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Marit wanderte eine ganze Weile durch die Hitze und ihr Mund klebte vom Saft der Orangen. Der Durst kam schneller wieder, als sie gedacht hatte. Bald, dachte Marit, bald ist die Regenzeit endgültig zu Ende und irgendwann wird es keine Orangen mehr geben.

»Dir reicht der Tau auf den Blättern«, sagte sie zu Carmen, die als Einzige bei ihr geblieben war und in ihrem Ärmel saß. »Aber wir werden jämmerlich vor die Hunde gehen. Und es gibt noch nicht mal Hunde hier.« Sie ließ sich resigniert in den Sand fallen. »Es gibt auch keine Spitze von irgendetwas, die aus dem Meer ragt.« In diesem Moment kam etwas aus dem Wasser und robbte auf sie zu.

»Chispa?«, fragte Marit.

Anstelle einer Antwort schnappte die Seelöwin Marit die Mütze vom Kopf und robbte damit wieder zum Wasser zurück.

»He!«, rief Marit und sprang auf. »Warte! Gib die Mütze her!«

Chispa drehte sich um. »Hol sie doch!«, schien sie zu sagen. »Na los! Du dachtest, ich hätte euch verlassen, aber ich bin zurückgekommen, um mit dir zu spielen.«

Jetzt entdeckte Marit die anderen Seelöwen im Wasser, und sie sah hilflos zu, wie sie begannen, ihre Mütze hin und her zu werfen. Schließlich schwammen sie mit der Mütze zwischen den Zähnen vom Strand weg, albern wie kleine Kinder.

»Nein!«, rief Marit. »Jetzt ist das Spiel zu Ende! Kommt zurück!«

Sie streifte ihre Sachen ab, hörte Carmen im Hemdsärmel empört quieken und rannte den Seelöwen nach, ins Wasser hinein. Es war wunderbar kühl nach der brennenden Sonne. Doch Marit dachte nicht an die Kühle. Sie musste die Seelöwen einholen. Sie hatten den einzigen Gegenstand, der sie mit der Vergangenheit verband. Plötzlich erschien es ihr, als wäre diese alte Schiebermütze das Wichtigste im Leben. Als könnte sie ohne die Mütze niemals herausfinden, wie die seltsamen Stücke ihrer Erinnerung zusammenhingen und welches Geheimnis sie verbargen. Denn etwasverbargen sie, da war Marit sich inzwischen sicher.

Sie sah die Seelöwen untertauchen – und da tauchte auch sie. Unter ihr lag ein Labyrinth aus zerklüfteten Felsen, bewachsen mit Korallen und mit Algenwäldern, die in den Wellen hin und her schaukelten. Bunte Fische schossen dazwischen umher, schwebten reglos im Wasser, schlängelten sich als glänzende Streifen durch das Algengrün … und dann sah sie das Schiff zwischen den Klippen. Es war nur noch die Erinnerung an ein Schiff: ein Grab aus Balken, Tauen und Brettern. Es war um ein Vielfaches größer als die Mariposa, doch es teilte ihr Schicksal. Marit tauchte auf, um Luft zu holen. Josés Urgroßvater fiel ihr ein, der Abuelito, der zur Isla Maldita gefahren und nie zurückgekehrt war. War dies sein Schiff gewesen? Oder das Schiff eines anderen Seefahrers, das auf die Klippen aufgelaufen und gesunken war, in lächerlich geringer Entfernung zum Land?

Es war schwer zu glauben, aber Marit wusste, dass eine Menge der Seeleute damals nicht hatten schwimmen können. Irgendwo hier hatte jemand um sein Leben gekämpft und vielleicht verloren. Und sie machte sich Sorgen um eine dumme Mütze.

Sie sah sich nach den Seelöwen um, und da waren sie, verspielt wie zuvor. Marit folgte ihnen in einem weiten Bogen zurück an Land. Dort ließ einer von ihnen Marits Mütze in den Sand fallen. Sie hätte sich die ganze Mühe sparen können.

Aber als sie die Mütze auswrang, wusste sie es plötzlich. Sie wusste, was die Spitze bedeutete, die auf Josés Karte aus dem Wasser ragte. Das gesunkene Schiff war lange gesunken, ehe Josés Großvater die Isla Maldita erreicht hatte. Es war schon gesunken, ehe die Karte gezeichnet worden war. Damals hatte das Wrack noch aus den Wellen geragt.

Hier, genau hier begann der Weg zum schwarzen Kreuz auf Josés Karte.

»Bist du sicher, dass es hier war?«, fragte José zwei Stunden später.

Marit nickte. »Aber schwimm ruhig raus und sieh dir die Reste des Wracks selbst an.«

Er schüttelte den Kopf. »Lass uns lieber die Reste des Weges finden.«

Sie gingen von der Stelle aus, an der Marit das gesunkene Schiff entdeckt hatte, auf einer möglichst geraden Linie landeinwärts. Dort, wo die niedrigen Büsche begannen, saß eine stumme Riesenschildkröte. Sie hatte Kopf und Beine eingezogen und schien zu schlafen.

»Vielleicht ist das ein Zeichen«, meinte José mit einem nervösen Lachen. »Sie bewacht den Anfang des Weges.«

Marit kniete sich hin und sah sich die Schildkröte genauer an. »Der Panzer ist leer«, sagte sie. »Diese Schildkröte ist seit Jahren tot. Oder seit Jahrzehnten. Vielleicht ist es tatsächlich ein Zeichen.«

José hielt sich die Karte dicht vor die Augen. »Hier steht eine Zahl. Zweihundert. Nach der Zahl biegt der Weg links ab. Zweihundert Meter?«

»Wer auch immer die Karte gemalt hat«, sagte Marit. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit einem Maßband unterwegs war. Versuchen wir es mit zweihundert Schritten.«

Sie kam sich lächerlich vor, während sie sich laut zählend mit José durchs Gebüsch kämpfte. Bunte Vögel flogen kreischend auf, gelbe Landleguane verschwanden raschelnd im Unterholz.

»Sie müssen uns für völlig verrückt halten«, murmelte Marit. »Hundertneunundneunzig … zweihundert. Hier müssen wir abbiegen. Ist hier irgendetwas? Etwas, das die Abbiegung kennzeichnet?

Sie kniff die Augen zusammen und sah sich um. Zweihundert Schritte waren nicht das Gleiche wie zweihundert Schritte. Sie konnten sich in der Schrittlänge geirrt haben. Oder ein wenig von der Richtung abgewichen sein …

»Da!«, sagte José. Marit folgte seinem Blick.

Ein Stück entfernt lag ein weiterer Schildkrötenpanzer. Und sie brauchte sich nicht davorzuknien, um zu wissen, dass er leer war. Sie bogen bei dem Panzer nach links ab, der Boden stieg jetzt an und eine weitere winzig hingekritzelte Zahl schickte sie mehrere Hundert Schritte aufwärts. Dort gab es noch einen Panzer, noch eine Zahl … und endlich führte die Karte sie zwischen glatten, abschüssigen Felsen hinauf. Der Weg mit seinen Biegungen ergab einen Sinn, zur Rechten und zur Linken hätte es keine Möglichkeit gegeben weiterzukommen.

»Jemand hat sich eine Menge Mühe gemacht, diesen Weg zu kennzeichnen«, flüsterte José. »Aber es ist keine besonders unauffällige Kennzeichnung.«

»Nein«, sagte Marit nachdenklich. »Und keine besonders nette. Er hat eine Menge Schildkröten getötet.«

Sie wanderten schweigend von Panzer zu Panzer, es war, als besuchte man einen Schildkrötenfriedhof, weit verteilt über die Insel. Sie wanderten lange, lange. Der Wald umschloss sie jetzt von allen Seiten mit seinen dichten grünen Mauern, Lianen woben sich ins Unterholz und große weiße und violette Blüten verströmten ihren Duft in schwindelnder Höhe. Die Sonne brannte nicht mehr auf sie herab, doch die Luft stand still und feuchtwarm zwischen den Stämmen. Marit sah auf ihre nackten Füße, die Josés Füßen durchs Unterholz folgten, weiter und weiter … und schließlich, nach einer Ewigkeit, blieben diese Füße stehen.

»Sieh nur!«, sagte José. »Hier sind auf der Karte zwei Kringel. Ich dachte, es wären die Nullen einer Zahl. Aber es sind keine Nullen.«

Marit hob den Kopf: Zur Linken des Weges klafften zwei annähernd runde schwarze Löcher im Fels.

»Höhlen«, sagte José. »Piratenhöhlen.«

Sie nickte. Ihre Augen vermochten das schwarze Dunkel in den Höhlen nicht zu durchdringen. Ein muffiger, dumpfer Geruch strömte ihnen von dort entgegen, der Geruch von Erde und Kälte und Vergangenem.

»Ein guter Unterschlupf«, sagte José. »Man hätte ein Dach über dem Kopf. Und schau, da steht ein Guavenbaum.«

Marit nahm die runde grüne Frucht, die er ihr reichte: eine Guave. Sie hatte noch nie eine Guave gegessen. Die dunkelgrüne Kugel verströmte einen seltsam heimeligen Geruch nach Gallseife und Kiefernwald. Marit biss hinein. Sie schmeckte auch nach Gallseife und Kiefernwald. Sie aß sie dennoch, dankbar für die wenige Flüssigkeit in ihrem festen grünen Fleisch. Und dann entdeckte sie eine Nische in der Wand der ersten Höhle, mit grobem Werkzeug vor langer, langer Zeit behauen: eine kühle steinerne Bank.