192.

Sich vollkommene Gegner wünschen. — Man kann es den Franzosen nicht streitig machen, dass sie das christlichste Volk der Erde gewesen sind: nicht in Hinsicht darauf, dass die Gläubigkeit der Masse bei ihnen grösser gewesen sei, als anderwärts, sondern desshalb, weil bei ihnen die schwierigsten christlichen Ideale sich in Menschen verwandelt haben und nicht nur Vorstellung, Ansatz, Halbheit geblieben sind. Da steht Pascal, in der Vereinigung von Gluth, Geist und Redlichkeit der erste aller Christen, — und man erwäge, was sich hier zu vereinigen hatte! Da steht Fénelon, der vollkommene und bezaubernde Ausdruck der kirchlichen Cultur in allen ihren Kräften: eine goldene Mitte, die man als Historiker geneigt sein könnte, als etwas Unmögliches zu beweisen, während die nur etwas unsäglich Schwieriges und Unwahrscheinliches gewesen ist. Da steht Frau von Guyon unter ihres Gleichen, den französischen Quietisten: und Alles, was die Beredtsamkeit und die Brunst des Apostels Paulus vom Zustande der erhabensten, liebendsten, stillsten, verzücktesten Halbgöttlichkeit des Christen zu errathen gesucht hat, ist da Wahrheit geworden und hat dabei jene jüdische Zudringlichkeit, welche Paulus gegen Gott hat, abgestreift, Dank einer ächten, frauenhaften, feinen, vornehmen, altfranzösischen Naivität in Wort und Gebärde. Da steht der Gründer der Trappistenklöster, er, der mit dem asketischen Ideale des Christenthums den letzten Ernst gemacht hat, nicht als eine Ausnahme unter Franzosen, sondern recht als Franzose: denn bis zu diesem Augenblick vermochte seine düstere Schöpfung nur unter Franzosen heimisch und kräftig zu bleiben, sie folgte ihnen in den Elsass und nach Algerien. Vergessen wir die Hugenotten nicht: schöner ist die Vereinigung des kriegerischen und arbeitsamen Sinnes, der feineren Sitte und der christlichen Strenge bisher nicht dagewesen. Und in Port Royal kam zum letzten Male das grosse christliche Gelehrtenthum zum Blühen: und das Blühen verstehen grosse Menschen in Frankreich besser, als anderwärts. Ferne davon, oberflächlich zu sein, hat ein grosser Franzose immer doch seine Oberfläche, eine natürliche Haut für seinen Inhalt und seine Tiefe, — während die Tiefe eines grossen Deutschen zumeist wie in einer krausförmigen Kapsel verschlossen gehalten wird, als ein Elixir, das vor Licht und leichtfertigen Händen durch seine harte und wunderliche Hülle sich zu schützen sucht. — Und nun errathe man, warum dieses Volk der vollendeten Typen der Christlichkeit auch die vollendeten Gegentypen des unchristlichen Freigeistes erzeugen musste! Der französische Freigeist kämpfte in sich immer mit grossen Menschen und nicht nur mit Dogmen und erhabenen Missgeburten, wie die Freigeister anderer Völker.

193.

Esprit und Moral. — Der Deutsche, welcher sich auf das Geheimniss versteht, mit Geist, Wissen und Gemüth langweilig zu sein, und sich gewöhnt hat, die Langeweile als moralisch zu empfinden, — hat vor dem französischen esprit die Angst, er möchte der Moral die Augen ausstechen — und doch eine Angst und Lust, wie das Vöglein vor der Klapperschlange. Von den berühmten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt, als Hegel, — aber er hatte dafür auch eine so grosse deutsche Angst vor ihm, dass sie seinen eigenthümlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist nämlich, dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt wird, bis er kaum noch hindurchblickt, verschämt und neugierig, — wie» junge Frau'n durch ihre Schleier blicken«, um mit dem alten Weiberhasser Aeschylus zu reden — : jener Kern ist aber ein witziger, oft vorlauter Einfall über die geistigsten Dinge, eine feine, gewagte Wortverbindung, wie so Etwas in die Gesellschaft von Denkern gehört, als Zukost der Wissenschaft, — aber in jenen Umwickelungen präsentirt es sich als abstruse Wissenschaft selber und durchaus als höchst moralische Langeweile! Da hatten die Deutschen eine ihnen erlaubte Form des esprit und sie genossen sie mit solchem ausgelassenen Entzücken, dass Schopenhauer's guter, sehr guter Verstand davor stille stand, — er hat zeitlebens gegen das Schauspiel, welches ihm die Deutschen boten, gepoltert, aber es nie sich zu erklären vermocht.

194.

Eitelkeit der Morallehrer. — Der im Ganzen geringe Erfolg der Morallehrer hat darin seine Erklärung, dass sie zu viel auf Ein Mal wollten, das heisst, dass sie zu ehrgeizig waren: sie wollten allzugern Vorschriften für Alle geben. Diess aber heisst im Unbestimmten schweifen und Reden an die Thiere halten, um sie zu Menschen zu machen: was Wunder, dass die Thiere diess langweilig finden! Man sollte begränzte Kreise sich aussuchen und für sie die Moral suchen und fördern, also zum Beispiel Reden vor den Wölfen halten, um sie zu Hunden zu machen. Vor Allem aber bleibt der grosse Erfolg immer Dem, welcher weder Alle, noch begränzte Kreise, sondern Einen erziehen will und gar nicht nach rechts und links ausspäht. Das vorige Jahrhundert ist dem unseren eben dadurch überlegen, dass es in ihm so viele einzeln erzogene Menschen gab, nebst eben so vielen Erziehern, welche hier die Aufgabe ihres Lebens gefunden hatten — und mit der Aufgabe auch Würde, vor sich und aller anderen» guten Gesellschaft«.

195.

Die sogenannte classische Erziehung. — Zu entdecken, dass unser Leben der Erkenntniss geweiht ist; dass wir es wegwerfen würden, nein! dass wir es weggeworfen hätten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schützte; jenen Vers sich oft und mit Erschütterung vorsprechen:

«Schicksal, ich folge dir! Und wollt' ich nicht,
ich müsst' es doch und unter Seufzen thun!»

— Und nun, bei einem Rückblick auf den Weg des Lebens, ebenfalls entdecken, dass Etwas nicht wieder gut zu machen ist: die Vergeudung unserer Jugend, als unsre Erzieher jene wissbegierigen, heissen und durstigen Jahre nicht dazu verwandten, uns der Erkenntniss der Dinge entgegenzuführen, sondern der sogenannten» Classischen Bildung«! Die Vergeudung unserer Jugend, als man uns ein dürftiges Wissen um Griechen und Römer und deren Sprachen ebenso ungeschickt, als quälerisch beibrachte und zuwider dem obersten Satze aller Bildung: dass man nur Dem, der Hunger darnach hat, eine Speise gebe! Als man uns Mathematik und Physik auf eine gewaltsame Weise aufzwang, anstatt uns erst in die Verzweiflung der Unwissenheit zu führen und unser kleines tägliches Leben, unsere Hantierungen und Alles, was sich zwischen Morgen und Abend im Hause, in der Werkstatt, am Himmel, in der Landschaft begiebt, in Tausende von Problemen aufzulösen, von peinigenden, beschämenden, aufreizenden Problemen, — um unsrer Begierde dann zu zeigen, dass wir ein mathematisches und mechanisches Wissen zu allernächst nöthig haben und uns dann das erste wissenschaftliche Entzücken an der absoluten Folgerichtigkeit dieses Wissens zu lehren! Hätte man uns auch nur die Ehrfurcht vor diesen Wissenschaften gelehrt, hätte man uns mit dem Ringen und Unterliegen und Wieder-Weiterkämpfen der Grossen, von dem Martyrium, welches die Geschichte der strengen Wissenschaft ist, auch nur Ein Mal die Seele erzittern machen! Vielmehr blies uns der Hauch einer gewissen Geringschätzung der eigentlichen Wissenschaften an, zu Gunsten der Historie, der» formalen Bildung «und der» Classicität«! Und wir liessen uns so leicht betrügen! Formale Bildung! Hätten wir nicht auf die besten Lehrer unserer Gymnasien zeigen können, lachend und fragend:»wo ist denn da die formale Bildung? Und wenn sie fehlt, wie sollen sie dieselbe lehren?«Und Classicität! Lernten wir Etwas von dem, worin gerade die Alten ihre Jugend erzogen? Lernten wir sprechen wie sie, schreiben wie sie? übten wir uns unablässig in der Fechtkunst des Gesprächs, in der Dialektik? Lernten wir uns schön und stolz bewegen wie sie, ringen, werfen, faustkämpfen wie sie? Lernten wir Etwas von der praktischen Asketik aller griechischen Philosophen? Wurden wir in einer einzigen antiken Tugend geübt und in der Weise, wie die Alten sie übten? Fehlte nicht überhaupt das ganze Nachdenken über Moral in unserer Erziehung, um wieviel mehr gar die einzig mögliche Kritik desselben, jene strengen und muthigen Versuche, in dieser oder jener Moral zu leben? Erregte man in uns irgend ein Gefühl, das den Alten höher galt, als den Neueren? Zeigte man uns die Eintheilung des Tages und des Lebens und die Ziele über dem Leben in einem antiken Geiste? Lernten wir auch nur die alten Sprachen so, wie wir die lebender Völker lernen, — nämlich zum Sprechen und zum Bequem-und-Gut-Sprechen? Nirgends ein wirkliches Können, ein neues Vermögen als Ergebniss mühseliger Jahre! Sondern ein Wissen darum, was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben! Und was für ein Wissen! Nichts wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als dass alles griechische und antike Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr schwer verständlich, ja, kaum zugänglich ist, und dass die übliche Leichtigkeit, mit der von den Alten geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter erblicher Dünkel der Gedankenlosigkeit ist. Die ähnlichen Worte und Begriffe täuschen uns: aber hinter ihnen liegt immer eine Empfindung versteckt, welche dem modernen Empfinden fremd, unverständlich oder peinlich sein müsste. Das sind mir Gebiete, auf denen sich Knaben tummeln dürften! Genug, wir haben es gethan, als wir Knaben waren und uns beinahe für immer dabei einen Widerwillen gegen das Alterthum heimgeholt, den Widerwillen einer scheinbar allzugrossen Vertraulichkeit! Denn so weit geht die stolze Einbildung unserer classischen Erzieher, gleichsam im Besitze der Alten zu sein, dass sie diesen Dünkel noch auf die Erzogenen überfliessen lassen, nebst dem Verdachte, dass ein solcher Besitz nicht wohl selig machen könne, sondern dass er gut genug für rechtschaffene, arme, närrische alte Bücher-Drachen sei:»mögen diese auf ihrem Horte brüten! er wird wohl ihrer würdig sein!«— mit diesem stillen Hintergedanken vollendete sich unsere classische Erziehung. — Diess ist nicht wieder gut zu machen — an uns! Aber denken wir nicht nur an uns!