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»Das sind Ausgebombte«, sagte Werner plötzlich rasch und leise.»Es sind Leute aus der Stadt.

Das sind Flüchtlinge.«

»Flüchtlinge?«

»Flüchtlinge«, wiederholte Werner.

»Ich glaube, du hast recht!«Lewinsky kniff die Augen zu.»Das sind tatsächlich Flüchtlinge. Aber diesmal deutsche Flüchtlinge!«

Das Wort lief flüsternd die Kolonne entlang. Flüchtlinge! Deutsche Flüchtlinge! Des refugiés allemands! Es schien unerhört zu sein, aber es stimmte: Nachdem sie Jahre hindurch in Europa gesiegt und Menschen vor sich hergetrieben hatten, mußten sie jetzt in ihrem eigenen Lande flüchten.

Es waren Frauen und Kinder und ältere Männer. Sie trugen Pakete, Handtaschen und Handkoffer.

Einige hatten kleine Wagen, auf die sie ihr Gepäck geladen hatten. Sie gingen unregelmäßig und verdrossen hintereinander her.

Die beiden Züge waren sich jetzt ganz nahe. Es wurde auf einmal sehr still. Man hörte nur noch das Scharren der Füße auf der Landstraße. Und ohne daß ein Wort gesagt worden wäre, begann die Kolonne der Gefangenen sich zu verändern. Sie hatte sich nicht einmal durch Blicke verständigt; aber es war, als hätte jemand einen lautlosen Befehl über all diese todmüden, abgezehrten, halbverhungerten Männer hingeschrieen, als hätte ein Funke ihr Blut entzündet, ihr Gehirn aufgeweckt und ihre Nerven und Muskeln zusammengerissen. Die stolpernde Kolonne begann zu marschieren. Die Füße hoben sich, die Köpfe richteten sich auf, die Gesichter wurden härter, und in den Augen war Leben.

»Laßt mich los«, sagte Goldstein.

»Unsinn!«

»Laßt mich los! Nur, bis die da vorbei sind!«

Sie ließen ihn los. Er taumelte, biß die Zähne aufeinander und fing sich. Lewinsky und Werner preßten ihre Schultern gegen seine, aber sie brauchten ihn nicht zu halten. Er ging, dicht zwischen sie gepreßt, allein, den Kopf zurückgeworfen, laut atmend, aber er ging allein.

Das Schuffeln der Gefangenen war jetzt überall in eine Art von Gleichtritt übergegangen. Eine Abteilung Belgier und Franzosen war dabei und eine kleine Gruppe von Polen. Auch sie marschierten mit.

Die Kolonnen hatten einander erreicht. Die Deutschen waren auf dem Wege nach umliegenden Dörfern. Sie hatten keine Zugverbindungen, weil der Bahnhof zerstört war, und mußten deshalb zu Fuß gehen. Ein paar Zivilisten mit SA-Binden um den Arm dirigierten den Zug. Die Frauen waren müde. Ein paar Kinder weinten. Die Männer starrten vor sich hin.

»So sind wir aus Warschau geflüchtet«, flüsterte ein Pole leise hinter Lewinsky.

»Und wir aus Lüttich«, erwiderte ein Belgier.

»Wir ebenso aus Paris.«

»Bei uns war es schlimmer. Viel schlimmer. Sie haben uns anders gejagt.«

Sie spürten kaum ein Gefühl von Revanche. Auch keinen Haß. Frauen und Kinder waren überall dieselben, und es waren gewöhnlich viel öfter die Unschuldigen, die von einem Verhängnis getroffen wurden, als die Schuldigen. Unter dieser müden Masse waren sicher viele, die nichts bewußt gewollt und nichts getan hatten, was ihr Schicksal rechtfertigte. Das war es auch nicht, was die Gefangenen spürten. Es war etwas ganz anderes. Es hatte nichts mit den einzelnen zu tun; es hatte auch wenig mit der Stadt zu schaffen; nicht einmal viel mit dem Lande oder der Nation; es war eher das Gefühl einer ungeheuren, unpersönlichen Gerechtigkeit, das in dem Augenblick aufsprang, als die beiden Kolonnen einander passierten. Ein Weltfrevel war verübt worden und fast geglückt; die Gebote der Menschlichkeit waren umgestoßen und fast zertrampelt worden; das Gesetz des Lebens war bespuckt, zerpeitscht und zerschossen worden; Raub war legal, Mord verdienstvoll, Terror Gesetz geworden – und jetzt, plötzlich, in diesem atemlosen Augenblick, fühlten vierhundert Opfer der Willkür hier, daß es genug war -, daß eine Stimme gesprochen hatte und daß das Pendel zurückschwang. Sie spürten, daß es nicht nur Länder und Völker waren, die gerettet werden würden; es waren die Gebote des Lebens selbst. Es war das, wofür es viele Namen gab – und einer, der älteste und einfachste war: Gott. Und das hieß: Mensch.

Die Kolonne der Flüchtlinge hatte die Kolonne der Gefangenen jetzt passiert. Es hatte ausgesehen, als wären für einige Minuten die Flüchtlinge die Gefangenen und die Gefangenen frei. Zwei Leiterwagen, mit Schimmeln bespannt und voll von Gepäck, bildeten das Ende des Zuges. Die SS rannte nervös an der Kolonne der Gefangenen auf und ab, spähend nach irgendeinem Zeichen, einem Wort. Nichts geschah. Die Kolonne marschierte schweigend weiter, und bald fingen die Füße wieder an zu scharren, die Müdigkeit kam zurück, und Gold»lein mußte die Arme wieder um die Schultern von Lewinsky und Werner legen – aber trotzdem, als die schwarzroten Barrieren des Lagereingangs und die eisernen Tore mit dem alten preußischen Motto:»Jedem das Seine«sichtbar wurden, betrachtete jeder dieses Motto, das Jahre hindurch ein fürchterlicher Hohn gewesen war, plötzlich mit neuen Augen.

Die Lagerkapelle wartete am Tor. Sie spielte den»Fridericus-Rex«-Marsch. Hinter ihr standen eine Anzahl SS-Leute und der zweite Lagerführer. Die Gefangenen begannen zu marschieren.

»Beine 'raus! Augen rechts!«

Das Baumfäll-Kommando war noch nicht da.»Stillgestanden! Abzählen!«

Sie zählten ab. Lewinsky und Werner beobachteten den zweiten Lagerführer. Er wiegte sich in den Knien und schrie:»Leibesvisitation! Erste Gruppe vortreten!«

Mit vorsichtigen Bewegungen glitten die in Lappen gewickelten Waffenstücke nach rückwärts in Goldsteins Hände. Lewinsky fühlte, wie ihm plötzlich der Schweiß am Körper herunterlief.

Der SS-Scharführer Günther Steinbrenner, der wie ein Schäferhund auf der Wacht stand, hatte irgendwo eine Bewegung gesehen. Er drängte sich mit Faustschlägen zu Goldstein durch. Werner preßte die Lippen zusammen. Wenn die Sachen jetzt nicht bei Münzer oder Remme waren, konnte alles aus sein.

Bevor Steinbrenner ankam, fiel Goldstein um. Steinbrenner gab ihm einen Tritt in die Rippen.

»Aufstehen! Schweinehund!«

Goldstein machte einen Versuch. Er kam auf die Knie, erhob sich, stöhnte, hatte plötzlich Schaum vor dem Mund und stürzte nieder.

Steinbrenner sah das graue Gesicht und die verdrehten Augen. Er gab Goldstein noch einen Tritt und überlegte, ob er ihm ein brennendes Streichholz unter die Nase halten sollte, um ihn munter zu machen. Aber dann fiel ihm ein, daß er vor kurzem einen Toten geohrfeigt und sich vor seinen Kameraden lächerlich gemacht hatte; ein zweitesmal sollte ihm etwas Ähnliches nicht passieren.

Knurrend trat er zurück.

»Was?«fragte der zweite Lagerführer gelangweilt den Kommandoführer.»Das sind nicht die vom Munitionswerk?«

»Nein. Dies ist nur das Aufräumkommando.«

»Ach so! Wo sind denn die anderen?«

»Kommen gerade den Berg 'rauf«, sagte der SS-Oberscharführer, der das Kommando geführt hatte.

»Na schön. Dann macht Platz. Diese Kaffern hier brauchen nicht visitiert zu werden. Schwirrt ab!«

»Erste Gruppe zurück, marsch, marsch!«kommandierte der Oberscharführer.

»Kommando stillgestanden! Links um, marsch!«

Goldstein erhob sich. Er taumelte, aber es gelang ihm, in der Gruppe zu bleiben.

»Weggeworfen?«fragte Werner fast lautlos, als Goldsteins Kopf neben ihm war.

»Nein.«

Werners Gesicht entspannte sich.»Sicher nicht?«

»Nein.«

Sie marschierten ein. Die SS kümmert? sich nicht mehr um sie. Hinter ihnen stand die Kolonne vom Munitionswerk. Sie wurde genau untersucht.

»Wer hat es?«fragte Werner.»Remme?«

»Ich.«

Sie marschierten zum Appellplatz und stellten sich auf.

»Was wäre passiert, wenn du nicht mehr hochgekommen wärst?«fragte Lewinsky.

»Wie hätten wir es dann von dir wiedergekriegt, ohne daß jemand es gemerkt hätte?«

»Ich wäre hochgekommen.«

»Wieso?«

Goldstein lächelte.»Ich wollte früher mal Schauspieler werden.«