ich muß mich an einer Säule am Rand der Tanzfläche festhalten, um nicht umzukippen. Fieberhaft überlege ich, was ich tun könnte. Auf diesen Augenblick habe ich Tage gewartet. So ruhig wie möglich gehe ich an unseren Tisch zurück und sage zu Marco: „Schau, da ist der Massai, der uns geholfen hat. Hol ihn bitte an unseren Tisch und spendiere ihm ein Bier als Dankeschön!“ Marco dreht sich um, und im selben Moment sieht uns der Massai. Er winkt, steht auf und kommt tatsächlich zu uns. „Hello, friends!“
Schon streckt er uns lachend seine Hand entgegen. Sie fühlt sich kühl und geschmeidig an. Er setzt sich neben Marco direkt mir gegenüber. Warum nur kann ich kein Englisch! Marco bemüht sich um ein Gespräch, wobei sich herausstel t, daß auch der Massai kaum Englisch spricht. Mit Gestik und Mimik versuchen wir uns zu verständigen. Er schaut zuerst Marco, dann mich an und fragt schließlich, auf mich zeigend: „Your wife?“
Auf Marcos „Yes, yes“
reagiere ich empört: „No, only boyfriend, no married!“
Der Massai versteht nicht. Er fragt nach Kindern. Wieder sage ich: „No, no! No married!“ So nah war er mir noch nie. Nur der Tisch ist zwischen uns, und ich kann ihn nach Herzenslust anstarren. Er ist faszinierend schön, mit seinem Schmuck, den langen Haaren und dem stolzen Blick! Von mir aus könnte die Zeit stehenbleiben. Er fragt Marco: „Warum tanzt du nicht mit deiner Frau?“ Als Marco, zum Massai gewandt, antwortet, er trinke lieber Bier, ergreife ich die Gelegenheit und mache dem Massai klar, daß ich mit ihm tanzen will. Er schaut Marco an, und als keine Reaktion kommt, stimmt er zu.
Wir tanzen, er mehr hüpfend wie beim Volkstanz, ich europäisch. Er bewegt keinen Muskel im Gesicht. Ich weiß nicht, ob ich ihm überhaupt gefal e. Dieser Mann, so fremd er mir ist, zieht mich wie ein Magnet an. Nach zwei Songs kommt langsame Musik, und ich würde ihn am liebsten an mich drücken. Statt dessen reiße ich mich zusammen und gehe von der Bühne, ich würde sonst völlig die Kontrolle verlieren.
Am Tisch reagiert Marco prompt: „Corinne, komm, wir gehen ins Hotel, ich bin müde.“ Aber ich will nicht. Der Massai gestikuliert wieder mit Marco. Er will uns einladen, uns morgen seine Wohnstätte zeigen und eine Bekannte vorstel en. Ich stimme schnel zu, bevor Marco widersprechen kann. Wir verabreden uns vor dem Hotel.
In der Nacht liege ich schlaflos auf dem Bett, und gegen Morgen ist mir klar, daß meine Zeit mit Marco zu Ende ist. Fragend schaut er mich an, und plötzlich bricht es aus mir heraus: „Marco, ich kann nicht mehr. Ich weiß nicht, was mir mit diesem völlig fremden Mann passiert ist. Ich weiß nur, dieses Empfinden ist stärker als jede Vernunft.“ Marco tröstet mich und meint gutmütig, wenn wir wieder in der Schweiz seien, werde sich al es wieder einrenken. Kläglich erwidere ich: „Ich will nicht mehr zurück. Ich will hier bleiben in diesem schönen Land bei den liebenswerten Menschen und vor allem bei diesem faszinierenden Massai.“ Marco versteht mich natürlich nicht.
Bei brütender Hitze stehen wir am nächsten Tag wie verabredet vor dem Hotel.
Plötzlich taucht er auf der anderen Seite der Straße auf und kommt herüber. Nach kurzer Begrüßung sagt er: „Come, come!“ und wir folgen ihm. Wir gehen ungefähr zwanzig Minuten durch Wald und Gestrüpp. Da und dort springen Affen, manche halb so groß wie wir, vor uns her. Wieder bewundere ich den Gang des Massai. Er scheint den Boden kaum zu berühren. Es ist fast wie ein Schweben, obwohl seine Füße in schweren Autoreifen-Sandalen stecken. Marco und ich wirken dagegen wie Trampeltiere.
Dann kommen fünf Rundhäuschen in Sicht, in einem Kreis zusammengestel t, ähnlich wie im Hotel, nur viel kleiner, und statt Beton sind hier Natursteine aufeinander gestapelt, mit rotem Lehm verputzt. Das Dach ist aus Stroh. Vor einem Häuschen steht eine stämmige Frau mit einem großen Busen. Der Massai stellt sie uns als seine Bekannte Priscilla vor, und erst jetzt erfahren wir den Namen des Massai: Lketinga.
Priscilla begrüßt uns freundlich, und zu unserer Verwunderung spricht sie gut Englisch. „You like tea?“ fragt sie. Ich nehme dankend an. Marco meint, es sei viel zu heiß, er hätte lieber ein Bier. Das bleibt hier natürlich Wunschvorstellung. Priscilla holt einen kleinen Spirituskocher hervor, stel t ihn vor unsere Füße, und wir warten, bis das Wasser kocht. Wir erzählen von der Schweiz, von unserer Arbeit und fragen, wie lange sie hier schon wohnen. Priscilla lebt bereits seit zehn Jahren an der Küste.
Lketinga hingegen sei neu hier, er sei erst vor einem Monat angekommen und spreche deshalb fast noch kein Wort Englisch.
Wir fotografieren, und jedesmal, wenn ich in Lketingas Nähe komme, zieht er mich körperlich spürbar an. Ich muß mich zusammenreißen, damit ich ihn nicht berühre.
Wir trinken den Tee, der ausgezeichnet schmeckt, aber verdammt heiß ist. Wir verbrennen uns beinahe die Finger an den Emailletassen.
Es beginnt, rasch dunkel zu werden, und Marco sagt: „Komm jetzt, wir müssen langsam zurück.“ Wir verabschieden uns von Priscilla und tauschen, mit dem Versprechen zu schreiben, unsere Adressen aus. Schweren Herzens trabe ich hinter Marco und Lketinga zurück. Vor dem Hotel fragt er: „Tomorrow Christmas, you come again to Bush-Baby?“
Ich strahle Lketinga an, und bevor Marco antworten kann, sage ich „Yes!“
Morgen ist unser drittletzter Tag, und ich habe mir vorgenommen, meinem Massai mitzuteilen, daß ich Marco nach den Ferien verlassen werde. Neben dem, was ich für Lketinga empfinde, erscheint mir al es andere, was vorher war, lächerlich. Ich will ihm das morgen irgendwie klarmachen und ihm auch sagen, daß ich bald al ein zurückkommen werde. Nur einmal denke ich kurz darüber nach, was er für mich empfindet, doch sofort gebe ich mir selbst die Antwort. Er muß einfach genauso empfinden wie ich!
Heute ist Weihnachten. Bei vierzig Grad im Schatten ist hier von weihnachtlicher Stimmung al erdings nichts zu spüren. Ich mache mich für den Abend so schön wie möglich und ziehe mein bestes Ferienkleid an. An unserem Tisch haben wir zum Fest Champagner bestellt, der teuer ist, dafür um so schlechter und viel zu warm serviert. Um zehn Uhr ist von Lketinga und seinen Freunden noch nichts zu sehen.
Was ist, wenn er ausgerechnet heute nicht kommt? Wir sind nur noch morgen hier, und tags darauf geht es in aller Frühe zum Flughafen. Erwartungsvoll starre ich zur Tür und hoffe inständig, daß er kommen wird. Da taucht ein Massai auf. Er schaut sich um und kommt zögernd auf uns zu. „Hello“, begrüßt er uns und fragt, ob wir die Weißen seien, die mit Lketinga verabredet sind. Ich habe einen Klumpen im Hals und bekomme einen Schweißausbruch, während wir nicken. Er berichtet uns, Lketinga sei am Nachmittag am Strand gewesen, was normalerweise für Einheimische verboten ist. Dort wurde er von anderen Schwarzen wegen seiner Haare und seiner Kleidung gehänselt. Als stolzer Krieger wehrte er sich seiner Haut und schlug mit seinem Rungu, dem Schlagstock, auf seine Gegner ein. Die Strandpolizei nahm ihn kurzerhand mit, weil sie seine Sprache nicht verstanden. Jetzt sei er irgendwo in einem Gefängnis zwischen der Süd- und Nordküste. Er sei hier, um uns das mitzuteilen, und wünsche uns im Namen von Lketinga eine gute Heimreise.