»Oder was?« fragte sie.
Eine Biene summte vor dem offenen Fenster. Ravic folgte ihr mit den Augen.Wahrscheinlich war sie von den Nelken des Emigranten Wiesenhoff angelockt worden und suchte nun nach andern Blumen. Sie flog herein und ließ sich auf einem gebrauchten Calvadosglas nieder, das auf dem Fensterbrett stand.
»Hast du mich vermißt?« fragte Joan.
»Ja.« — »Sehr?«
»Ja.«
Die Biene flog auf. Sie zirkelte einige Male um das Glas. Dann summte sie durch das Fenster zurück in die Sonne und zu den Nelken des Emigranten Wiesenhoff.
Ravic lag neben Joan. Sommer, dachte er. Sommer, Wiesen am Morgen, das Haar mit dem Geruch nach Heu und die Haut wie Klee — das dankbare Blut, das lautlos strömte wie ein Bach und sich hob und wunschlos die sandigen Stellen überflutete, eine glatte Fläche, in der sich hoch ein Gesicht spiegelte, in dem es lächelte. Nichts war mehr trocken und tot, einen hellen Augenblick lang, Birken und Pappeln, Stille und das leise Murmeln, das wie ein Echo aus fernen verlorenen Himmeln kam und in den Adern klopfte.
»Ich möchte hierbleiben«, sagte Joan an seiner Schulter.
»Bleib hier. Laß uns schlafen.Wir haben wenig geschlafen.«
»Ich kann nicht. Ich muß fort.«
»Du kannst in deinem Abendkleid jetzt nirgendwo hingehen.«
»Ich habe ein anderes Kleid mitgebracht.«
»Wo?«
»Ich hatte es unter meinem Mantel. Schuhe auch. Es muß unter meinen Sachen liegen. Ich habe alles bei mir.«
Sie sagte nicht, wohin sie gehen mußte. Auch nicht warum. Und Ravic fragte nicht.
Die Biene erschien wieder. Sie summte nicht mehr ziellos umher. Sie flog geradezu auf das Glas zu und setzte sich auf den Rand. Sie schien etwas von Calvados zu verstehen. Oder von Obstzucker.
»Warst du so sicher, daß du hierbleiben würdest?«
»Ja«, sagte Joan, ohne sich zu rühren.
Rolande brachte ein Tablett mit Flaschen und Gläsern.
»Keinen Schnaps«, sagte Ravic.
»Du willst keinen Wodka? Es ist Subrowka.«
»Heute nicht. Du kannst mir Kaffee geben. Starken Kaffee.«
»Gut.«
Er packte das Mikroskop beiseite. Dann zündete er sich eine Zigarette an und trat ans Fenster. Die Platanen draußen hatten frisches, volles Laub. Das letztemal, als er hier war, waren sie noch kahl gewesen.
Rolande brachte den Kaffee. »Ihr habt mehr Mädchen als früher«, sagte Ravic.
»Zwanzig mehr.«
»Ist das Geschäft so gut? Jetzt, im Juni?«
Rolande setzte sich zu ihm. »Das Geschäft ist so gut, daß wir es nicht verstehen. Die Leute scheinen verrückt geworden zu sein. Es geht schon nachmittags los. Aber abends erst...«
»Vielleicht ist es das Wetter.«
»Es ist nicht das Wetter. Ich weiß, wie es sonst im Mai und Juni ist. Dies hier ist eine Art von Verrücktheit. Du glaubst nicht, wie die Bar geht. Kannst du dir vorstellen, daß Franzosen bei uns Champagner bestellen?«
»Nein.«
»Ausländer, gut. Dafür haben wir sie ja. Aber Franzosen! Sogar Pariser! Champagner! Und zahlen ihn! Statt Dubonnet oder Bier oder Fine. Kannst du das glauben?«
»Nur wenn ich es sehe.«
Rolande schenkte ihm Kaffee ein. »Und der Betrieb«, sagte sie. »Zum Taubwerden. Du wirst es ja sehen, wenn du herunter kommst. Um diese Zeit schon! Nicht mehr die vorsichtigen Fachleute, die auf deine Visiten warten. Eine ganze Bande hockt da schon! Was ist nur in die Leute gefahren, Ravic?«
Ravic hob die Schultern. »Es gibt da eine Geschichte von einem sinkenden Ozeandampfer.«
»Aber bei uns sinkt doch nichts, Ravic! Das Geschäft ist glänzend.«
Die Tür öffnete sich. Ninette, einundzwanzig Jahre alt, schmal wie ein Knabe, in ihren kurzen rosa Seidenhosen, trat ein. Sie hatte das Gesicht einer Heiligen und war eine der besten Huren des Etablissements. Im Augenblick trug sie ein Tablett mit Brot, Butter und zwei Töpfen Marmelade vor sich her. »Madame hat gehört, daß der Doktor Kaffee trinkt«, erklärte sie mit heiserer Baßstimme. »Sie schickt hier Marmelade zum Probieren. Selbstgemacht!« Ninette grinste plötzlich. Das Engelsgesicht barst in eine Gaminfratze. Sie schubste das Tablett auf den Tisch und entschwand tänzelnd.
»Da siehst du es«, seufzte Rolande. »Sofort frech! Wissen, daß wir sie brauchen.«
»Richtig«, sagte Ravic. »Wann sonst sollen sie es sein? Was bedeutet diese Marmelade?«
»Madames Stolz. Sie macht sie selbst. Auf ihrem Besitz an der Riviera. Ist wirklich gut. Willst du sie probieren?«
»Ich hasse Marmelade. Besonders, wenn Millionärinnen sie gekocht haben.«
Rolande schraubte die Glasdeckel ab, nahm ein paar Löffel voll Marmelade heraus, strich sie in ein dickes Stück Papier, tat ein Stück Butter und ein paar Scheiben Toast dazu, wickelte alles fest ein und gab es Ravic. »Wirf es nachher weg«, sagte sie. »Tue es ihr zuliebe. Sie kontrolliert nachher, ob du gegessen hast. Letzter Stolz einer alternden Frau ohne Illusionen. Tu es aus Höflichkeit.«
»Gut.« Ravic stand auf und öffnete die Tür. »Ziemlicher Radau«, sagte er. Er hörte von unten Stimmen, Musik, Gelächter und Rufen. »Sind das alles schon Franzosen?«
»Das nicht. Das sind meistens Ausländer.«
»Amerikaner?«
»Nein, das ist das Merkwürdige. Es sind meistens Deutsche. Wir haben noch nie so viele Deutsche hier gehabt.«
»Das ist nicht merkwürdig.«
»Die meisten sprechen sehr gut Französisch. Gar nicht wie Deutsche vor ein paar Jahren.«
»Das habe ich mir gedacht. Sind nicht auch viele Poilus hier? Rekruten und Kolonialsoldaten?«
»Die sind ja immer hier.«
Ravic nickte. »Und die Deutschen geben viel Geld aus, wie?«
Rolande lachte. »Das tun sie. Laden jeden ein, der was trinken will.«
»Speziell Soldaten, denke ich. Dabei hat Deutschland eine Sperrmark, und die Grenzen sind geschlossen. Man kann nur hinaus mit Erlaubnis der Behörden. Und man darf nicht mehr als zehn Mark mitnehmen. Sonderbar, diese lustigen Deutschen mit dem vielen Geld, die so gut Französisch sprechen, wie?«
Rolande zuckte die Achseln. »Von mir aus — solange ihr Geld echt ist...«
Er kam nach acht Uhr nach Hause. »Hat jemand für mich angerufen?« fragte er den Portier. »Nein.«
»Auch nachmittags nicht?« »Nein. Den ganzen Tag nicht.« »War jemand hier und hat nach mir gefragt?« Der Portier schüttelte den Kopf. »Kein Mensch.« Ravic ging die Treppen hinauf. Im ersten Stock hörte er das Ehepaar Goldberg miteinander streiten. Im zweiten Stock schrie ein Kind. Es war der französische Staatsbürger Lucien Silbermann. Ein Jahr und zwei Monate alt. Für seine Eltern, den Kaffeehändler Siegfried Silbermann und seine Frau Nelly geborene Levy aus Frankfurt am Main, war er ein Heiligtum und ein Spekulationsobjekt. Er war in Frankreich geboren, und sie hofften, durch ihn zwei Jahre früher französische Pässe zu bekommen. Lucien hatte mit der Intelligenz der Einjährigen sich daraufh in zum Familientyrann entwickelt. Im dritten Stock dudelte ein Grammophon. Es gehörte dem Refugié Wohlmeier, früher Konzentrationslager Oranienburg, und spielte deutsche Volkslieder. Der Korridor roch nach Kohl und Dämmerung.
Ravic ging in sein Zimmer, um zu lesen. Er hatte irgendwann einige Bände Weltgeschichte gekauft und suchte sie hervor. Es war nicht besonders erheiternd, sie zu lesen. Das einzige, was herauskam, war eine sonderbar deprimierende Genugtuung, daß nichts neu war, was heute passierte. Alles war dutzendemal dagewesen. Die Lügen, die Treubrüche, die Morde, die Bartholomäusnächte, die Korruption durch den Willen zur Macht, die unablässige Kette der Kriege — die Geschichte der Menschheit war mit Blut und Tränen geschrieben, und unter tausend blutbefleckten Statuen der Vergangenheit glänzte nur selten eine, über der das Silber der Güte lag. Die Demagogen, die Betrüger, die Vater- und Freundes-mörder, die nachttrunkenen Egoisten, die fanatischen Propheten, die die Liebe mit dem Schwerte predigten; es war immer dasselbe, und immer wieder waren geduldige Völker da, gegeneinander getrieben in sinnlosem Töten für Kaiser, Religionen und Wahnsinnige — es hatte kein Ende.