„Unter Berücksichtigung der Umstände ist er ganz sicher nichtintelligent“, stimmte ihr Fletcher auf dem Rückweg zum vergitterten Teil des Gangs zu.

„Es handelt sich bestimmt um ein ausgebrochenes Tier, Murchison.“

„Wir Ärzte legen uns nie fest“, entgegnete Murchison höflich lächelnd, „gerade, wenn es um eine brandneue Lebensform geht. Im Moment würde ich mir nicht einmal den Versuch einer Klassifikation der blinden Aliens zutrauen.“

Da sie die kleinste in der Gruppe war, zwängte sich Murchison vorsichtig durch das beschädigte Gitter und zwischen den aus Wand und Decke ragenden Stäben und Stangen hindurch. Wären nicht schon viele Stangen von dem großen ET verbogen worden, hätte sie nie im Leben zu dem blinden Alien gelangen können.

„Das hier ist ja ein äußerst merkwürdiger Käfig“, sagte sie völlig außer Atem, nachdem sie bei der Leiche angekommen war.

Trotz der hellen Beleuchtung des Korridors konnten sie das andere Ende des mit Gittern zum Käfig umfunktionierten Abschnitts nicht sehen, weil die vom Gang verfolgte Schiffskrümmung bei dieser relativ geringen Entfernung vom Mittelpunkt so scharf war, daß der Blick nicht weiter als zehn Meter reichte. Die aus den jedoch sichtbaren Korridorwänden und auch aus der Decke ragenden Metallstangen und — stäbe hatten teils scharfe, teils spatelförmige Spitzen, und ein paar wenige wiesen Enden auf, die kleinen und mit stumpfen Dornen besetzten Metallkugeln ähnelten. Die Wandschlitze, aus denen diese Stangen herausragten, waren so lang, daß die jeweilige Stange sowohl nach oben und unten als auch zu beiden Seiten große Bewegungsfreiheit hatte. Die Gitterstäbe hingegen, die aus mit Ringen eingefaßten, runden Löchern heraushingen, waren nur zum Hinein- und Herausstoßen gedacht.

„Ich finde den Käfig auch merkwürdig, Murchison“, pflichtete ihr Fletcher bei. „Obwohl ich ET-Technik studiert hab, kann ich damit überhaupt nichts anfangen. Es ist auf jeden Fall ein äußerst großer Käfig — wenn er sich sogar ganz ums Schiff erstreckt, sollte ich ihn vielleicht besser als sehr lang bezeichnen. Möglicherweise mußte er mehr als ein Tier beherbergen, oder das einzelne Tier hat viel Auslauf gebraucht. Das ist zwar nur eine Vermutung, aber ich würde sagen, die in den Gang ragenden Stangen und Stäbe stellen eine Art Hindernis dar, wodurch das Tier in jedem beliebigen Teil des Käfigs zur Fütterung oder zur körperlichen Untersuchung festgehalten werden konnte.“

„Das halte ich für eine höchstwahrscheinlich zutreffende Vermutung“, entgegnete Conway. „Und beim Ausfall der beweglichen Hindernisse ist das Metallgitter eine zusätzliche Sicherung, die in diesem Fall aber dem Angriff des Tiers nicht standhalten konnte. Ich frage mich bloß, wie weit dieser Gang dem Schiffsumfang folgt. Verlängert man nämlich diesen Bogen bis auf die andere Schiffsseite, dann gelangt man genau an der Stelle an, wo Prilicla die zwei Überlebenden entdeckt hat. Nach Prilicla hat einer der Überlebenden auf einer sehr niedrigen, womöglich tierischen Stufe Zorn ausgestrahlt, während die emotionale Ausstrahlung des zweiten Wesens weit differenzierter war.

Nehmen wir einmal an, am anderen Ende dieses Käfiggangs oder sogar außerhalb davon befindet sich zusammen mit einem weiteren großen ET ein schwer verletzter Alien, der mit dem Töten des Tiers nicht so erfolgreich war wie sein Besatzungskollege…“

Er brach ab, als Naydrad über Kopfhörer ihre Ankunft mit der Drucktragbahre vor dem Schiff meldete. Murchison schob den ersten Alien zur Schleuse und sagte: „Wenn Sie noch ein paar Minuten warten, Naydrad, können Sie alle drei Wesen in die Bahre legen.“

Fletcher hatte Conway, während der seine Vermutungen angestellt hatte, die ganze Zeit angestarrt. Dem Captain war die Abneigung gegen den Gedanken an einen weiteren großen FSOJ auf dem Schiff ganz deutlich anzusehen. Er deutete auf den Leichnam des zweiten blinden Aliens und sagte in besorgtem Ton: „Dieser hier wäre beinahe entkommen, nachdem er den FSOJ mit seinem Horn getötet hatte. Wenn wir wüßten, wohin er zu fliehen versuchte, müßten wir auch den Aufenthaltsort seines entkommenen Besatzungskollegen kennen.“

„Also lassen Sie uns danach suchen“, schlug Conway vor.

Die Zeit für die Überlebenden, egal, welcher Spezies sie auch angehörten, lief allmählich ab.

Auf Bodenhöhe befand sich eine flache, rechteckige Öffnung, die breit und hoch genug war, um einem blinden Alien das Passieren zu ermöglichen.

In dieser Öffnung steckte fast ein Drittel des flachen, runden Körpers des zweiten Aliens. Beim Versuch, ihn herauszuholen, stießen Fletcher und Conway auf Widerstand und mußten deshalb vorsichtig am Körper ziehen, um ihn freizubekommen. Dann schoben sie den Leichnam zu Murchison, die bereits darauf wartete, ihn zusammen mit den beiden anderen Leichen in die Luftschleuse zu bringen. Plötzlich wurden sie durch eine Meldung über den Anzugfunk in ihrer Tätigkeit unterbrochen.

„Sir! Auf der oberen Schiffsseite geht gerade eine Luke auf. Das sieht ganz aus, als ob… da fährt eine Antenne aus!“

„Prilicla, die Überlebenden!“ rief Conway schnell. „Ist davon einer bei Bewußtsein?“

„Nein, mein Freund“, antwortete der Empath. „Die beiden liegen immer noch in tiefer Bewußtlosigkeit.“

Fletcher starrte Conway einen Moment lang an. „Wenn die Überlebenden die Antenne nicht ausgefahren haben, dann haben wir das getan“, sagte er nachdenklich, „vielleicht beim Herausziehen des blinden Aliens aus der Öffnung.“ Auf einmal beugte er sich nach vorn und setzte die Hände auf den Boden. Dann schob er die Füße auf den Magneten nach hinten, bis er flach auf dem Boden des Gangs lag. Er drückte den Kopf dicht an die Öffnung, durch die der blinde Alien zu fliehen versucht hatte, und richtete den Lichtkegel des Helmscheinwerfers hinein. „Jetzt sehen Sie sich das mal an, Doktor!“ sagte er triumphierend. „Ich glaube, wir haben die Kommandozentrale gefunden.“

Sie blickten in einen breiten, niedrigen Tunnel, dessen Abmessungen nur wenig größer als die der Alienkörper waren. Auch hier war die Sichtweite eingeschränkt, weil der Tunnel genauso wie der hinter ihnen liegende Gang der Krümmung des Schiffs folgte. Der Tunnelboden war von der Öffnung aus ungefähr vierzig Zentimeter weit vollkommen glatt, an der Decke hingegen befanden sich genau die gleichen, mit Blindenschrift gekennzeichneten Schalter wie in der Luftschleuse. Kontrollampen oder optische Displays fehlten natürlich völlig. Kurz hinter diesem Bereich verschwand die Tunneldecke, und dort konnte man deutlich das erste Steuerpult sehen.

Von der Form her ähnelte es einem runden, elliptisch unterteilten Sandwich. Die dadurch um den Rand herum entstehende Öffnung ermöglichte der blinden Besatzung den Zugang. Conway und Fletcher konnten an den Innenseiten des Sandwiches Hunderte von Schaltern und auf den Außenflächen Kabelstränge und Leitungen sehen, die die Schalter mit den von ihnen gesteuerten Mechanismen verbanden. Der Großteil dieser Kabelstränge führte zur Schiffsmitte, während sich die restlichen zur Ober- und Unterseite des Rumpfs schlängelten. Ein paar wenige verliefen zum Schiffsrand. Eine farbliche Kennzeichnung der Kabel war nicht auszumachen, aber in die Kabelmäntel waren verschiedene Muster eingeprägt und eingestanzt, die für blinde, auf den Tastsinn angewiesene Techniker dieselbe Funktion wie Farbcodierungen erfüllten. Hinter dem ersten Steuerpult war noch ein zweites zu sehen.

„Ich kann zwar nur zwei Steuerpulte deutlich erkennen, aber wie wir wissen, besteht die Besatzung aus mindestens drei Mitgliedern“, sagte Fletcher. „Der Überlebende befindet sich wahrscheinlich hinter dieser Kurve und ist deshalb nicht zu sehen. Wenn wir uns bloß durch den Tunnel quetschen könnten…“

„Das ist physikalisch unmöglich“, warf Conway ein.

„… ohne bei jedem Schritt an Schalter zu kommen und sämtliche Schiffssysteme anzuschalten“, fuhr Fletcher unbeirrt fort. „Ich frage mich, warum diese trotz ihrer Blindheit anscheinend nicht dummen Wesen so dicht am Käfig eines gefährlichen, gefangenen Tiers ein Steuerpult aufgestellt haben. Damit sind die doch ein großes Risiko eingegangen.“