XV Rendezvous mit dem Schicksal
Bolitho balancierte das abschüssige Achterdeck hinauf nach Luv und ließ den feuchten Wind seine Müdigkeit vertreiben. Es war früh am Morgen, und ringsum bereitete sich die Besatzung auf einen neuen, anstrengenden Tag vor.
Über Nacht war Regen gefallen, doch Bolitho ging mit Absicht auf den nassen Planken auf und ab. Langsam gewann er sein Selbstvertrauen zurück und schrieb seine bisherige Verzweiflung dem Selbstmitleid und Schlimmerem zu.
Er hörte Keen mit dem Ersten Offizier reden und entnahm seinem Tonfall, daß er die Bestrafung dreier Matrosen besprach, die am Vormittag stattfinden sollte. Überall im Geschwader waren nach Helicons Ausfall Unruhen ausgebrochen: Drohungen oder tatsächliche Gewaltanwendungen gegen Decksoffiziere oder Kameraden, worauf üblicherweise Auspeitschung stand. Das Flaggschiff stellte keine Ausnahme dar; selbst Keens Menschlichkeit hatte den letzten Temperamentsausbruch und die strenge Strafe, die ihm auf dem Fuß folgte, nicht verhindern können.
Bolitho stellte sich seine Schiffe als Wesen mit ganz unterschiedlichem Eigenleben vor, das von dem jeweiligen Kommandanten überwacht und gesteuert wurde. Aber er wußte auch, daß ein Schiff nur so stark war wie seine Mannschaft.
Bei Tagesanbruch würden seine Schiffe wieder mit Argonaute im Zentrum in Querlinie segeln. Barracouta, noch immer als Zweidecker getarnt, lag irgendwo achteraus und war bereit, auf ein Signal hin vorm Wind angerauscht zu kommen. Rapid kreuzte ganz allein weit vor ihnen in der Hoffnung, ein Fischerboot oder ein Handelsschiff zu finden, das ihnen wertvolle Hinweise geben konnte.
Sie hatten mehrere solcher Schiffe gesichtet, aber nur drei erwischt. Eines der Fahrzeuge, die sich Rapids Verfolgung entzogen hatten, bis die Brigg das Signal zur Rückkehr erhielt, war ein schneller Schoner gewesen. Es war üblich, daß Handelsschiffe vor Kriegsschiffen jeglicher Flagge flohen, doch hier draußen mochte jeder Fremde auch ein Spion sein, der Jobert Hinweise auf ihre Stärke und ihren Kurs zutrug. Lange konnte das nicht so weitergehen. Bald würde Bolitho sich geschlagen geben und die Brigg zu Nelson schicken müssen, um ihm mitzuteilen, was geschehen war. Dann stand zu erwarten, daß Nelson das Geschwader in seinen eigenen Verband eingliedern würde.
Vier Tage waren vergangen, seit sie sich von Helicon getrennt hatten. Es herrschte gutes Segelwetter; der Wind stand günstig, und die Sicht war nicht schlecht.
Keen kam übers Deck und legte die Hand an den Hut.»Irgendwelche Befehle, Sir Richard?«Nur wegen der Rudergänger in der Nähe drückte er sich so förmlich aus. Seine Stimme klang gepreßt. Stand er etwa den Entscheidungen seines Vorgesetzten und den Ergebnissen, die sie bisher gezeitigt hatten, kritisch gegenüber?
Bolitho schüttelte den Kopf.»Wir suchen weiter. Mag sein, daß sich die Franzosen abgesetzt haben, aber ich bezweifle das.»
Gemeinsam sahen sie, wie Segel und Rigg von den ersten Sonnenstrahlen getroffen wurden. Querab tauchte Dispatch in eine so hohe Düngung, daß die Stückpforten des unteren Batteriedecks wie Glassplitter funkelten.
Bolitho schaute zu der winzigen Gestalt des Ausgucks im Großmast auf.»Lösen Sie die Männer oben stündlich ab, Val«, sagte er.»Müde Augen können wir heute nicht brauchen.»
Keen warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Heute, Sir?»
Bolitho zuckte die Achseln. Erst jetzt merkte er, was er da gesagt hatte. Warnte ihn ein Instinkt?
«Ich bin beunruhigt, Val. «Er dachte an Frühstück und die Tatsache, daß er fast die ganze Nacht auf- und abgegangen war.»Verständigen Sie mich sofort, wenn etwas gesichtet wird. «Er schritt nach achtern zu seinem Quartier, wo Oz-zard und Yovell ihn erwarteten.
Bolitho saß am Tisch und sah zu, wie Ozzard das Frühstück zubereitete und Kaffee einschenkte. Er hatte ein Bad nötig und sein Hemd war zerknittert. Doch die Kürzung der Wasserration galt für alle, auch für ihn. Abgesehen von Inch natürlich. Dessen Anblick war eine Qual: manchmal im Fieberwahn, dann wieder abgestumpft und teilnahmslos, vegetierte er dahin. Laut Tuson schien die Amputation erfolgreich gewesen zu sein. Doch Inch gehörte an Land und in ein Hospital. Bolitho wußte aus eigener bitterer Erfahrung, daß jeder Ruf an Deck, jede Änderung von Windrichtung und Kurs selbst in einem sterbenden Seemann alte Ängste weckten — und ganz besonders in einem Kommandanten.
«Ganz nach Ihrem Geschmack, Sir«, sagte Ozzard und stellte einen Zinnteller auf den Tisch.»Aber es ist leider das letzte Brot aus Malta.»
Bolitho betrachtete die dünnen Scheiben Schweinefleisch, in Zwiebackskrumen goldbraun gebacken. Das Brot würde steinhart sein, aber Ozzard war es wenigstens gelungen, den Schimmel fernzuhalten. Der schwarze Sirup, den Bolitho so gern aß, würde den muffigen Geschmack überdecken.
Er dachte an Frühstück in Falmouth und Belindas Verwunderung über seinen Appetit. Du haust rein wie ein Schuljunge, hatte sie gesagt. Was hielte sie wohl von dieser Mahlzeit? Und die Mannschaft aß noch hundertmal schlechter.
Er schaute zum offenen Skylight, als Stimmen herüberwehten. Dann stampften Füße durch den Korridor, und Keen betrat die Kajüte.
«Bedaure, Sie stören zu müssen, Sir. Aber Rapid ist in Sicht und hat Nachrichten.»
Bolitho stieß den Teller beiseite und bestrich das altbak-kene Brot dick mit Sirup.
«Berichten Sie.»
«Sie hat ein Schiff gestellt und geentert, mehr weiß ich noch nicht. Aber Rapid unternimmt auf jeden Fall die größten Anstrengungen, um schnell heranzukommen.»
Bolitho stand auf.»Setzen Sie mehr Segel und signalisieren Sie den anderen Schiffen, unserem Beispiel zu folgen. Und sobald wir beigedreht haben, möchte ich Quarrell sprechen.»
Doch es dauerte bis zur Mitte der Morgenwache, ehe Rapid zum Rest des Geschwaders aufgekreuzt war. Zunächst wich die Erregung stummer Resignation, als die Grätings aufgeriggt und alle Mann nach achtern gepfiffen wurden, um Zeugen der Bestrafung zu werden: zwei Dutzend Schläge pro Mann, während die Trommeln gerührt wurden.
Paget legte die Hand an den Hut.»Bestrafung vollzogen, Sir.»
Keen nickte. Die Mannschaft trat ab, die Grätings wurden abgenommen und geschrubbt, und die Ausgepeitschten kamen nach unten ins Krankenrevier. Keen reichte Paget die Kriegsartikel und sagte:»Dieses verdammte Warten!»
Doch als Quarrell endlich an Bord kletterte, konnte er seine Erregung und Freude kaum verbergen.
Bei Tagesanbruch hatte Rapid dem anderen Schiff befohlen, beizudrehen und einen Entertrupp zu erwarten. Der Leutnant, der mit dem Boot hinüberfuhr, war gründlich. Der griechische Kapitän war des Englischen mächtig und mehr als hilfsbereit gewesen. Seine Ladung hatte aus Olivenöl und Feigen bestanden, doch laut Quarrell war das Schiff schmutzig; es sei ein Wunder, daß es überhaupt Ladung bekam. Quarrell holte tief Luft.»Der Kapitän hatte mehrere Flaschen Wein und Brandy an Bord, Sir, die mein Erster sofort entdeckte. «Er drehte sich um und strahlte Keen an.»Alle französischer Herkunft.»
Bolitho, dessen Mund plötzlich trocken geworden war, entrollte auf dem Tisch eine Seekarte.»Weiter. «Dies war Quarrells großer Augenblick. Wenn er ihn zur Eile trieb, brachte er ihn nur aus dem Konzept.
Der junge Kommandant fuhr fort:»Als wir ihn nach der Herkunft der Flaschen befragten, gab der Mann an, sie vor drei Tagen gegen Öl eingetauscht zu haben. «Er sah in Bolithos ernstes Gesicht.»Es war zweifellos Konteradmiral Joberts Geschwader. Der Grieche konnte es bis auf die Galionsfigur, einen Leoparden, genau beschreiben.»
«Zeigen Sie mir die Position. «Bolitho beschwerte die Karte mit Lineal und Stechzirkel.
«Sie lagen auf Ostkurs, Sir. Inzwischen müßten sie ungefähr hier sein. «Er legte einen Finger auf die Stelle.