Friedrich Nietzsche

Morgenröthe

Vorrede

1.

In diesem Buche findet man einen» Unterirdischen «an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, dass man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat — , wie er langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne dass die Noth sich allzusehr verriethe, welche jede lange Entbehrung von Licht und Luft mit sich bringt; man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen. Scheint es nicht, dass irgend ein Glaube ihn führt, ein Trost entschädigt? Dass er vielleicht seine eigne lange Finsterniss haben will, sein Unverständliches, Verborgenes, Räthselhaftes, weil er weiss, was er auch haben wird: seinen eignen Morgen, seine eigne Erlösung, seine eigne Morgenröthe?… Gewiss, er wird zurückkehren: fragt ihn nicht, was er da unten will, er wird es euch selbst schon sagen, dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische, wenn er erst wieder» Mensch geworden «ist. Man verlernt gründlich das Schweigen, wenn man so lange, wie er, Maulwurf war, allein war —

2.

In der That, meine geduldigen Freunde, ich will es euch sagen, was ich da unten wollte, hier in dieser späten Vorrede, welche leicht hätte ein Nachruf, eine Leichenrede werden können: denn ich bin zurück gekommen und — ich bin davon gekommen. Glaubt ja nicht, dass ich euch zu dem gleichen Wagnisse auffordern werde! Oder auch nur zur gleichen Einsamkeit! Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet Niemandem: das bringen die» eignen Wege «mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen; mit Allem, was ihm von Gefahr, Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustösst, muss er allein fertig werden. Er hat eben seinen Weg für sich — und, wie billig, seine Bitterkeit, seinen gelegentlichen Verdruss an diesem» für sich«: wozu es zum Beispiel gehört, zu wissen, dass selbst seine Freunde nicht errathen können, wo er ist, wohin er geht, dass sie sich bisweilen fragen werden» wie? geht er überhaupt? hat er noch — einen Weg?«— Damals unternahm ich Etwas, das nicht Jedermanns Sache sein dürfte: ich stieg in die Tiefe, ich bohrte in den Grund, ich begann ein altes Vertrauen zu untersuchen und anzugraben, auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten, — immer wieder, obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte ich begann unser Vertrauen zur Moral zu untergraben. Aber ihr versteht mich nicht?

3.

Es ist bisher am schlechtesten über Gut und Böse nachgedacht worden: es war dies immer eine zu gefährliche Sache. Das Gewissen, der gute Ruf, die Hölle, unter Umständen selbst die Polizei erlaubten und erlauben keine Unbefangenheit; in Gegenwart der Moral soll eben, wie Angesichts jeder Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden: hier wird — gehorcht! So lang die Welt steht, war noch keine Autorität Willens, sich zum Gegenstand der Kritik nehmen zu lassen; und gar die Moral kritisiren, die Moral als Problem, als problematisch nehmen: wie? war das nicht — ist das nicht — unmoralisch? — Aber die Moral gebietet nicht nur über jede Art von Schreckmitteln, um sich kritische Hände und Folterwerkzeuge vom Leibe zu halten: ihre Sicherheit liegt noch mehr in einer gewissen Kunst der Bezauberung, auf die sie sich versteht, — sie weiss zu» begeistern«. Es gelingt ihr, oft mit einem einzigen Blicke, den kritischen Willen zu lähmen, sogar zu sich hinüberzulocken, ja es giebt Fälle, wo sie ihn gegen sich selbst zu kehren weiss: so dass er sich dann, gleich dem Skorpione, den Stachel in den eignen Leib sticht. Die Moral versteht sich eben von Alters her auf jede Teufelei von Ueberredungskunst: es giebt keinen Redner, auch heute noch, der sie nicht um ihre Hülfe angienge (man höre zum Beispiel selbst unsere Anarchisten reden: wie moralisch reden sie, um zu überreden! Zuletzt heissen sie sich selbst noch gar» die Guten und Gerechten«.) Die Moral hat sich eben von jeher, so lange auf Erden geredet und überredet worden ist, als die grösste Meisterin der Verführung bewiesen — und, was uns Philosophen angeht, als die eigentliche Circe der Philosophen. Woran liegt es doch, dass von Plato ab alle philosophischen Baumeister in Europa umsonst gebaut haben? Dass Alles einzufallen droht oder schon in Schutt liegt, was sie selber ehrlich und ernsthaft für aere perennius hielten? Oh wie falsch ist die Antwort, welche man jetzt noch auf diese Frage bereit hält,»weil von ihnen Allen die Voraussetzung versäumt war, die Prüfung des Fundamentes, eine Kritik der gesammten Vernunft«— jene verhängnissvolle Antwort Kant's, der damit uns moderne Philosophen wahrhaftig nicht auf einen festeren und weniger trüglichen Boden gelockt hat! (- und nachträglich gefragt, war es nicht etwas sonderbar, zu verlangen, dass ein Werkzeug seine eigne Trefflichkeit und Tauglichkeit kritisiren solle? dass der Intellekt selbst seinen Werth, seine Kraft, seine Grenzen» erkennen «solle? war es nicht sogar ein wenig widersinnig? — ) Die richtige Antwort wäre vielmehr gewesen, dass alle Philosophen unter der Verführung der Moral gebaut haben, auch Kant — , dass ihre Absicht scheinbar auf Gewissheit, auf» Wahrheit«, eigentlich aber auf «majestätische sittliche Gebäude «ausgieng: um uns noch einmal der unschuldigen Sprache Kant's zu bedienen, der es als seine eigne» nicht so glänzende, aber doch auch nicht verdienstlose «Aufgabe und Arbeit bezeichnet,»den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen«(Kritik der reinen Vernunft II, S. 257). Ach, es ist ihm damit nicht gelungen, im Gegentheil! — wie man heute sagen muss. Kant war mit einer solchen schwärmerischen Absicht eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andere das Jahrhundert der Schwärmerei genannt werden darf: wie er es, glücklicher Weise, auch in Bezug auf dessen werthvollere Seiten geblieben ist (zum Beispiel mit jenem guten Stück Sensualismus, den er in seine Erkenntnisstheorie hinübernahm). Auch ihn hatte die Moral-Tarantel Rousseau gebissen, auch ihm lag der Gedanke des moralischen Fanatismus auf dem Grunde der Seele, als dessen Vollstrecker sich ein andrer Jünger Rousseau's fühlte und bekannte, nämlich Robespierre,»de fonder sur la terre l'empire de la sagesse, de la justice et de la vertu«(Rede vom 7. Juni 1794). Andererseits konnte man es, mit einem solchen Franzosen-Fanatismus im Herzen, nicht unfranzösischer, nicht tiefer, gründlicher, deutscher treiben — wenn das Wort» deutsch «in diesem Sinne heute noch erlaubt ist — als es Kant getrieben hat: um Raum für sein» moralisches Reich «zu schaffen, sah er sich genöthigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches» Jenseits«, — dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nöthig! Anders ausgedrückt: er hätte sie nicht nöthig gehabt, wenn ihm nicht Eins wichtiger als Alles gewesen wäre, das» moralische Reich «unangreifbar, lieber noch ungreifbar für die Vernunft zu machen, — er empfand eben die Angreifbarkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der Vernunft zu stark! Denn Angesichts von Natur und Geschichte, Angesichts der gründlichen Unmoralität von Natur und Geschichte war Kant, wie jeder gute Deutsche von Alters her, Pessimist; er glaubte an die Moral, nicht weil sie durch Natur und Geschichte bewiesen wird, sondern trotzdem dass ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen wird. Man darf sich vielleicht, um dies» trotzdem dass «zu verstehen, an etwas Verwandtes bei Luther erinnern, bei jenem andern grossen Pessimisten, der es einmal mit der ganzen Lutherischen Verwegenheit seinen Freunden zu Gemüthe führte:»wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein könne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den Glauben?«Nichts nämlich hat von jeher einen tieferen Eindruck auf die deutsche Seele gemacht, Nichts hat sie mehr» versucht«, als diese gefährlichste aller Schlussfolgerungen, welche jedem rechten Romanen eine Sünde wider den Geist ist: credo quia absurdum est: — mit ihr tritt die deutsche Logik zuerst in der Geschichte des christlichen Dogma's auf; aber auch heute noch, ein Jahrtausend später, wittern wir Deutschen von heute, späte Deutsche in jedem Betrachte — Etwas von Wahrheit, von Möglichkeit der Wahrheit hinter dem berühmten realdialektischen Grund-Satze, mit welchem Hegel seiner Zeit dem deutschen Geiste zum Sieg über Europa verhalf — »der Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend«—: wir sind eben, sogar bis in die Logik hinein, Pessimisten.