201.

Zukunft des Adels. — Die Gebärden der vornehmen Welt drücken aus, dass in ihren Gliedern fortwährend das Bewusstsein der Macht sein reizvolles Spiel spielt. So lässt sich der Mensch von adeliger Sitte, Mann oder Weib, nicht gern wie ganz erschöpft in den Sessel fallen, er vermeidet es, wo alle Welt es sich bequem macht, zum Beispiel auf der Eisenbahn, den Rücken anzulehnen, er scheint nicht müde zu werden, wenn er stundenlang bei Hofe auf seinen Füssen steht, er richtet sein Haus nicht auf das Behagliche, sondern grossräumig und würdevoll, wie zu einem Aufenthalt grösserer (auch längerer) Wesen ein, er beantwortet eine herausfordernde Rede mit Haltung und geistiger Helle, nicht wie entsetzt, zermalmt, beschämt, ausser Athem, nach Art des Plebejers. So wie er den Anschein einer beständig gegenwärtigen hohen physischen Kraft zu wahren weiss, wünscht er auch durch beständige Heiterkeit und Verbindlichkeit, selbst in peinlichen Lagen, den Eindruck aufrecht zu erhalten, dass seine Seele und sein Geist den Gefahren und den Überraschungen gewachsen ist. Eine vornehme Cultur kann in Absicht der Leidenschaften entweder dem Reiter gleichen, der Wonne empfindet, ein leidenschaftliches stolzes Thier im spanischen Tritt gehen zu lassen — man stelle sich das Zeitalter Ludwig's des Vierzehnten vor Augen — , oder dem Reiter, der sein Pferd wie eine Naturgewalt unter sich hinschiessen fühlt, hart an der Gränze, wo Pferd und Reiter den Kopf verlieren, aber im Genuss der Wonne, gerade jetzt noch den Kopf oben zu behalten: in beiden Fällen athmet die vornehme Cultur Macht, und wenn sie sehr oft in ihren Sitten auch nur den Schein des Machtgefühls fordert, so wächst doch durch den Eindruck, welchen dieses Spiel auf die Nicht-Vornehmen macht, und durch das Schauspiel dieses Eindrucks, das wirkliche Gefühl der Überlegenheit fortwährend. — Diess unbestreitbare Glück der vornehmen Cultur, welches auf dem Gefühl der Überlegenheit sich aufbaut, beginnt jetzt auf eine noch höhere Stufe zu steigen, da es nunmehr, Dank allen freien Geistern, dem adelig Geborenen und Erzogenen erlaubt und nicht mehr schimpflich ist, in den Orden der Erkenntniss zu treten und dort geistigere Weihen zu holen, höhere Ritterdienste zu lernen, als bisher, und zu jenem Ideal der siegreichen Weisheit aufzuschauen, welches noch keine Zeit mit so gutem Gewissen vor sich aufstellen durfte wie die Zeit, welche gerade jetzt kommen will. Zu guterletzt: womit soll sich denn fürderhin der Adel beschäftigen, wenn es von Tag zu Tage mehr den Anschein hat, dass es unanständig wird, sich mit Politik zu befassen? —

202.

Zur Pflege der Gesundheit. — Man hat kaum angefangen, über die Physiologie der Verbrecher nachzudenken und doch steht man schon vor der unabweislichen Einsicht, dass zwischen Verbrechern und Geisteskranken kein wesentlicher Unterschied besteht: vorausgesetzt, dass man glaubt, die übliche moralische Denkweise sei die Denkweise der geistigen Gesundheit. Kein Glaube aber wird jetzt so gut noch geglaubt, wie dieser, und so scheue man sich nicht, seine Consequenz zu ziehen und den Verbrecher wie einen Geisteskranken zu behandeln: vor Allem nicht mit hochmüthiger Barmherzigkeit, sondern mit ärztlicher Klugheit, ärztlichem guten Willen. Es thut ihm Luftwechsel, andere Gesellschaft, zeitweiliges Verschwinden, vielleicht Alleinsein und eine neue Beschäftigung noth, — gut! Vielleicht findet er es selber in seinem Vortheil, eine Zeit hindurch in einem Gewahrsam zu leben, um so Schutz gegen sich selber und einen lästigen tyrannischen Trieb zu finden, — gut! Man soll ihm die Möglichkeit und die Mittel des Geheiltwerdens (der Ausrottung, Umbildung, Sublimirung jenes Triebes) ganz klar vorlegen, auch, im schlimmen Falle, die Unwahrscheinlichkeit desselben; man soll dem unheilbaren Verbrecher, der sich selber zum Greuel geworden ist, die Gelegenheit zum Selbstmord anbieten. Diess als äusserstes Mittel der Erleichterung vorbehalten: soll man Nichts verabsäumen, um vor Allem dem Verbrecher den guten Muth und die Freiheit des Gemüthes wieder zu geben; man soll Gewissensbisse wie eine Sache der Unreinlichkeit ihm von der Seele wischen und ihm Fingerzeige geben, wie er den Schaden, welchen er vielleicht an dem Einen geübt, durch eine Wohlthat am Anderen, ja vielleicht an der Gesammtheit ausgleichen und überbieten könne. Alles in äusserster Schonung! Und namentlich in Anonymität oder unter neuen Namen und mit häufigerem Ortswechsel, damit die Unbescholtenheit des Rufes und sein künftiges Leben so wenig wie möglich dabei Gefahr laufe. Jetzt zwar will immer noch Der, welchem ein Schaden zugefügt ist, ganz abgesehen davon, wie dieser Schaden etwa gut zu machen ist, seine Rache haben und wendet sich ihrethalben an die Gerichte, — und diess hält einstweilen unsere abscheulichen Strafordnungen noch aufrecht, sammt ihrer Krämerwage und dem Aufwiegenwollen der Schuld durch die Strafe: aber dürften wir nicht hierüber hinaus kommen können? Wie erleichtert wäre das allgemeine Gefühl des Lebens, wenn man mit dem Glauben an die Schuld auch vom alten Instinct der Rache sich losmachte und es selbst als eine feine Klugheit der Glücklichen betrachtete, mit dem Christenthum den Segen über seine Feinde zu sprechen und Denen wohlzuthun, die uns beleidigt haben! Schaffen wir den Begriff der Sünde aus der Welt — und schicken wir ihm den Begriff der Strafe bald hinterdrein! Mögen diese verbannten Unholde irgendwo anders fürderhin., als unter Menschen, leben, wenn sie durchaus leben wollen und nicht am eigenen Ekel zu Grunde gehen! — Inzwischen erwäge man, dass die Einbusse, welche die Gesellschaft und die Einzelnen durch die Verbrecher erleiden, der Einbusse ganz gleichartig ist, welche sie von den Kranken erleiden: die Kranken verbreiten Sorge, Missmuth, produciren nicht, zehren den Ertrag Anderer auf, brauchen Wärter, Ärzte, Unterhaltung und leben von der Zeit und den Kräften der Gesunden. Trotzdem würde man jetzt Den als unmenschlich bezeichnen, welcher dafür an den Kranken Rache nehmen wollte. Ehedem freilich that man diess; in rohen Zuständen der Cultur und jetzt noch bei manchen wilden Völkern, wird der Kranke in der That als Verbrecher behandelt, als die Gefahr der Gemeinde und als Wohnsitz irgend eines dämonischen Wesens, welches sich ihm in Folge einer Schuld einverleibt hat, — da heisst es: jeder Kranke ist ein Schuldiger! Und wir, — sollten wir noch nicht reif für die entgegengesetzte Anschauung sein? sollten wir noch nicht sagen dürfen: jeder» Schuldige «ist ein Kranker? — Nein, die Stunde dafür ist noch nicht gekommen. Noch fehlen vor Allem die Ärzte, für welche Das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück ihrer Heilkunst und Heilwissenschaft umgewandelt haben muss; noch fehlt allgemein jenes hungrige Interesse an diesen Dingen, das vielleicht einmal dem Sturm und Drang jener alten religiösen Erregungen nicht unähnlich erscheinen wird; noch sind die Kirchen nicht im Besitz der Pfleger der Gesundheit; noch gehört die Lehre von dem Leibe und von der Diät nicht zu den Verpflichtungen aller niederen und höheren Schulen; noch giebt es keine stillen Vereine Solcher, welche sich unter einander verpflichtet haben, auf die Hülfe der Gerichte und auf Strafe und Rache an ihren Übelthätern zu verzichten; noch hat kein Denker den Muth gehabt, die Gesundheit einer Gesellschaft und der Einzelnen darnach zu bemessen, wie viel Parasiten sie ertragen kann, und noch fand sich kein Staatengründer, welcher die Pflugschar im Geiste jener freigebigen und mildherzigen Rede führte:»willst du das Land bauen, so baue mit dem Pfluge: da geneusst dein der Vogel und der Wolf, der hinter deinem Pfluge geht, — es geneusst dein alle Creatur.»

203.

Gegen die schlechte Diät. — Pfui über die Mahlzeiten, welche jetzt die Menschen machen, in den Gasthäusern sowohl als überall, wo die wohlbestellte Classe der Gesellschaft lebt! Selbst wenn hochansehnliche Gelehrte zusammenkommen, ist es die selbe Sitte, welche ihren Tisch wie den des Banquiers füllt: nach dem Gesetz des» Viel zu viel «und des» Vielerlei«, — woraus folgt, dass die Speisen auf den Effect und nicht auf die Wirkung hin zubereitet werden, und aufregende Getränke helfen müssen, die Schwere im Magen und Gehirn zu vertreiben. Pfui, welche Wüstheit und Überempfindsamkeit muss die allgemeine Folge sein! Pfui, welche Träume müssen ihnen kommen! Pfui, welche Künste und Bücher werden der Nachtisch solcher Mahlzeiten sein! Und mögen sie thun, was sie wollen: in ihrem Thun wird der Pfeffer und der Widerspruch oder die Weltmüdigkeit regieren! (Die reiche Classe in England hat ihr Christenthum nöthig, um ihre Verdauungsbeschwerden und ihre Kopfschmerzen ertragen zu können.) Zuletzt, um das Lustige an der Sache und nicht nur deren Ekelhaftes zu sagen, sind diese Menschen keineswegs Schlemmer; unser Jahrhundert und seine Art Geschäftigkeit ist mächtiger über ihre Glieder, als ihr Bauch: was wollen also diese Mahlzeiten? — Sie repräsentiren! Was, in aller Heiligen Namen? Den Stand? — Nein, das Geld: man hat keinen Stand mehr! Man ist» Individuum«! Aber Geld ist Macht, Ruhm, Würde, Vorrang, Einfluss; Geld macht jetzt das grosse oder kleine moralische Vorurtheil für einen Menschen, je nachdem er davon hat! Niemand will es unter den Scheffel, Niemand möchte es auf den Tisch stellen; folglich muss das Geld einen Repräsentanten haben, den man auf den Tisch stellen kann: siehe unsere Mahlzeiten! —