XI Heimlich von Bord
Am frühen Morgen begab sich Bolitho aufs Achterdeck. Zwei Tage waren verstrichen, seit Adam mit Firefly eingetroffen war und ihm die Vorladung überbracht hatte.
Argonaute lag unter Marssegeln und Klüver behaglich auf Steuerbordbug. Ihre Decks waren noch taufeucht, die Seeleute räumten im Morgendämmerlicht geschäftig lose Taue weg und scheuerten die Decksplanken. Ein widerlicher Geruch kam aus dem Schornstein der Kombüse; bald würden alle Mann zum Frühstück entlassen werden.
Bolitho sah, wie der Wachhabende ihn verblüfft anstarrte und sich dann hastig zur Leeseite verzog. Auch die Rudergänger drückten das Kreuz durch; Augenblicke zuvor hatten sie sich noch müde an das Doppelrad gehängt und nur an Frühstück gedacht, wie miserabel es auch ausfallen mochte.
Ein, zwei Matrosen schauten vom Hauptdeck zu Bolitho auf. Seit seiner Verwundung hatten sie ihn nur selten zu Gesicht bekommen. Er hielt die Hand übers Auge und schaute zum Land: lila und tiefblau über einem stahlblauen Horizont. Am Himmel zogen vereinzelte Wolken dahin, deren Ränder die aufgehende Sonne rosa und golden färbte. Die See war ruhiger.
Er machte ein paar Schritte, hielt die Hände fest auf dem Rücken verschränkt. Als er nach einzelnen Gestalten Ausschau hielt, schlug sein Herz schneller. Bis auf jene, die in den Schatten zwischen den Geschützen standen, konnte er alle erkennen.
Er rief den Wachhabenden an.»Guten Morgen, Mr. Machan.»
Der Offizier legte die Hand an den Hut und eilte herbei.»Ein schöner Tag, Sir Richard. «Das klang verwirrt und erfreut.
Bolitho musterte ihn eingehend. Er konnte ihn besser sehen, als er zu hoffen gewagt hatte, entsann sich aber, Sheaffe vor kurzem mit einem anderen Offizier verwechselt zu haben. Dann merkte er, daß Machan unter seinem scharfen Blick unruhig wurde.
«Ist vom Masttopp aus die Helicon zu erkennen?«fragte Bolitho.
Sie hatten Inchs Schiff und sein Schwesterschiff noch kurz vor Einbruch der Nacht gesehen; bei Tageslicht würden sie sich alle wieder zusammenfinden — außer der seltsam getarnten Barracouta — aber nur, um wieder an Stärke zu verlieren, wenn das Flaggschiff nach Malta segelte.
Es war Wahnsinn, aber Bolitho wußte, daß der Befehl ihm keinen Spielraum für Auslegungen ließ. Wenn Keen vor ein Tribunal zitiert wurde, mußte er sich auf eigenem Kiel dorthin begeben. Kam er als Passagier auf einer Kurierbrigg, erklärte er sich praktisch schuldig.
Er stellte fest, daß er wieder rastlos auf- und abging und daß Machan auf seinen Posten an den Netzen zurückgekehrt war. Die Nachricht würde sich erst unter Deck und dann auf allen anderen Schiffen des Geschwaders verbreiten: Der Admiral war wieder auf den Beinen.
Bolitho setzte sich mit Belindas Brief auseinander. Er war noch immer nicht ganz sicher, was er eigentlich erwartet hatte. Auf jeden Fall mehr. Ihr Brief war nicht kurz, ließ aber jede persönliche Note vermissen. Sie hatte von Haus und Hof geschrieben, von Fergusons Absicht, den Gemüsegarten zu vergrößern, von dem alten Steuereinnehmer, dessen Frau schon wieder ein Kind erwartete.
Seltsam, er hatte sich den Brief nicht von Yovell oder Ozzard vorlesen lassen, sondern Zenoria gerufen. Ihre Stimme hatte eher wie die Belindas geklungen, doch der Brief selbst war oberflächlich und ausweichend gewesen; London oder ihr kühler Abschied blieben unerwähnt.
Der Brief schloß:»Deine Dich liebende Frau Belinda.»
Er entsann sich an den Klang ihres Namens auf Zenorias Lippen; wie sehr ihn das bewegt und beunruhigt hatte.
Das Mädchen hatte ihm den Brief zurückgegeben und gesagt:»Sie ist eine gute Frau, Sir.»
Bolitho hatte ihre Verzweiflung, ihren Neid gespürt. Keen mußte ihr von Pullens Besuch erzählt haben.
«Kommen Sie ein bißchen näher«, hatte Bolitho gesagt. Als sie sich neben ihn setzte, ergriff er ihre Hände.»Keine Angst, ich halte mein Wort.»
Ihre Antwort hatte Zweifel verraten:»Wie wollen Sie mir jetzt noch helfen, Sir? In Malta wartet Gefängnis auf mich.»
Es hatte ängstlich, aber auch entschlossen geklungen.»Die bekommen mich nicht bei lebendigem Leibe! Niemals!»
Er hatte ihre Hand gedrückt.»Was ich Ihnen jetzt sage, muß unser Geheimnis bleiben. Wenn Sie es meinem Kapitän verraten, machen Sie ihn zum Komplizen. Er darf nicht noch mehr Schuld auf sich laden.»
Sie hatte eingewilligt.
Bolitho fröstelte. Noch immer wußte er nicht ganz genau, wie er sich der Angelegenheit annehmen sollte. Doch Zenoria durfte nicht verzagen. Womöglich stürzte sie sich über Bord oder tat sich ein Leid an, nur um nicht wieder eingesperrt zu werden.
Der Ausguck schrie:»Schiff in Südost! Die Helicon, Sir!»
Bolitho konnte sich Inchs Schiff vorstellen, dessen Segel in der schwachen Morgensonne wie rosa Muscheln leuchten mußten, wie es so auf die Argonaute zuhielt.
Wieder dachte er an Zenoria. Bald würde sie vom Eintreffen seines Stellvertreters erfahren. Damit wurde die Schraube weiter angezogen, die Fahrt zur herzlosen Obrigkeit in Malta rückte näher.
Keen kam barhäuptig und ohne Rock an Deck. Er starrte Bolitho an und suchte nach einer Erklärung.
Bolitho lächelte.»Schon gut, Val. Ich konnte nicht schlafen und wollte mir nur die Beine vertreten.»
Keen grinste erleichtert.»Tut richtig gut, Sie wieder an Deck zu sehen, Sir!«Dann wurde er ernst.»Ich möchte Sie nicht weiter belasten, aber.»
Bolitho unterbrach ihn.»Ich habe schon einen Plan.»
«Aber, Sir.»
Bolitho hob die Hand.»Ich weiß, was Sie sagen wollen: daß die Verantwortung nur bei Ihnen liegt. Aber da irren Sie sich. Solange meine Flagge über diesem Geschwader weht, fühle ich mich für die Angelegenheiten meiner Offiziere und insbesondere meines eigenen Flaggkapitäns verantwortlich. «Seine Stimme klang bitter, als er hinzufügte:»Seit mein Bruder zur amerikanischen Marine desertierte, gibt es Leute, die meine Familie unbedingt in Verruf bringen wollen. Mein Vater mußte darunter leiden, und ich selbst war mehr als einmal Ziel böswilliger Intrigen. Adam ebenfalls, aber das wissen Sie ja. Ich werde also nicht zulassen, daß man Sie ruiniert, nur um mir eins auszuwischen.»
«Glauben Sie denn wirklich, daß man dadurch Ihnen Schaden zufügen will, Sir?»
«Ohne jeden Zweifel. Doch niemand wird damit rechnen, daß ich Sie aus Ihrer Verantwortung entlasse und sie selbst auf mich nehme. «Kein Wunder, daß Pullen, dieser Aasgeier, so selbstsicher gewirkt hatte. Bei der Erkenntnis empfand er einen Haß, der ähnlich heftig war wie in dem Augenblick, als er beinahe die Breitseite nach der Kapitulation des französischen Zweideckers befohlen hatte.
Er hörte sich sagen:»Lassen Sie mich das auf meine Weise regeln, Val. Und danach machen wir uns auf die Suche nach dem wahren Feind — wenn es nicht schon zu spät ist.»
Keen beobachtete ihn. Hatte die Verwundung bei Bolitho Verfolgungswahn ausgelöst? Keen hatte zwar von den Angriffen auf die Familie Bolitho gehört, von den Methoden, mit denen in der Vergangenheit versucht worden war, Beförderungen zu verhindern oder tapfer verdiente Anerkennung zu versagen. Aber es konnte doch mitten im Krieg niemand so wahnsinnig sein, tiefsitzende Ressentiments dieser Art gegen ihn auszunutzen?
«Wenn nur Zenoria in Sicherheit wäre, Sir«, sagte Keen.
«Zenoria ist lediglich ein Werkzeug, Val, da bin ich ganz sicher. «Er drehte sich um, als der Midshipman rief:»Signal von Rapid, Sir!»
Bolitho sah die Flaggen von der Rah auswehen und hörte Keen sagen:»Sie können das Signal ja sehen, Sir!»
Bolitho versuchte, seine Erregung zu verbergen.»Recht deutlich. «Er wandte sich zur Poop. Bald würde der andere Verband abgenommen werden, und dann zum Teufel mit Tusons düsteren Prophezeiungen. Wenn Inch an Bord kam, sollte er einen Admiral vorfinden, keinen schwächlichen Krüppel. Er ging mit langen Schritten zu seinem Quartier und verlor nur einmal das Gleichgewicht, als das Schiff in ein tiefes Wellental tauchte.