Изменить стиль страницы

Ravic fing ihn auf und legte ihn mit Wiesenhoffs Hilfe auf den Fußboden. Er löste die Krawattenschlinge und begann die Untersuchung.

»Ins Kino«, plapperte Ruth Goldberg. »Ins Kino hat er mich geschickt. ›Ruthchen‹, hat er gesagt, ›du hast so wenig Unterhaltung; warum gehst du nicht mal ins Théâtre Courcelles, sie spielen da einen Garbo-Film, die Königin Christine; warum siehst du ihn dir nicht mal an? Nimm einen guten Platz, nimm Fauteuil oder nimm Loge; sieh es dir an, zwei Stunden ’raus aus der Misere ist auch schon was‹, ruhig und freundlich hat er es gesagt und mir die Backen getätschelt, ›und nachher ißt du ein Schokoladen- und Vanilleeis vor der Konditorei am Parc Monceau, tu dir mal was zugute, Ruthchen‹, hat er gesagt, und ich bin gegangen, und als ich zurückgekommen bin, da...«

Ravic stand auf. Ruth Goldberg brach ab. »Er muß es gleich gemacht haben, nachdem Sie gegangen sind«, sagte er.

Sie hielt die Fäuste vor den Mund. »Ist er...«

»Wir werden noch etwas versuchen. Künstliche Atmung zunächst. Verstehen Sie etwas davon?« fragte Ravic Wiesenhoff .

»Nein. Nicht viel. Etwas.«

»Passen Sie auf.«

Ravic nahm die Arme Goldbergs, zog sie zurück bis zum Boden, preßte sie dann vorwärts bis zur Brust, und zurück, und wieder vorwärts. Goldbergs Kehle begann zu rasseln. »Er lebt!« schrie die Frau.

»Nein. Das ist die zusammengedrückte Luft röhre.«

Ravic machte die Bewegung noch ein paarmal vor. »So, probieren Sie es jetzt«, sagte er zu Wiesenhoff .

Wiesenhoff kniete zögernd hinter Goldberg nieder.

»Los«, sagte Ravic ungeduldig. »Nehmen Sie die Handgelenke oder besser die Unterarme.«

Wiesenhoff schwitzte. »Stärker«, sagte Ravic. »Pressen Sie alle Luft aus den Lungen.«

Er wandte sich an die Wirtin. Inzwischen waren mehr Leute ins Zimmer gekommen. Er winkte der Wirtin, herauszukommen. »Er ist tot«, sagte er auf dem Korridor. »Das drinnen ist Unsinn. Ein Rituell, das gemacht werden muß, sonst nichts. Es wäre ein Wunder, wenn es noch irgendwas nützte.«

»Was sollen wir machen?«

»Das Übliche.«

»Rettungsstation? Erste Hilfe? Das heißt zehn Minuten später die Polizei.«

»Die Polizei müssen Sie ohnehin anrufen. Hatten die Goldbergs Papiere?« — »Ja. Gute. Paß und Carte d’Identité.«

»Wiesenhoff ?«

»Aufenthaltserlaubnis. Verlängertes Visum.«

»Gut. Dann sind sie in Ordnung. Sagen Sie beiden, nicht zu erwähnen, daß ich da war. Sie ist nach Hause gekommen, hat ihn gefunden, geschrien, Wiesenhoff hat ihn abgeschnitten und hat künstliche Atmung versucht, bis die Ambulanz kam. Können Sie das?«

Die Wirtin sah ihn mit ihren Vogelaugen an. »Natürlich. Ich werde ohnehin dabeibleiben, wenn die Polizei kommt. Ich werde schon aufpassen.«

»Gut.«

Sie gingen zurück. Wiesenhoff war über Goldberg gebeugt und arbeitete. Es wirkte einen Moment, als machten beide Freiübungen auf dem Boden. Die Wirtin blieb an der Tür stehen. »Mes Dames et Messieurs«, sagte sie. »Ich muß die Rettungsstation anrufen. Der Sanitäter oder Arzt, der von dort mitkommt, wird dann die Polizei sofort benachrichtigen müssen. Sie wird spätestens in einer halben Stunde hier sein. Wer von Ihnen keine Papiere hat, packt besser sofort seine Sachen, zum wenigsten das, was offen herumliegt, bringt es in die Katakombe und bleibt unten. Es ist möglich, daß die Polizei die Zimmer nachsieht oder nach Zeugen fragt.«

Der Raum leerte sich sofort. Die Wirtin nickte Ravic zu, daß sie Ruth Goldberg und Wiesenhoff instruieren würde. Er nahm seine Tasche und die Schere, die neben der abgeschnittenen Krawatte am Boden lagen. Die Krawatte lag so, daß er die Firmenmarke sehen konnte. S. Förder, Berlin. Es war eine Krawatte, die mindestens zehn Mark gekostet hatte. Noch aus Goldbergs guten Zeiten.

Ravic kannte die Firma. Er hatte selbst dort gekauft. Er packte seine Sachen in ein paar Koffer und brachte sie in Morosows Zimmer. Es war nur eine Vorsicht. Die Polizei würde sich wahrscheinlich um nichts kümmern. Aber es war besser — die Erinnerung an Fernand saß Ravic noch zu sehr in den Knochen. Er ging zur Katakombe hinunter.

Eine Anzahl Leute rannte dort aufgeregt hin und her.

Es waren die Emigranten ohne Papiere. Die illegale Brigade. Clarisse, das Serviermädchen, und Jean, der Kellner, dirigierten die Koffer in einen kellerhaften Nebenraum der Katakombe. Die Katakombe selbst war bereits für das Abendessen vorbereitet. Die Tische waren gedeckt, Körbe mit Brot standen umher, und es roch von der Küche her nach Fett und Fisch.

»Zeit genug«, sagte Jean zu den nervösen Emigranten. »Die Polizei ist nicht so eilig.«

Die Emigranten nahmen keine Chance. Sie waren kein Glück gewohnt. Hastig drängten sie mit ihren paar Sachen in den Keller.

Unter ihnen war auch der Spanier Alvarez. Die Wirtin hatte im ganzen Hotel Nachricht herumgeschickt, daß die Polizei käme. Alvarez lächelte fast entschuldigend zu Ravic hinüber. Ravic wußte nicht, warum.

Ein dünner Mensch kam gelassen heran. Es war der Doktor der Philologie und Philosophie Ernst Seidenbaum. »Manöver«, sagte er zu Ravic. »Generalprobe. Bleiben Sie in der Katakombe?«

»Nein.«

Seidenbaum, ein Veteran seit sechs Jahren, zuckte die Achseln. »Ich bleibe. Habe keine Lust wegzulaufen. Glaube nicht, daß mehr passiert als eine Tatbestandsaufnahme. Wer ist schon an einem alten, toten, deutschen Juden interessiert?«

»An dem nicht. Aber an lebendigen, illegalen Refugiés.«

Seidenbaum setzte sein Pincenez zurecht. »Ist mir auch egal. Wissen Sie, was ich bei der letzten Razzia gemacht habe? Irgendein Sergeant kam damals sogar herunter in die Katakombe. Über zwei Jahre her. Ich habe eine von Jeans weißen Kellnerjacken angezogen und mit serviert. Schnäpse für die Polizei.«

»Gute Idee.«

Seidenbaum nickte. »Es kommt eine Zeit, da hat man auch vom Weglaufen genug.« Er trollte ruhig zur Küche hinüber, um zu inspizieren, was es gab.

Ravic ging durch den Hinterausgang der Katakombe über den Hof. Eine Katze lief ihm über die Füße. Vor ihm gingen die andern. Sie verteilten sich rasch auf der Straße. Alvarez hinkte etwas. Vielleicht könnte man das noch durch Operation beseitigen, dachte Ravic abwesend.

Er saß am Place des Ternes und hatte plötzlich das Gefühl, daß Joan in dieser Nacht kommen würde. Er konnte nicht sagen, warum — er wußte es nur einfach plötzlich.

Er zahlte sein Abendessen und ging langsam zum Hotel zurück. Es war warm, und die Schilder der Stundenhotels in den schmalen Straßen flammten rot durch die frühe Nacht. Hinter den Vorhängen schimmerten die Ritzen der erleuchteten Fenster. Eine Gruppe Matrosen folgte einigen Huren. Sie waren jung und laut und heiß von Wein und Sommer und verschwanden in einem der Hotels. Irgendwoher kam Handharmonikamusik. Ein Gedanke schoß wie eine Leuchtrakete hoch in Ravic, entfaltete sich, schwebte und hob eine magische Landschaft aus dem Dunkel:

Joan, wartend auf ihn im Hotel, um ihm zu sagen, daß sie alles hinter sich geworfen hätte und zurückkäme, ihn überströmend, überstürzend...

Er blieb stehen. Was ist los mit mir? dachte er. Weshalb stehe ich da, und meine Hände fühlen die Luft, als wäre sie ein Nacken und eine Welle Haar? Zu spät. Man kann nichts zurückholen. Niemand kommt zurück. Ebensowenig, wie je die gelebte Stunde zurückkommt.

Er ging weiter zum Hotel, über den Hof zum Hintereingang in die Katakombe. Er sah von der Tür aus eine Anzahl Leute herumsitzen. Seidenbaum war dabei. Nicht als Kellner, als Gast. Die Gefahr schien vorüber zu sein. Er trat ein.

Morosow war in seinem Zimmer. »Ich wollte gerade weg«, sagte er. »Dachte schon, du wärest wieder davon, zur Schweiz, als ich deine Koffer sah.«

»Ist alles in Ordnung?«

»Ja. Die Polizei kommt nicht wieder. Hat sogar die Leiche schon wieder freigegeben. Klarer Fall. Liegt oben; wird bereits aufgebahrt,«

»Schön. Dann kann ich ja wieder in meine Bude einziehen.«