»Nur«, erwiderte Ravic.
»Dachte ich mir.« Haakes Gesicht atmete Zufriedenheit. Dann machte er eine leichte Verbeugung über den Tisch, und es schien, als klappte er dabei unter dem Tisch die Hacken zusammen. »Übrigens — gestatten — von Haake.«
Ravic wiederholte die Zeremonie. »Horn.« Es war eines seiner früheren Pseudonyme. »Von Horn?« fragte Haake. »Ja.«
Haake nickte. Er wurde vertraulicher. Er hatte einen Mann seiner eigenen Klasse getroffen. »Sie kennen Paris sicher gut, wie?«
»Ziemlich.«
»Ich meine: nicht die Museen.« Haake grinste weltmännisch.
»Ich weiß, was Sie meinen.«
Der arische Herrenmensch möchte wahrscheinlich sumpfen gehen und kennt sich nicht aus, dachte Ravic. Wenn er ihn irgendwo hinkriegen könnte, in eine abgelegene Ecke, eine einsame Kneipe, eine verlorene Hurenbude — er überlegte rasch. Irgendwohin, wo er nicht gestört und gehindert werden könnte.
»Hier gibt es allerlei, wie?« fragte Haake.
»Sind Sie noch nicht lange in Paris?«
»Ich komme alle zwei Wochen für zwei oder drei Tage herüber. Art von Kontrolle. Ziemlich wichtig. Wir haben im letzten Jahr hier allerlei aufgebaut. Klappt fabelhaft. Kann nicht darüber reden, aber...« Haake lachte, »... hier kann man fast alles kaufen. Eine korrupte Bande. Wir wissen beinahe alles, was wir wollen. Brauchen nicht einmal danach suchen. Sie bringen es selbst.Vaterlandsverrat als eine Art von Patriotismus. Folge des Parteisystems. Jede Partei verrät die andere und das Land, um für sich zu profitieren. Unser Vorteil. Wir haben hier eine Menge Gesinnungsgenossen. In den einflußreichen Kreisen.« Er hob sein Glas, examinierte es, fand es leer und stellte es wieder zurück. »Sie rüsten hier nicht einmal. Glauben, daß wir nichts von ihnen verlangen werden, wenn sie nicht gerüstet sind. Wenn Sie die Ziffern ihrer Flugzeuge und Tanks wüßten... Sie würden sich totlachen über diese Selbstmordkandidaten.«
Ravic hörte ihm zu. Er war äußerst konzentriert, und trotzdem schwamm alles um ihn herum, wie ein Traum gerade vor dem Erwachen. Die Tische, die Kellner, der süße, abendliche Aufruhr des Lebens, die gleitenden Autoreihen, der Mond über den Häusern, die bunten Lichtreklamen an den Häuserfronten — und der redselige, vielfache Mörder ihm gegenüber, der sein Leben zerstört hatte.
Zwei Frauen in knappen Tailormade-Kostümen kamen vorüber. Sie lächelten Ravic zu. Es waren Yvette und Marthe aus der Osiris. Sie hatten ihren freien Tag.
»Schick, Donnerwetter«, sagte Haake.
Eine Seitenstraße, dachte Ravic. Eine schmale, leere Seitenstraße — wenn ich ihn dahin bekommen könnte. Oder ins Bois. »Das sind zwei Damen, die von der Liebe leben«, sagte er.
Haake sah ihnen nach. »Sehen gut aus. Sie wissen sicher ziemlich gut darüber Bescheid hier, wie?« Er bestellte einen zweiten Fine. »Darf ich Sie zu einem einladen?«
»Danke, ich will lieber bei diesem bleiben.«
»Es soll hier ja fabelhafte Buden geben. Tolle Plätze mit Vorführungen und so was.« Haakes Augen glitzerten. Sie glitzerten wie damals, vor Jahren, im kahlen Licht des Gestapokellers.
Ich darf nicht daran denken, dachte Ravic. Nicht jetzt. »Waren Sie nie in einer?« fragte er.
»Ich war in einigen. Studienhalber, natürlich. Mal sehen, wie weit ein Volk sinken kann. Aber sicher nicht in den richtigen. Ich muß natürlich vorsichtig sein. Könnte falsch ausgelegt werden.«
Ravic nickte. »Davor brauchen Sie keine Sorge zu haben. Es gibt Plätze, wohin nie ein Tourist kommt.«
»Kennen Sie sich da aus?«
»Natürlich. Gut sogar.«
Haake trank seinen zweiten Fine. Er wurde vertraulicher. Die Hemmungen, die er in Deutschland gehabt hätte, fielen fort. Ravic spürte, daß er vollkommen ahnungslos war. »Ich hatte gerade vor, heute ein bißchen herumzugehen«, sagte er zu Haake.
»Wirklich?«
»Ja. Ich mache das ab und zu. Man soll alles kennen, was man kennenlernen kann.«
»Richtig! Durchaus richtig!«
Haake sah ihn einen Augenblick starr an. Betrunken machen, dachte Ravic.Wenn es nicht anders geht, betrunken machen und irgendwohin schleppen.
Haakes Ausdruck hatte sich geändert. Er war nicht angetrunken; er hatte nur nachgedacht. »Schade«, sagte er schließlich. »Ich hätte gern mitgemacht.«
Ravic erwiderte nichts. Er wollte alles vermeiden, was Haake mißtrauisch machen konnte.
»Ich muß heute nacht zurück nach Berlin.« Haake sah auf die Uhr. »In anderthalb Stunden.«
Ravic saß völlig ruhig. Ich muß mitgehen, dachte er. Sicher wohnt er in einem Hotel. Nicht privat. Ich muß mitgehen in sein Zimmer und ihn da erwischen.
»Ich warte hier auf zwei Bekannte«, sagte Haake. »Müssen gleich kommen. Sie fahren mit mir. Meine Sachen sind schon am Bahnhof. Wir gehen gleich von hier aus zum Zug.«
Aus, dachte Ravic. Warum hab’ ich keinen Revolver bei mir? Warum habe ich Idiot in den letzten Monaten geglaubt, damals das hier sei doch eine Täuschung gewesen? Ich könnte ihn auf der Straße erschießen und versuchen, durch den Untergrundeingang zu entkommen.
»Schade«, sagte Haake. »Aber vielleicht können wir es das nächstemal machen. Ich bin in zwei Wochen wieder hier.«
Ravic atmete wieder.
»Gut«, sagte er. »Wo wohnen Sie? Ich könnte Sie dann ja mal anrufen.«
»Im ›Prince de Galles‹. Gleich drüben an der Straße.« Haake zog sein Notizbuch hervor und schrieb die Adresse ein. Ravic sah auf den zierlichen Band in rotem, biegsamem Juchtenleder. Der Bleistift war schmal und aus Gold. Was mag darin stehen? dachte er. Informationen wahrscheinlich, die zu Tortur und Tod führen. Haake steckte das Notizbuch ein. »Schicke Frau, mit der Sie vorhin sprachen«, sagte er. Ravic besann sich eine Sekunde. »Ach so — ja, sehr.« »Film?« »So was Ähnliches.« »Gute Bekannte?« »Gerade das.« Haake sah versonnen vor sich hin. »Das ist das Schwierige hier — jemand Netten kennenzulernen. Man hat zu wenig Zeit und kennt nicht die richtigen Gelegenheiten...«
»Das läßt sich machen«, sagte Ravic.
»Wirklich? Sie sind nicht interessiert?«
»Woran?«
Haake lachte verlegen. »Zum Beispiel an der Dame, mit der Sie sprachen.« »Nicht im geringsten.« »Donnerwetter, das wäre nicht schlecht! Ist sie Französin?« »Italienerin, glaube ich. Und noch ein paar andere Rassen dazwischen gemischt.«
Haake grinste. »Nicht schlecht. Zu Hause gibt’s das natürlich nicht. Aber hier ist man ja inkognito, gewissermaßen.«
»Sind Sie?« fragte Ravic.
Haake stutzte eine Sekunde. Dann lächelte er. »Verstehe! Für die Eingeweihten natürlich nicht — aber sonst, streng. Übrigens, da fällt mir ein — haben Sie irgendwelche Beziehungen zu Refugiés?«
»Wenig«, sagte Ravic achtsam.
»Schade! Wir würden gern so gewisse... Sie verstehen, Informationen ..., wir zahlen sogar dafür...« Haake hob die Hand. »Kommt bei Ihnen selbstverständlich nicht in Frage! Trotzdem, die kleinste Nachricht...«
Ravic bemerkte, daß Haake ihn weiter ansah: »Möglich«, sagte er. »Man weiß ja nie... kann immer mal was vorkommen.«
Haake rückte seinen Stuhl näher. »Eine meiner Aufgaben, wissen Sie. Verbindungen von drinnen nach draußen. Schwer, manchmal ’ranzukommen. Wir haben gute Leute hier.« Er hob verständnisvoll die Augenbrauen. »Unter uns ist das natürlich anders. Ehrensache. Vaterland schließlich.«
»Selbstverständlich.«
Haake blickte auf. »Da kommen meine Bekannten.« Er legte ein paar Scheine auf den Porzellanteller, nachdem er die Summe addiert hatte. »Bequem, daß immer gleich die Preise auf den Tellern stehen. Könnte man bei uns auch einführen.« Er stand auf und streckte die Hand aus. »Auf Wiedersehen, Herr von Horn. Hat mich sehr gefreut. Ich rufe Sie in vierzehn Tagen an.« Er lächelte. »Natürlich Diskretion.«
»Ohne Frage. Vergessen Sie es nicht.«
»Ich vergesse nichts. Kein Gesicht und keine Verabredung. Kann ich mir nicht leisten. Mein Beruf.«
Ravic stand vor ihm. Er hatte das Gefühl, als müsse er seinen Arm durch eine Betonwand durchstoßen. Dann fühlte er die Hand Haakes in seiner. Sie war klein und überraschend weich.