Der Aufruf war beendet. Man hatte sich geeinigt, daß dreiviertel eines Russen und die obere Hälfte des Sträflings Sibolski aus Baracke 5 fehlten. Es stimmte nicht ganz. Von Sibolski waren die Arme da. Sie befanden sich allerdings im Besitz von Baracke 17, die sie als die Reste Josef Binswangers ausgab, von dem nichts wiedergefunden worden war. Dafür hatten zwei Mann von Baracke 5 die untere Hälfte des Russen gestohlen, die dort als Sibolski ausgegeben wurde, da Beine schwer zu unterscheiden waren. Zum Glück waren außerdem noch ein paar überzählige Gliederstücke da, die auf die eineinviertel Fehlenden angerechnet werden konnten. Damit war klar, daß keiner der Häftlinge im Wirrwarr des Bombardements geflüchtet war. Trotzdem wäre es möglich gewesen, daß alle bis zum Morgen auf dem Appellplatz hätten stehen müssen, um dann im Kupferwerk weiter nach den Resten zu suchen – das Lager hatte ein paar Wochen vorher einmal zwei Tage gestanden, bis jemand gefunden worden war, der im Schweinestall Selbstmord verübt hatte. Weber saß ruhig auf seinem Stuhl, das Kinn immer noch auf die Hände gestützt. Er hatte sich während der ganzen Zeit kaum gerührt. Nach der Meldung erhob er sich langsam und streckte sich.»Die Leute haben lange genug gestanden. Sie brauchen Bewegung. Erdkunde üben!«Befehle hallten über den Platz:»Hände hinter dem Kopf verschränken! Knie beugt! Froschhüpfen! Vorwärts – hüpft!«Die langen Reihen gehorchten. Sie hüpften langsam mit gebeugten Knien vorwärts. Der Mond war inzwischen weiter aufgestiegen und heller geworden. Er beleuchtete jetzt schon einen Teil des Appellplatzes. Der andere lag im Schatten, den die Gebäude warfen. Die Umrisse des Krematoriums, des Tores und sogar des Galgens zeichneten sich scharf auf dem Boden ab.»Zurückhüpfen!«Die Reihen hüpften aus dem Licht wieder in das Dunkel zurück. Leute fielen um. SS-Mannschaften, Kapos und Blockälteste prügelten sie wieder hoch. Das Schreien war kaum zu hören über dem Scharren der zahllosen Füße.»Vorwärts! Zurück! Vorwärts! Zurück! Stillgestanden!«Jetzt begann die eigentliche Erdkunde. Sie bestand darin, daß die Gefangenen sich hinwerfen mußten, auf dem Boden kriechen, aufspringen, sich wieder hinwerfen und weiterkriechen. Sie lernten auf diese Weise die Erde des Tanzplatzes schmerzlich genau kennen. Nach kurzer Zeit war der Platz ein Durcheinander von wimmelnden riesigen gestreiften Maden, die wenig Menschliches an sich zu haben schienen. So gut sie konnten, schützten sie die Verwundeten; aber in der Hast und Angst war es nicht immer möglich. Nach einer Viertelstunde befahl Weber Halt. Die Viertelstunde hatte allerdings Verwüstungen unter den erschöpften Häftlingen angerichtet. Überall lagen welche herum, die nicht weiter konnten.»In Blocks ausgerichtet antreten!«Die Leute schleppten sich zurück. Sie holten die Zusammengebrochenen und hielten die zwischen sich fest, die noch stehen konnten. Die anderen legten sie neben die Verwundeten. Das Lager stand still. Weber trat vor.»Was ihr da soeben gemacht habt, ist in eurem eigenen Interesse geschehen. Ihr habt gelernt, wie man bei Luftangriffen Deckung nimmt.«Ein paar SS-Leute kicherten. Weber warf einen Blick zu ihnen hinüber und fuhr fort:»Ihr habt heute am eigenen Leibe erfahren, mit welch einem unmenschlichen Feinde wir es zu tun haben. Deutschland, das immer nur Frieden wollte, ist in brutaler Weise angefallen worden. Der Feind, der an der Front überall geschlagen worden ist, greift in seiner Verzweiflung zu einem letzten Mittel: er bombardiert gegen jedes Völkerrecht in feigster Weise offene, friedliche deutsche Städte. Er zerstört Kirchen und Hospitäler. Er mordet wehrlose Frauen und Kinder. Es war nicht anders von Untermenschen und Bestien zu erwarten. Wir werden die Antwort nicht schuldig bleiben. Das Lagerkommando verfügt ab morgen vermehrte Arbeitsleistung. Die Kommandos rücken eine Stunde früher aus, um aufzuräumen. Sonntags gibt es bis auf weiteres keine Freizeit mehr. Juden erhalten zwei Tage kein Brot. Bedankt euch bei den feindlichen Mordbrennern dafür.«Weber schwieg. Das Lager rührte sich nicht. Man hörte den Berg hinauf das hohe Summen eines starken Wagens, der rasch näher kam. Es war der Mercedes Neubauers.»Singen!«kommandierte Weber.»Deutschland, Deutschland über alles!«Die Blocks begannen nicht sofort. Sie waren überrascht. In den letzten Monaten war nicht mehr oft befohlen worden zu singen – und wenn, dann waren es immer Volkslieder gewesen. Sie wurden meistens angeordnet, wenn die Prügelstrafen vollzogen wurden. Während die Gemarterten schrieen, hatten die übrigen Sträflinge dazu lyrische Strophen zu singen. Die alte, frühere Nationalhymne aus der Vornazizeit aber war seit Jahren nicht mehr befohlen worden.
»Los, ihre Schweine!«
In Block 13 begann Münzer zu singen. Die anderen fielen ein. Wer den Text nicht mehr kannte, markierte. Die Hauptsache war, daß alle Münder sich bewegten.
»Wozu?«flüsterte Münzer nach einer Weile, ohne den Kopf zu bewegen, zu seinem Nebenmann Werner hinüber, während er scheinbar weitersang.
»Was?«
Die Melodie wurde zu einem dünnen Krächzen. Sie war nicht tief genug angefangen worden, und die Stimmen konnten jetzt die hohen, jubilierenden Noten der Schlußzeilen nicht erreichen und brachen ab. Die Häftlinge hatten auch nicht mehr viel Atem.
»Was ist das für ein saumäßiges Gebell?«brüllte der zweite Lagerführer.»Noch einmal von vorn!
Wenn's diesmal nicht klappt, bleibt ihr die ganze Nacht hier!«
Die Häftlinge begannen tiefer. Das Lied ging jetzt besser.
»Was?«wiederholte Werner.
»Wozu gerade Deutschland, Deutschland über alles -?«
Werner kniff die Augen zusammen.»Trauen vielleicht – ihren eigenen Naziliedern nicht mehr ganz so – nach heute -«, sang er.
Die Gefangenen starrten geradeaus. Werner spürte eine sonderbare Spannung in sich aufsteigen. Er hatte auf einmal das Gefühl, daß nicht nur er allein sie spüre – als spüre auch Münzer sie, als spüre Goldstein am Boden sie, als spürten viele andere sie und als spüre sie sogar die SS. Das Lied klang plötzlich nicht mehr so, wie die Häftlinge sonst sangen. Es war lauter und fast herausfordernd ironisch geworden, und der Text hatte nichts mehr damit zu tun. Hoffentlich merkt Weber es nicht, dachte er, während er auf den Lagerführer blickte – sonst gibt es noch mehr Tote, als bereits da liegen.
Goldsteins Gesicht am Boden war dicht vor dem Gesicht Schellers. Schellers Lippen bewegten sich. Goldstein konnte nicht verstehen, was er sagte; aber er sah die halboffenen Augen und ahnte, was es war.»Quatsch!«sagte er.»Wir haben den Lazarettkapo. Er wird es schieben. Du kommst durch.«
Scheller erwiderte etwas.»Halt die Schnauze!«rief Goldstein durch den Lärm zurück:»Du kommst durch, fertig!«Er sah die graue, poröse Haut vor sich.»Sie spritzen dich nicht ab!«heulte er als Text in die letzten Takte.»Wir haben den Lazarettkapo! Er wird den Arzt bestechen!«
»Achtung!«
Der Gesang brach ab. Der Lagerkommandant war auf den Platz gekommen. Weber meldete.»Ich habe den Brüdern eine kurze Predigt gehalten und ihnen eine Stunde Mehrarbeit aufgeknallt.«
Neubauer war uninteressiert. Er schnüffelte in die Luft und blickte zum Nachthimmel auf.»Glauben Sie, daß die Bande heute nacht wiederkommt?«
Weber grinste.»Nach den letzten Radiomeldungen haben wir neunzig Prozent abgeschossen.«
Neubauer fand das nicht witzig. Hat auch nichts zu verlieren, dachte er. Kleiner Dietz, Landsknecht, weiter nichts.»Lassen Sie die Leute abtreten, wenn Sie fertig sind«, erklärte er plötzlich mürrisch.
»Wegtreten lassen!«
Die Blocks marschierten ab zu den Baracken. Sie nahmen ihre Verwundeten und Toten mit. Die Toten mußten gemeldet und in die Listen eingetragen werden, bevor sie im Krematorium abgeliefert wurden. Schellers Gesicht war spitz wie das eines Zwerges, als Werner, Münzer und Goldstein ihn aufnahmen. Er sah aus, als ob er die Nacht nicht überleben würde. Goldstein hatte während der Erdkunde einen Schlag gegen die Nase bekommen. Sie fing an zu bluten, als er marschierte. Das Blut schillerte im fahlen Licht dunkel auf seinem Kinn.