Durant beendete die Anästhesie.
Er sah Ravic nicht an.
Er wartete, bis die Schwestern den Wagen hinausschoben. Dann folgte er ihm, ohne etwas zu sagen.
»Morgen wird er fünftausend Frank mehr für die Operation verlangen«, sagte Ravic zu Veber. »Und ihr erklären, daß er ihr das Leben gerettet hat.«
»Es sieht im Augenblick nicht so aus.«
»Ein Tag ist eine lange Zeit. Und Reue ist kurz. Besonders, wenn sie sich in Geschäft umwandeln kann.«
Ravic wusch sich. Durch die Scheiben neben dem weißen Waschstand sah er ein Fensterbrett gegenüber, auf dem rote Geranien blühten. Eine graue Katze saß unter den Blütendolden.
Er telefonierte nachts um ein Uhr zu Durants Klinik. Er telefonierte von der Scheherazade aus. Die Nachtschwester erklärte, die Frau schliefe. Sie sei vor zwei Stunden unruhig geworden. Veber sei dagewesen und habe ihr ein leichtes Sedativ gegeben. Es schien alles in Ordnung.
Ravic öffnete die Telefonzelle. Ein starker Geruch von Parfüm schlug ihm entgegen. Eine Frau mit gebleichten, gelben Haaren rauschte stolz und herausfordernd in die Damentoilette. Das Haar der Frau in der Klinik war echtes Blond gewesen. Rötliches, leuchtendes Blond! Er zündete sich eine Zigarette an und ging in die Scheherazade zurück. Der ewige russische Chor sang dort die ewigen »Schwarzen Augen«; er sang sie seit zwanzig Jahren über die Welt. Tragik, zwanzig Jahre lang, hatte die Gefahr der Lächerlichkeit, dachte Ravic. Tragik mußte kurz sein.
»Entschuldigen Sie«, sagte er zu Kate Hegström. »Aber ich hatte zu telefonieren.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Bis jetzt ja.«
Wozu fragte sie das? dachte er irritiert. Bei ihr selbst ist doch wahrhaftig nicht alles in Ordnung. »Haben Sie, was Sie wollen, hier?« Er zeigte auf die Karaffe mit Wodka.
»Nein.«
»Nein?«
Kate Hegström schüttelte den Kopf.
»Das ist der Sommer. Im Sommer soll man nicht in Nachtklubs hocken. Im Sommer soll man auf der Terrasse sitzen. In der Nähe eines noch so schwindsüchtigen Baumes, mit einem Eisengitter darum meinetwegen.«
Er sah auf und blickte gerade in die Augen Joans. Sie mußte in der Zeit gekommen sein, während er telefoniert hatte. Vorher war sie nicht dagewesen. Sie saß in der gegenüberliegenden Ecke.
»Wollen Sie anderswohin gehen?« fragte er Kate Hegström.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Sie? Zu irgendeinem schwindsüchtigen Baum?«
»Da sind die Wodkas meistens auch schwindsüchtig. Dieser hier ist gut.«
Der Chor hörte auf zu singen, und die Musik wechselte. Das Orchester begann einen Blues. Joan erhob sich und ging zur Tanzfläche hinüber. Ravic konnte sie nicht genau sehen. Auch nicht, mit wem sie war. Nur wenn der Scheinwerfer die Fläche blaufahl streifte, tauchte sie jedesmal ins Licht und verschwand dann wieder im Halbdunkel.
»Haben Sie heute operiert?« fragte Kate Hegström.
»Ja...«
»Wie ist das, wenn man dann abends in einem Nachtklub sitzt? Ist das, wie wenn man aus einer Schlacht in eine Stadt zurückkommt? Oder aus einer Krankheit ins Leben?«
»Nicht immer. Manchmal ist es auch nur einfach leer.«
Die Augen Joans waren durchsichtig in dem fahlen Streifen Licht. Sie blickte zu ihm hinüber. Es ist nicht das Herz, das sich rührt, dachte Ravic. Es ist der Magen. Ein Ruck im Solarplexus. Darüber sind Tausende Gedichte geschrieben worden. Und der Ruck kommt nicht von dir dort, leicht schwitzendes, hübsches, tanzendes Stück Fleisch — er kommt aus den Dunkelkammern meines Gehirns —, er ist nur ein zufälliger, loser Kontakt, daß er stärker kommt, wenn du dort durch den Streifen Licht gleitest.
»Ist das nicht die Frau, die hier einmal sang?« fragte Kate Hegström.
»Ja.«
»Singt sie nicht mehr hier?«
»Ich glaube nicht.«
»Sie ist schön.«
»So?«
»Ja. Sie ist sogar mehr als schön. Das ist ein Gesicht, in dem offen das Leben steht.« »Möglich.« Kate Hegström betrachtete Ravic aus schmalen Augenwinkeln. Sie lächelte. Es war ein Lächeln, das in Tränen enden konnte. »Geben Sie mir noch einen Wodka und lassen Sie uns gehen«, sagte sie.
Ravic fühlte Joans Augen, als er aufstand. Er nahm Kates Arm. Es war nicht notwendig; sie konnte gut allein gehen; aber er fand, es könnte Joan nicht schaden, es zu sehen.
»Wollen Sie mir einen Gefallen tun?« fragte Kate Hegström, als sie in ihrem Zimmer im Lancaster waren. »Sicher. Wenn ich es kann.« »Wollen Sie mit mir zum Montfort-Ball gehen?« »Was ist das, Kate? Habe nie davon gehört.« Sie setzte sich in einen Sessel. Der Sessel war zu groß für sie. Sie sah zerbrechlich darin aus — wie eine chinesische Tanzfigur. Die Haut über ihren Augen spannte sich mehr als früher. »Der Montfort-Ball ist das gesellschaftliche Ereignis des Sommers in Paris«, sagte sie. »Er ist nächsten Freitag im Haus und im Garten von Louis Montfort. Das sagt Ihnen nichts, wie?«
»Nichts!«
»Wollen Sie mit mir hingehen?«
»Kann ich das denn?«
»Ich besorge Ihnen eine Einladung.«
Ravic sah sie an. »Warum, Kate?«
»Ich möchte gehen. Ich möchte nicht allein gehen.«
»Müßten Sie das sonst?«
»Ich würde es. Ich will nicht mit einem dieser Leute von früher gehen. Ich kann das nicht mehr aushalten. Verstehen Sie das?«
»Ja.«
»Es ist das schönste und letzte Gartenfest in Paris. Ich war die letzten vier Jahre jedesmal da. Wollen Sie mir den Gefallen tun?«
Ravic wußte, weshalb sie mit ihm gehen wollte. Sie würde sich sicherer fühlen.
Er konnte es nicht ablehnen.
»Gut, Kate«, sagte er. »Sie brauchen mir keine besondere Einladung schicken zu lassen. Wenn man weiß, daß Sie mit jemand kommen, so wird das genügen, nehme ich an.«
Sie nickte. »Natürlich. Danke, Ravic. Ich rufe Sophie Montfort sofort an.«
Er stand auf. »Ich hole Sie dann Freitag ab. Was werden Sie anziehen?«
Sie sah von unten her zu ihm auf. Das Licht warf einen scharfen Reflex auf ihr eng anliegendes Haar. Ein Eidechsenkopf, dachte Ravic. Die schmale, trockene und harte Eleganz fleischloser Vollkommenheit, die die Gesundheit nie erreichen kann. »Das ist das, was ich Ihnen bis jetzt nicht gesagt habe«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Es ist ein Kostümfest, Ravic. Ein Gartenfest am Hofe Louis XIV.«
»Großer Gott!« Ravic setzte sich wieder.
Kate Hegström lachte. Es war plötzlich ein ganz freies, kindliches Lachen. »Dort steht guter, alter Kognak«, sagte sie. »Brauchen Sie einen?«
Ravic schüttelte den Kopf. »Was die Leute sich alles ausdenken können!«
»Es ist jedes Jahr so etwas Ähnliches.«
»Das heißt also, ich müßte...«
»Ich werde für alles sorgen«, unterbrach sie ihn rasch. »Sie brauchen sich um nichts zu kümmern. Ich besorge das Kostüm. Irgend etwas Einfaches. Sie brauchen es nicht einmal zu probieren. Geben Sie mir nur Ihre Maße.«
»Ich glaube, ich brauche doch einen Kognak«, sagte Ravic. Kate Hegström schob ihm die Flasche zu. »Sagen Sie jetzt nicht nein.«
Er trank den Kognak. Zwölf Tage, dachte er. Zwölf Tage, bis Haake wieder in Paris sein wird. Zwölf Tage, die herumgebracht werden müssen. Zwölf Tage — sein Leben hatte nicht mehr als sie, und er konnte nicht darüber hinaus denken. Zwölf Tage — dahinter gähnte ein Abgrund. Es war gleich, wie er die Zeit hinter sich brachte. Ein Kostümfest — was war noch grotesk in diesen schwimmenden zwei Wochen? »Gut, Kate.«
Er ging noch einmal zu Durants Klinik. Die Frau mit den rotgoldenen Haaren schlief. Dicke Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Das Gesicht hatte Farbe, und der Mund war leicht geöffnet. »Fieber?« fragte er die Schwester.
»Siebenunddreißig acht.«
»Gut.« Er beugte sich dichter über das feuchte Gesicht. Er fühlte den Atem. Es war kein Äther mehr darin. Es war ein Atem, frisch wie Thymian.— Thymian, erinnerte er sich, eine Bergwiese im Schwarzwald, kriechend, atemlos durch die heiße Sonne, irgendwo unten die Rufe der Verfolger — und der betäubende Duft von Thymian. Sonderbar, wie man alles vergaß, nur die Gerüche nicht. Thymian — noch in zwanzig Jahren würde sein Geruch das Bild des Tages der Flucht in den Schwarzwald emporreißen aus den verstaubten Falten der Erinnerung, als wäre es gestern gewesen. Nicht in zwanzig Jahren, dachte er — in zwölf Tagen.