«Es tut mir nicht leid, daß ich hier bin«, sagte Segrave.»Gut!»
Zusammen stiegen sie an Deck, und die frische Luft tat ihnen wohl nach dem Gestank in der Kajüte. Tyacke sah zum Wimpel hoch, prüfte den Kurs am Kompaß. Ja, der Wind stand durch, hatte aber hier unter Land weniger Kraft. Er nahm das Teleskop aus seiner Halterung. Da fiel sein Blick auf den Deserteur namens Swayne. Er holte gerade die Lose aus einer Leine, bewegte sich dabei schnell und leicht: ein erfahrener Seemann. Seit er hier an Bord war, sah er nicht mehr so verzagt aus, denn solange man lebte, gab es Hoffnung. Auf dem Flaggschiff hätten ihn entweder zweihundert Hiebe oder der Strick erwartet. Der andere Fremde an Bord war ein Seesoldat namens Buller. Der hatte Rum gestohlen, sich betrunken und dann seinen Sergeanten verprügelt. Das war zuviel für die Truppe. Auch ihn hätte man gehenkt oder ausgepeitscht.
Die anderen Männer kannte Tyacke bereits genau, sie kamen von der Miranda. Sperry, der Bootsmann, ließ zwei Männer die Fockrah mit einer Kette festsetzen, denn wenn die Flammen erst nach oben schlugen, waren Ketten nötig, um Fahrt im Schiff zu halten. Das geteerte laufende Gut brannte sofort weg.
So jedenfalls hatte es Tyacke gehört. Wie jeder Seemann fürchtete er Feuer an Bord am meisten. Ob er die Sache durchstehen konnte? Er wußte, daß es darauf nur eine Antwort gab.
Der Kommandant hob das Glas und sah am Midshipman vorbei, dem das Haar ins Gesicht wehte. Das Land lag genau voraus, und die Huk, die die Einfahrt zur Bucht schützte, war im fahlen Morgenlicht gut zu erkennen: grün und felsig. Die Decksplanken unter seinen Füßen wurden langsam warm und würden bald trocken wie Zunder sein. Wenn der Feind vorn an der Landspitze weitreichende Kanonen plaziert hatte, würden sie nicht bis in die Bucht kommen. Kein Schiff hatte Chancen gegen eine Landbatterie, schon gar nicht, wenn sie mit glühenden Kugeln schoß. Tyacke versuchte nicht daran zu denken, was eine glühende Kanonenkugel unter Deck anrichten würde.
«An Deck!«Der Ausguckposten zeigte nach achtern.»Die Miranda geht über Stag.»
Tyacke drehte sich um. Die offene See achteraus hielt die Nacht noch länger fest. Mirandas große Segel schienen förmlich übers Wasser zu fliegen, ihr Toppsegel flatterte, als sie durch den Wind ging. Es sah wirklich so aus, als verfolge sie den schäbigen Sklavenhändler mit Feuereifer.
«Schütteln Sie alle Reffs aus, Mr. Sperry. Wir möchten doch nicht durch ein Schiff des Königs aufgebracht werden — oder?«Sperry grinste und verschwand.»Sie werden an der Pinne gebraucht, Mr. Segrave. Wir haben noch etwa zehn Meilen bis zum Angriff.»
Segrave nickte. Hinter Tyackes abstoßendem Äußeren hatte er seine gewinnende Kameradschaft entdeckt.
Im Fernglas öffnete sich jetzt vor ihnen die Bucht wie eine Bühne.
«Wir laufen nach Nordost«, befahl der Kommandant,»auf die Untiefe zu, wie jedes kleine Handelsschiff, das von einem Kriegsschiff gejagt wird. Dann wenden wir und halten auf Steuerbordbug genau auf die ankernden Schiffe zu. Falls sie noch da sind. «Tyacke rieb sich das Kinn; er hätte sich doch rasieren sollen.»Also klar zur Wende, Mr. Segrave!»
Segrave bestätigte und stellte sich an der Pinne neben den jungen Seemann, der damals unten in der Kajüte seine Messerwunde versorgt hatte.
«Wir werden's auch diesmal schaffen, Mr. Segrave«, sagte dieser.
«Ganz bestimmt. «Segrave lächelte zurück.
Als ein Schuß übers Wasser klang und Pulverrauch vom Bug der Miranda aufstieg, drehte sich Tyacke um. Simcox beherrschte das Spiel gut. Hoffentlich übertrieb er es nicht und holte die Albacora ein. Plötzlich mußte Tyacke an das Mädchen denken, das er in Portsmouth gekannt hatte. Marion, richtig. Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht.
Ein zweiter Schuß rollte über die glitzernde See, die Kugel schlug eine Kabellänge achteraus ins Wasser.
«Neuer Kurs Nordost liegt an, Sir!«Zum erstenmal hörte er den stillen Segrave laut und deutlich rufen.
Gischt wehte über das schmutzige Deck. Der Bootsmann zuckte nur kurz mit den Schultern, als ein dritter Schuß fiel und schon etwas näher lag als der letzte. Sperry spähte durch das Skylight in die Kajüte hinunter. Hier hatte er sich damals mit der Schwarzen vergnügt.
So hing jeder seinen Gedanken nach. Tyacke fragte sich, ob das Mädchen Marion sich an ihn erinnern würde, wenn sie vom letzten Kommando eines gewissen Leutnant Tyacke in der Zeitung las.
Kapitän Daniel Poland hielt respektvollen Abstand zu Bolitho, der am Tisch mit dem Zirkel einige Entfernungen in der Karte nachmaß.
«Soweit wir wissen, ist niemand mehr in die Bucht eingelaufen«, überlegte der Vizeadmiral.»Sie oder Leutnant Varian hätten das doch bemerkt und mir gemeldet. Das heißt, die Ostindienfahrer und die Fregatte liegen noch in der Bucht. Hab' ich recht?»
«Die Bucht ist riesig, Sir Richard«, gab Poland zu bedenken.»Viermal so groß wie die Tafelbucht. «Er fühlte sich unter Bolithos forschendem Blick unwohl.»Aber es wird schon so sein, wie Sie sagen.»
Bolitho zog seine Uhr heraus. Tyackes Brander und die Miranda mußten jetzt auf den vorgesehenen Positionen stehen. Immer noch dachte er an den Leutnant, der seinen Platz mit dem des Freundes getauscht hatte.
Jenour, der unruhig aus den Heckfenstern geblickt hatte, meldete Kanonenschüsse, und Bolitho sah auf die Karte.»Es läuft wie geplant.»
Er sah sich in der Kajüte um. Nach der Miranda schien er hier so viel Platz zu haben wie auf einem Linienschiff. Er wandte sich Poland zu.»Lassen Sie klar Schiff zum Gefecht machen, wann es Ihnen paßt. Und bitten Sie Allday…»
Doch der war schon leise eingetreten und brachte Bolithos alten Degen. Bolitho hob die Arme, damit Allday ihm das Gehenk umlegen konnte.
«Wieder mal«, seufzte er dabei.
«Und wie immer«, antwortete Bolitho,»verlasse ich mich auf dich, alter Freund.»
Leutnant Tyacke senkte das Teleskop. Er würde sich jedem Beobachter verdächtig machen, wenn er die beiden Ankerlieger zu lange durchs Glas studierte, statt sich um den Schoner zu kümmern, der ihn verfolgte. Aber er hatte schon gesehen, was er suchte: Die beiden Schiffe, offensichtlich Ostindienfahrer, lagen vor Heck- und Buganker. Bolitho hatte also recht gehabt. Sie konnten wie eine Batterie an Land jeden Angreifer abwehren, der sich ihnen mühsam aufkreuzend näherte.»Sehen Sie sich das an, Mr. Segrave!«Der junge Matrose neben dem Midshipman deutete auf die Miranda. Mit Vollzeug ging sie durch den Wind, drehte fast auf der Stelle, nahm wieder Fahrt auf und kam so schnell näher, daß Segrave schon glaubte, Simcox mit seinem wehenden Haar drüben an der Pinne zu erkennen.
Wieder stieg ein Wölkchen von ihrem Bug auf, und diesmal schlug die Kugel nur eine Bootslänge entfernt ein. Gischt spritzte an Deck.»Verdammt«, fluchte Sperry,»wenn du noch mal so gut zielst, kriegst du's mit mir zu tun, Elias Archer!»
Segrave leckte sich die trockenen Lippen. Wie er und der junge Seemann hatte wohl auch der Bootsmann vergessen, daß sie den Stückmeister der Miranda nie wiedersehen würden.
«Wachboot, Sir!«schrie der Ausguck im Fockmast.
Tyacke prüfte den Wimpel und den Stand der Segel.»Klar zur Wende, Mr. Sperry. «Er schätzte die Entfernung und prüfte die Kraft des Windes. Sie waren jetzt schon eine Stunde lang tiefer in die Bucht hinein gesegelt, ohne daß sie jemand aufgehalten hätte. Sicherlich wurde aus vielen Ferngläsern beobachtet, wie hier ein Sklavenhändler vor einem Briten floh. Vielleicht hatte auch der holländische Kommandant die Albacora wiedererkannt.
Tyacke sah sich das Wachboot im Teleskop genauer an: ein kleiner Kutter, die Riemen schon eingelegt, löste sich gerade vom ihnen nächstgelegenen Handelsschiff. Messingknöpfe glänzten auf der Uniform eines Offiziers, der im Heck des Kutters stand. Das Wachboot würde sie anrufen und zum Beidrehen auffordern. Es gab nur eine Möglichkeit.