«Also gut, Mr. Grubb«, rief Herrick,»Kurs Ostsüdost. «Dann kam er zu den Netzen hinüber, wo Bolitho stand, einen Fuß auf die Lafette eines Achterdeck-Neunpfünders gestützt.
Leise lächelnd blickte Bolitho ihm entgegen.»Na, Thomas, wie fühlen Sie sich?»
Die Falten in Herricks Gesicht glätteten sich etwas. Als ob eine Wolke abzieht, dachte Bolitho.
«Besser, Sir«, antwortete Herrick und atmete tief aus.»Ein ganzes Ende besser!»
Bolitho beschattete die Augen mit der Hand und sah zum Land hinüber. Wahrscheinlich ritten schon in dieser Minute Kuriere in gestrecktem Galopp über die Küstenstraßen. Aber es hätte keinen Sinn gehabt, wie Strauchdiebe im Schutz der Dunkelheit durch die Straße von Gibraltar zu schleichen. Zwar hatte er seine Befehle, doch der Earl of St. Vincent hatte ihm auch klargemacht, daß es seine Sache war, wie er sie interpretierte und ausführte. Es konnte gar nichts schaden, wenn der Feind wußte, daß wieder ein starker britischer Verband ins Mittelmeer segelte. Bolitho blickte zum Großmasttopp hinauf, zu dem langen, gespaltenen Wimpel, der jetzt steif wie ein Brett im steten Wind stand. Seine Flagge. Dann ließ er den Blick über das von Menschen wimmelnde Deck schwe ifen, über die emsigen Matrosen, die in großen Duchten aufgeschossenen Taue, die dem Binnenländer wie ein hoffnungsloses Gewirr vorkommen mußten. Und dann weiter vor zum Klüverbaum, unter dem er gerade noch eine der breiten Schultern des spartanischen Heerführers sehen konnte. Inchs Schaluppe, ihre ganze Vorhut, war nur noch ein we ißes Federchen an der dunstigen Kimm. Bolitho lächelte in sich hinein. Genauso hatte auch er damals mit seinem ersten Schiff operiert, in der Chesapeake Bay. Doch nun: ein anderes Schiff — ein anderer Krieg.[6]
«Irgendwelche Instruktionen, Sir?«fragte Herrick. Drüben an der Leereling stand Pascoe, eine Hand in die Hüfte gestützt, und sah zu ihnen herüber.
«Es ist Ihr Schiff, Thomas. Was haben Sie vor?»
Herrick versuchte, sich etwas zu lockern.»Ich würde gern Geschützexerzieren ansetzen. Mit der Segelausbildung bin ich soweit zufrieden.»
«Also bitte«, lächelte Bolitho. Da sich Gilchrist in der Nähe herumdrückte, sagte er abschließend:»Ich bin in meiner Kajüte.»
Unterwegs, beim Kompaß, hörte er Gilchrists kalte Meldung an den Kommandanten:»Zwei Mann zur Bestrafung, Sir. Nachlässigkeit im Dienst und Frechheit gegenüber einem Bootsmannsmaaten.»
Bolitho hielt inne. Eine Auspeitschung schon zu Beginn der Reise — das wäre auch unter normalen Umständen ein schlechter Anfang gewesen. Hier bei dem kleinen Geschwader, in feindlichen Gewässern, wo beinahe jedes auftauchende Segel ein Franzose oder Spanier sein mußte, vertrug es sich um so schlechter mit seiner heiklen Mission. Herrick sagte etwas zu Gilchrist, das Bolitho nicht verstand, aber der Leutnant erwiderte rasch: «Mir genügt seine Aussage, Sir.»
Bolitho schritt nach achtern unter die dicken Decksbalken. Er durfte sich nicht einmischen.
Am Abend des zweiten Tages auf See gab es nach dem zunächst schnellen Start zur Reise in den Golfe du Lyon einen Rückschlag. Unberechenbar wie immer, flaute der Wind zu einer schwachen Brise ab, so daß die Lysander auch unter Vollzeug nur knapp drei Knoten schaffte.
Das Geschwader segelte nicht mehr in seiner ursprünglichen Formation, sondern war zerstreut; und alle drei Zweidecker schlichen über ihrem eigenen Spiegelbild langsam und lustlos dahin.
Bolitho hatte die Fregatte losgeschickt, um weit voraus zu rekognoszieren; nun, bei seinem ruhelosen Auf- und Abgehen auf der Kampanje, war er froh, daß er wenigstens diese kleine Vorsichtsmaßnahme ergriffen hatte. Der Kommandant, Kapitän Javal, würde so den Landwind hoffentlich mit einigem Erfolg ausnutzen können.
Trotz seiner Ungeduld mußte Bolitho lächeln. Er selbst und auch Farquhar waren im Herzen immer noch Fregattenkapitäne; der Gedanke an Javals Unabhängigkeit, das Operieren außer Reichwe i-te jedes Signals, mußte den Neid eines Kommandanten erregen, der an einen gewichtigen Vierundsiebziger gebunden war.
Er hörte, daß Herrick mit seinem Ersten sprach, und dabei fiel ihm die Auspeitschung des Vortags wieder ein. Das wohlbekannte, gräßliche Ritual der körperlichen Züchtigung hatte bei der versammelten Mannschaft keine sonderliche Aufregung verursacht. Doch als Bolitho auf der Kampanje dem Verlesen der Kriegsartikel durch Herrick beiwohnte, hatte er so etwas wie Triumph auf Gilchrists schmalem Gesicht beobachtet. Er hatte eigentlich erwartet, daß Herrick Gilchrist beiseite nahm und ihn auf die Gefahren überflüssiger Bestrafungen hinwies. Gedankenlose Härte konnte Folgen haben, die schlimmer waren als eine unabsichtliche Disziplinlosigkeit. Die Meutereien vor Spithead und bei der Themseflotte hätten eigentlich genügend Warnung sogar für einen Blinden sein sollen. Doch als Bolitho auf das Achterdeck hinuntersah, konnte er an der Unterhaltung der beiden nichts ablesen. Sie sprachen ganz normal miteinander; dann tippte Gilchrist an den Hut und ging weiter nach Luv. Er hatte einen merkwürdig hüpfenden Gang, bei dem seine Sohlen laut auf die Planken schlugen.
Nach kurzer Überlegung stieg Bolitho leichtfüßig die Stufen hinunter und trat neben Herrick an die Luvnetze.»Ein Schnek-kentempo«, sagte er.»Der Himmel möge uns den Wind wiederfinden lassen.»
Herrick sah ihn mißtrauisch an.»Unser Unterwasserschiff ist sauber, Sir. Und ich habe jedes Segel persönlich kontrolliert — wir könnten auch beim besten Willen nicht einen halben Knoten mehr machen.»
Überrascht von seinem vorwurfsvollen Ton, wandte Bolitho sich um.»Das sollte keine Kritik sein, Thomas. Ich weiß, ein Kommandant kann allerhand, aber den Elementen befehlen kann er nicht.»
Herrick lächelte gezwungen.»Entschuldigung, Sir. Aber mich bedrückt das ziemlich. Von uns wird so viel erwartet. Wenn es schiefgeht, ehe wir richtig angefangen haben…«Er zuckte hilflos die Achseln.»Die ganze Flotte müßte vielleicht darunter leiden.»
Bolitho stieg auf einen Poller und hielt sich an den Netzen, während er nach achtern zur Nicator spähte, die lethargisch auf dem gleichen Bug lag. Ihre Marssegel waren kaum gefüllt, und ihr Masttoppwimpel hob sich nur gelegentlich in den leeren Himmel.
Von Land war nichts zu sehen, obwohl der Ausguck, der winzig wie ein Äffchen turmhoch über Deck hockte, es als purpurnen Dunststreifen erkennen mußte: die Südküste von Spanien. Bolitho schauerte trotz der feuchten Hitze, als er daran dachte, daß er diese Strecke schon einmal gesegelt war. Übrigens — warum stellte sich Herrick so an? Es sah ihm gar nicht ähnlich, über das» Vielleicht «nachzugrübeln. Wieder kamen Bolitho bohrende Zweifel. War diese Verantwortung eine zu schwere Bürde für Herrick? Ohne ihn anzusehen, fragte er:»Ihr Erster, Thomas — was wissen Sie von ihm?»
«Mr. Gilchrist?«erwiderte Herrick zurückhaltend.»Sehr tüchtig im Dienst. Bei St. Vincent war er Zweiter auf der Lysander.»
Bolitho biß sich auf die Lippe. Es ärgerte ihn, daß er bereits am zweiten Tag auf See den Mund nicht mehr halten konnte. Mehr noch: er war verletzt und wußte selbst nicht, warum. Thomas Herrick war sein Freund, und in all den Jahren, in denen sie Schulter an Schulter gegen den Tod gekämpft, Fieber und Durst gelitten, Angst und Verzweiflung durchgemacht hatten, wäre eine solche Kluft zwischen ihnen unvorstellbar gewesen.
«Ich habe nicht nach seiner Führung gefragt«, entgegnete er schroffer als beabsichtigt.»Ich will etwas über den Menschen Gil-christ wissen.»
«Kann nicht klagen, Sir. Er ist ein guter Seemann.»
«Und das genügt?»
«Es muß mir genügen, Sir. Sonst weiß ich nichts über ihn«, antwortete Herrick gepreßt.
Bolitho trat vom Poller herunter und zog seine Uhr.»Aha.»
«Sehen Sie, Sir«, sagte Herrick mit einer unsicheren Handbewegung,»die Dinge ändern sich eben. Ich fühle eine solche Distanz zu meinem Schiff und meinen Leuten, als lebte ich auf einer Insel. Immer wenn ich versuche, alles so zu machen wie früher, kommen mir Geschwaderangelegenheiten dazwischen. Meine Offiziere sind fast alle junge Leute; manche haben noch nie einen ernstgemeinten
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siehe Kent: Zerfetzte Flaggen