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Sie kam nicht. Auch nicht in der nächsten Nacht.

21

Eugenie steckte ihren Kopf in das Zimmer, in dem der Mann ohne Magen lag. »Telefon, Herr Ravic.« »Wer ist dran?« »Ich weiß es nicht. Ich habe nicht gefragt. Die Telefonistin sagte es mir draußen.«

Ravic kannte Joans Stimme im Augenblick nicht. Sie war verschleiert und sehr weit. »Joan«, sagte er. »Wo bist du?«

Sie klang, als wäre sie außerhalb von Paris. Er erwartete fast, daß sie irgendeinen Ort an der Riviera sagen würde. Sie hatte ihn früher nie in der Klinik angerufen. »Ich bin in meiner Wohnung«, sagte sie.

»Hier in Paris?«

»Natürlich. Wo sonst?«

»Bist du krank?«

»Nein. Warum?«

»Weil du in der Klinik anrufst.«

»Ich habe schon im Hotel angerufen. Du warst nicht mehr da. Da habe ich in der Klinik angerufen.« »Ist etwas los?« »Nein. Was soll los sein? Ich wollte wissen, wie es dir geht.«

Ihre Stimme war jetzt klarer. Ravic zog eine Zigarette und einen Karton mit Streichhölzern hervor. Er klemmte das Oberteil unter seinen Ellbogen, riß ein Streichholz ab und zündete es an.

»Es ist die Klinik, Joan«, sagte er. »Man erwartet da immer Unglücksfälle und Krankheiten.«

»Ich bin nicht krank. Ich bin im Bett, aber ich bin nicht krank.«

»Gut.« Ravic schob die Streichhölzer auf dem weißen Wachstuch des Tisches hin und her. Er wartete auf das, was kommen würde.

Joan wartete auch. Er hörte sie atmen. Sie wollte, daß er beginnen sollte. Es war einfacher für sie.

»Joan«, sagte er. »Ich kann nicht lange am Telefon bleiben. Ich habe einen Verband offen und muß zurück.«

Sie schwieg einen Augenblick. »Warum höre ich nichts von dir?« sagte sie dann.

»Du hörst nichts von mir, weil ich weder deine Telefonnummer habe noch weiß, wo du wohnst.«

»Aber das habe ich dir doch gesagt.«

»Nein, Joan.«

»Doch. Ich habe es dir gesagt.« Sie war jetzt auf sicherem Boden. »Bestimmt. Ich weiß es. Du hast es nur wieder vergessen.«

»Gut. Ich habe es vergessen. Sage es mir noch einmal. Ich habe einen Bleistift hier.«

Sie gab ihm ihre Adresse und Telefonnummer. »Ich bin überzeugt, daß ich es dir gesagt habe, Ravic. Ganz bestimmt.«

»Schön, Joan. Ich muß zurück. Wollen wir heute abend zusammen essen?«

Sie schwieg einen Moment. »Warum kommst du mich nicht einmal besuchen?« fragte sie dann.

»Gut. Das kann ich auch. Heute abend. Um acht?«

»Warum kommst du nicht jetzt?«

»Jetzt muß ich arbeiten.«

»Wie lange?«

»Ungefähr noch eine Stunde.«

»Komm dann.«

Ach so, abends hast du keine Zeit, dachte er und fragte: »Warum nicht abends?«

»Ravic«, sagte sie. »Manchmal weißt du die einfachsten Sachen nicht. Weil ich gern möchte, daß du jetzt kommst. Ich will nicht warten bis abends. Weshalb würde ich sonst wohl um diese Zeit in der Klinik anrufen?«

»Gut. Ich komme, wenn ich hier fertig bin.« Er faltete nachdenklich den Zettel zusammen und ging zurück.

Es war ein Haus an der Ecke der Rue Pascal. Joan wohnte im obersten Stock. Sie öffnete die Tür. »Komm«, sagte sie. »Gut, daß du da bist! Komm ’rein.«

Sie trug ein einfaches schwarzes Dressing-gown, das so geschnitten war wie das eines Mannes. Es war eine ihrer Eigenschaften, die Ravic gern an ihr hatte: sie trug nie irgendwelche wolkigen Tüll- oder Seidenangelegenheiten. Ihr Gesicht war blasser als gewöhnlich und etwas erregt. »Komm«, sagte sie. »Ich habe auf dich gewartet. Du sollst doch sehen, wie ich wohne.«

Sie ging ihm voran. Ravic lächelte. Sie war geschickt. Sie brach im voraus jede Frage ab. Er blickte auf die schönen, geraden Schultern. Das Licht fiel auf ihr Haar. Er liebte sie einen atemlosen Augenblick sehr.

Sie führte ihn in einen großen Raum. Es war ein Studio, das voll im Mittagslicht lag. Ein hohes, breites Fenster ging zu den Gärten zwischen der Avenue Raphael und der Avenue Proudhon hinaus. Nach rechts konnte man bis zur Porte de la Muette sehen. Dahinter schimmerte golden und grün ein Stück des Bois.

Der Raum war im halbmodernen Geschmack eingerichtet. Eine große Couch mit zu blauem Bezug; ein paar Sessel, die bequemer aussahen als sie waren; zu niedrige Tische; ein Gummibaum; ein amerikanisches Grammophon und einer von Joans Koffern in der Ecke. Es störte nichts; aber Ravic hatte trotzdem nicht viel dafür übrig. Entweder ganz gut oder ganz scheußlich — halbe Sachen sagten ihm nichts. Und Gummibäume konnte er nicht ausstehen.

Er merkte, daß Joan ihn beobachtete. Sie war nicht ganz sicher, wie er es nehmen würde; aber sie war sicher genug gewesen, es zu riskieren.

»Schön«, sagte er. »Groß und schön.«

Er hob den Deckel des Grammophons auf. Es war ein guter Truhenapparat mit einem Mechanismus, der automatisch die Platten wechselte. Auf einem Tisch daneben lag ein Haufen Platten, Joan nahm einige und legte sie auf.

»Weißt du, wie er funktioniert?«

Er wußte es. »Nein«, sagte er.

Sie drehte einen Knopf. »Er ist wunderbar. Spielt für Stunden. Man braucht nicht aufzustehen und Platten zu wechseln und umzuschalten. Man kann daliegen und zuhören und sehen, wie es draußen dunkler wird, und träumen.«

Der Apparat war ausgezeichnet. Ravic kannte die Marke und wußte, daß er ungefähr zwanzigtausend Frank kostete. Er füllte den Raum mit weicher, schwebender Musik — mit den sentimentalen Liedern von Paris. »J’attendrai«...

Joan stand vorgebeugt und lauschte. »Gefällt es dir?« fragte sie.

Ravic nickte. Er sah nicht auf den Apparat. Er sah auf Joan. Er sah auf ihr Gesicht, das entzückt war und hingegeben an die Musik. Wie leicht das bei ihr war — und wie er sie geliebt hatte wegen dieser Leichtigkeit, die er nicht hatte! Vorbei, dachte er ohne Schmerz, mit einem Gefühl wie jemand, der Italien verläßt und zurückgeht in den nebligen Norden.

Sie richtete sich auf und lächelte. »Komm — du hast das Schlafzimmer noch nicht gesehen.«

»Muß ich es sehen?«

Sie sah ihn eine Sekunde forschend an. »Willst du es nicht sehen? Warum nicht?«

»Ja, warum nicht?« sagte er.

»Natürlich.«

Sie streifte sein Gesicht und küßte ihn, und er wußte, weshalb. »Komm«, sagte sie und nahm seinen Arm.

Das Schlafzimmer war französisch eingerichtet. Das Bett groß, im Stil Louis XVI. und künstlich antiquiert — ein nierenförmiger Toilettentisch der gleichen Art — ein falscher Barockspiegel — ein moderner Aubussonteppich — Stühle, Sessel, alles im Stile eines billigeren Filmsets. Dazwischen eine sehr schöne, gemalte florentinische Truhe aus dem sechzehnten Jahrhundert, die überhaupt nicht hineinpaßte und wirkte wie eine Prinzissin unter reich gewordenen Portierskindern. Sie war achtlos in die Ecke geschoben. Ein Hut mit Veilchen und ein paar silberne Schuhe lagen auf ihrem kostbaren Deckel.

Das Bett war offen und nicht gemacht. Ravic konnte sehen, wo Joan gelegen hatte. Eine Anzahl Parfümflaschen stand auf dem Toilettentisch. Einer der eingebauten Schränke war geöffnet. Eine Anzahl Kleider hing darin. Mehr, als sie früher gehabt hatte. Joan hatte Ravics Arm nicht losgelassen. Sie lehnte sich an ihn. »Gefällt es dir?«

»Gut. Paßt sehr gut zu dir.«

Sie nickte. Er fühlte ihren Arm und ihre Brust, und ohne zu denken, zog er sie näher an sich. Sie ließ es geschehen und gab nach. Ihre Schultern berührten seine Schultern. Ihr Gesicht war ruhig; es war nichts mehr von der leichten Erregung des Anfangs darin. Es war sicher und klar, und es schien Ravic, als wäre mehr als unterdrückte Befriedigung darin — ein fast unsichtbarer, ferner Schatten von Triumph.

Sonderbar, wie gut ihnen Niederträchtigkeiten bekommen, dachte er. Ich soll hier zu einer Art von Zweiter-Klasse-Gigolo gemacht werden und bekomme mit naiver Unverschämtheit sogar die Bude gezeigt, die ihr Liebhaber ihr eingerichtet hat — und dabei sieht sie gerade jetzt aus wie die Nike von Samothrake.