509 ließ ihn jammern, ohne zuzuhören. Lebenthal merkte es und hörte auf.»Wir haben doch schon öfter Brotentzug gehabt«, sagte er schließlich lahm.»Und für länger als zwei Tage. Was ist los mit dir, daß du heute so viel Theater deswegen machst?«509 sah ihn eine Weile an. Dann deutete er auf die Stadt und die brennende Kirche.
»Was los ist? Das da, Leo -«
»Was?«
»Das da unten. Wie war das doch damals im Alten Testament?«
»Was hast du mit dem Alten Testament zu schaffen?«
»Gab es da nicht so etwas unter Moses? Eine Feuersäule, die das Volk aus der Knechtschaft führte?«
Lebenthal blinkte mit den Augen.»Eine Rauchwolke bei Tag und eine Feuersäule bei Nacht«, sagte er, ohne zu jammern.»Meinst du das?«
»Ja. Und war nicht Gott darin?«
»Jehova.«
»Gut, Jehova. Und das da unten – weißt du, was das ist?«509 wartete einen Augenblick.»Es ist etwas Ähnliches«, sagte er dann.»Es ist Hoffnung, Leo, Hoffnung für uns! Verdammt, will das denn keiner von euch sehen?«
Lebenthal antwortete nicht. Er saß in sich geduckt und blickte auf die Stadt hinunter.
509 ließ sich zurücksinken. Er hatte es endlich jetzt zum erstenmal ausgesprochen.
Man kann es kaum sagen, dachte er, es erschlägt einen fast, es ist ein so ungeheures Wort. Ich habe es vermieden durch all die Jahre, es hätte mich zerfressen, wenn ich es gedacht hätte; – aber jetzt ist es wiedergekommen, heute, man wagt noch nicht, es ganz auszudenken, aber es ist da, und entweder zerbricht es mich nun oder es wird wahr.
»Leo«, sagte er.»Das da unten bedeutet, daß auch dieses hier kaputtgehen wird.«
Lebenthal rührte sich nicht.»Wenn sie den Krieg verlieren,«, flüsterte er.»Nur dann! Aber wer weiß das?«Er sah sich unwillkürlich ängstlich um.
Das Lager war in den ersten Jahren ziemlich gut über den Verlauf des Krieges informiert gewesen.
Später jedoch, als die Siege ausblieben, hatte Neubauer verboten, Zeitungen hereinzubringen und Nachrichten über den Rückzug im Lagerradio bekanntzugeben. Die wildesten Gerüchte hatten seitdem die Baracken durchjagt; und schließlich hatte keiner mehr gewußt, was er wirklich glauben sollte.
Der Krieg ging schlecht, das wußte man; aber die Revolution, auf die viele seit Jahren gewartet hatten, war nie gekommen.
»Leo«, sagte 509.»Sie verlieren ihn. Es ist das Ende. Wenn das da unten im ersten Jahre des Krieges passiert wäre, würde es nichts bedeuten. Daß es jetzt nach fünf Jahren geschieht, heißt, daß die anderen gewinnen.«
Lebenthal sah sich wiederum um.»Wozu redest du darüber?«509 kannte den Aberglauben der Baracken. Was man aussprach, verlor an Sicherheit und Kraft – und eine getäuschte Hoffnung war immer ein schwerer Verlust an Energie. Das war auch der Grund für die Vorsicht der anderen.
»Ich rede darüber, weil wir jetzt darüber reden müssen«, sagte er.»Es ist Zeit dafür. Jetzt wird es uns helfen, durchzustehen. Diesmal ist es keine Latrinenparole. Es kann nicht mehr lange dauern.
Wir müssen -«Er stockte.
»Was?«fragte Lebenthal.
509 wußte es selbst nicht genau. Durchkommen, dachte er. Durchkommen und noch mehr.»Es ist ein Rennen«, sagte er schließlich.»Ein Wettrennen, Leo – mit -«Mit dem Tode, dachte er; aber er sprach es nicht aus. Er zeigte in die Richtung der SS-Kasernen.
»Mit denen da! Wir dürfen jetzt nicht noch verlieren. Das Ende ist in Sicht, Leo!«Er packte Lebenthal am Arm.»Wir müssen jetzt alles tun -«
»Was können wir schon tun?«509 fühlte, daß sein Kopf schwamm, als hätte er getrunken. Er war nicht mehr gewöhnt, viel zu denken und zu sprechen. Und er hatte lange nicht so viel gedacht wie heute.»Hier ist etwas«, sagte er und holte den Goldzahn aus der Tasche.»Von Lohmann.
Wahrscheinlich nicht eingetragen. Können wir ihn verkaufen?«
Lebenthal wog den Klumpen in der Hand. Er zeigte keine Überraschung.
»Gefährlich. Kann nur gemacht werden mit jemand, der aus dem Lager heraus kann oder Verbindung nach draußen hat.«
»Wie, ist egal. Was können wir dafür kriegen? Es muß rasch gehen!«
»Das geht nicht so rasch. So etwas muß befingert werden. Das verlangt Kopf, sonst sind wir am Galgen oder sind es los ohne einen Pfennig.«
»Kannst du es nicht heute abend noch machen?«
Lebenthal ließ die Hand mit dem Zahn sinken.»509«, sagte er.»Gestern warst du noch vernünftig.«
»Gestern ist lange her.«
Ein Krach kam von der Stadt und gleich darauf ein klarer, hallender Glocken«ton.
Das Feuer hatte das Gebälk des Kirchturms durchfressen, und die Glocke war gerutscht.
Lebenthal hatte sich erschreckt geduckt.»Was war das?«fragte er.
509 verzog die Lippen.»Ein Zeichen, Leo, daß gestern lange her ist.«
»Es war eine Glocke. Wieso hat die Kirche da unten noch eine Glocke? Sie haben doch alle Glocken zu Kanonen eingeschmolzen.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie die eine vergessen. Also wie ist es mit dem Zahn heute abend? Wir brauchen Fraß für die Tage ohne Brot.«
Lebenthal schüttelte den Kopf.»Heute geht es nicht. Gerade deshalb nicht. Heute ist Donnerstag.
Kameradschaftsabend in der SS-Kaserne.«
»Ach so. Heute kommen die Huren?«
Lebenthal blickte auf.»So, das weißt du? Woher?«
»Das ist ja egal. Ich weiß es, Berger weiß es, Bucher weiß es, und Ahasver weiß es.«
»Wer sonst noch?«
»Keiner.«
»So, ihr wißt das! Ich habe nicht gemerkt, daß ihr mich beobachtet habt. Muß besser aufpassen.
Gut, das ist also heute abend.«
»Leo«, sagte 509.»Versuch heute abend, den Zahn loszuwerden. Das ist wichtiger.
Dies hier kann ich für dich machen. Gib mir das Geld; ich weiß Bescheid. Es ist einfach.«
»Du, weißt, wie es gemacht wird?«
»Ja, von der Grube aus -«
Lebenthal dachte nach.»Da ist ein Kapo bei der Lastwagenkolonne«, sagte er dann.
»Er fährt morgen in die Stadt. Ich könnte probieren, ob er anbeißt. Gut, meinetwegen. Und vielleicht bin ich auch noch rechtzeitig zurück, um dieses hier selbst zu machen.«
Er hielt 509 den Zahn hin.
»Was soll ich damit?«fragte 509 erstaunt.»Du mußt ihn doch mitnehmen -«
Lebenthal schüttelte verachtungsvoll den Kopf.»Da sieht man, was du vom Handel verstehst!
Meinst du, ich kriege etwas dafür, wenn einer von den Brüdern ihn erst in den Pfoten hat? Das wird anders gemacht. Wenn alles gut geht, komme ich zurück und hole ihn. Versteck ihn solange.
Und nun paß auf -«509 lag in einer Bodenvertiefung, ein Stück vom Stacheldraht entfernt, aber näher, als es erlaubt war. Die Palisaden machten hier einen Knick, und die Stelle war von den Maschinengewehrtürmen schwer einzusehen – besonders nachts und bei Nebel.
Die Veteranen hatten das schon seit langem entdeckt; aber erst Lebenthal hatte es vor einigen Wochen fertig gebracht, Kapital daraus zu schlagen.
Das gesamte Gebiet einige hundert Meter außerhalb des Lagers war verbotene Zone, die nur mit besonderer Erlaubnis der SS betreten werden durfte. Ein breiter Streifen davon war von allem Gebüsch gereinigt, und die Maschinengewehre waren darauf eingeschossen.
Lebenthal, der einen sechsten Sinn hatte für alles, was mit Essen zusammenhing, hatte beobachtet, daß seit ein paar Monaten zwei Mädchen Donnerstag abends ein Stück des breiten Weges benützten, der am Kleinen Lager vorbei» führte. Sie gehörten zur»Fledermaus«, einer Kneipe mit Stimmungsbetrieb, die vor der Stadt lag, und kamen als Gäste zum gemütlichen Teil der Kultur abende der SS. Die SS hatte ihnen chevaleresk erlaubt, durch die verbotene Zone zu gehen; sie sparten so einen Umweg von fast zwei Stunden. Zur Vorsicht wurde während der kurzen Zeit, die sie brauchten, an der Seite des Kleinen Lagers der Strom abgestellt. Die Lagerverwaltung wußte davon nichts; die SS-Leute machten das in dem allgemeinen Durcheinander der letzten Monate auf eigene Faust.
Sie riskierten nichts; niemand vom Kleinen Lager war fähig, zu fliehen.