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II

Baracke 22 hatte zwei Flügel, die je von zwei Stubenältesten kommandiert wurden. In der zweiten Sektion des zweiten Flügels hausten die Veteranen. Es war der schmälste und feuchteste Teil, aber das kümmerte sie wenig; wichtig war für sie nur, daß sie zusammenlagen. Das gab jedem mehr Widerstandskraft. Sterben war ebenso ansteckend wie Typhus, und einzeln ging man in dem allgemeinen Krepieren leicht mit ein, ob man wollte oder nicht. Zu mehreren konnte man sich besser wehren. Wenn einer aufgeben wollte, halfen ihm die Kameraden durchzuhalten. Die Veteranen im Kleinen Lager lebten nicht länger, weil sie mehr zu essen hatten; sie lebten, weil sie sich einen verzweifelten Rest von Widerstand bewahrt hatten. In der Ecke der Veteranen lagen zur Zeit hundertvierunddreißig Skelette. Platz war nur da für vierzig. Die Betten bestanden aus Brettern, vier übereinander. Sie waren kahl oder mit altem faulendem Stroh bedeckt. Es gab nur ein paar schmutzige Decken, um die jedesmal, wenn die Besitzer starben, bitter gekämpft wurde. Auf jedem Bett lagen mindestens drei bis vier Menschen. Das war selbst für Skelette zu eng; denn Schulter und Beckenknochen schrumpften nicht. Man hatte etwas mehr Platz, wenn man seitlich lag, gepackt wie Sardinen; aber trotzdem hörte man nachts oft genug das dumpfe Aufschlagen, wenn jemand im Schlaf herunterfiel. Viele schliefen hockend, und wer Glück hatte, dem starben seine Bettgenossen abends. Sie wurden dann hinausgeschafft, und er konnte sich für eine Nacht besser ausstrecken, bevor neuer Zuwachs kam. Die Veteranen hatten sich die Ecke links von der Tür gesichert. Sie waren noch zwölf Mann. Vor zwei Monaten waren sie vierundvierzig gewesen. Der Winter hatte sie kaputt gemacht. Sie wußten alle, daß sie im letzten Stadium waren; die Rationen wurden ständig kleiner, und manchmal gab es ein bis zwei Tage überhaupt nichts zu essen; dann lagen die Toten zu Haufen draußen. Von den zwölf war einer verrückt und glaubte, er sei ein deutscher Schäferhund. Er hatte keine Ohren mehr; sie waren ihm abgerissen worden, als man SS-Hunde an ihm trainiert hatte. Der jüngste hieß Karel und war ein Knabe aus der Tschechoslowakei. Seine Eltern waren tot; sie düngten das Kartoffelfeld eines frommen Bauern im Dorfe Westlage. Die Asche der Verbrannten wurde nämlich im Krematorium in Säcke gefüllt und als künstlicher Dünger verkauft. Sie war reich an Phosphor und Kalzium. Karel trug das rote Abzeichen des politischen Gefangenen. Er war elf Jahre alt. Der älteste Veteran war zweiundsiebzig. Er war ein Jude, der um seinen Bart kämpfte. Der Bart gehörte zu seiner Religion. Die SS hatte ihn verboten, aber der Mann hatte immer wieder versucht, ihn wachsen zu lassen. Er war im Arbeitslager jedesmal dafür über den Bock gekommen und verprügelt worden. Im Kleinen Lager hatte er mehr Glück. Die SS kümmerte sich hier weniger um die Regeln und kontrollierte auch selten; sie hatte zu viel Angst vor Läusen, Dysenterie, Typhus und Tuberkulose. Der Pole Julius Silber hatte den Alten Ahasver genannt, weil er fast ein Dutzend holländischer, polnischer, österreichischer und deutscher Konzentrationslager überlebt hatte. Silber war inzwischen an Typhus gestorben und blühte als Primelbusch im Garten des Kommandanten Neubauer, der die Totenasche gratis bekam; doch der Name Ahasver war geblieben. Das Gesicht des Alten war im Kleinen Lager geschrumpft, aber der Bart war gewachsen und jetzt Heimat und Wald für Generationen kräftiger Läuse.

Der Stubenälteste der Sektion war der frühere Arzt Dr. Ephraim Berger. Er war wichtig gegen den Tod, der die Baracke eng umstand. Im Winter, wenn die Skelette auf dem Glatteis gefallen waren und sich die Knochen gebrochen hatten, hatte er manche schienen und retten können. Das Hospital nahm niemand vom Kleinen Lager auf; es war nur da für Leute, die arbeitsfähig waren und für Prominente. Im Großen Lager war das Glatteis im Winter auch weniger gefährlich gewesen; man hatte die Straße während der schlimmsten Tage mit Asche aus dem Krematorium bestreut. Nicht aus Rücksicht auf die Gefangenen, sondern um brauchbare Arbeitskräfte zu behalten. Seit der Eingliederung der Konzentrationslager in den allgemeinen Arbeitseinsatz wurde mehr Wert darauf gelegt. Als Ausgleich arbeitete man die Häftlinge allerdings rascher zu Tode. Die Abgänge machten nichts aus; es wurden täglich genug Leute verhaftet. Berger war einer der wenigen Gefangenen, die Erlaubnis hatten, das Kleine Lager zu verlassen. Er wurde seit einigen Wochen in der Leichenhalle des Krematoriums beschäftigt. Stubenälteste brauchten im allgemeinen nicht zu arbeiten, aber Ärzte waren knapp; deshalb hatte man ihn kommandiert. Es war vorteilhaft für die Baracke. Über den Lazarettkapo, den Berger von früher kannte, konnte er so manchmal etwas Lysol, Watte, Aspirin und ähnliches für die Skelette bekommen. Er besaß auch eine Flasche Jod, die unter seinem Stroh versteckt war. Der wichtigste Veteran von allen jedoch war Leo Lebenthal. Er hatte geheime Verbindungen zum Schleichhandel des Arbeitslagers und, wie es hieß, sogar welche nach draußen. Wie er das machte, wußte keiner genau. Es war nur bekannt, daß zwei Huren aus dem Etablissement»Die Fledermaus«, das vor der Stadt lag, dazugehörten. Auch ein SS-Mann sollte beteiligt sein; doch davon wußte niemand wirklich etwas. Und Lebenthal sagte nichts. Er handelte mit allem. Man konnte durch ihn Zigarettenstummel bekommen, eine Mohrrübe, manchmal Kartoffeln, Abfälle aus der Küche, einen Knochen und hier und da eine Scheibe Brot. Er betrog niemanden; er sorgte nur für Zirkulation. Der Gedanke, heimlich für sich allein zu sorgen, kam ihm nie. Der Handel hielt ihn am Leben; nicht das, womit er handelte. 509 kroch durch die Tür. Die schräge Sonne hinter ihm schien durch seine Ohren. Sie leuchteten einen Augenblick wächsern und gelb zu beiden Seiten des dunklen Kopfes.»Sie haben die Stadt bombardiert«, sagte er keuchend. Niemand antwortete. 509 konnte noch nichts sehen; es war dunkel in der Baracke nach dem Licht draußen. Er schloß die Augen und öffnete sie wieder.»Sie haben die Stadt bombardiert«, wiederholte er.»Habt ihr es nicht gehört?«Auch diesmal sagte keiner etwas. 509 sah jetzt Ahasver neben der Tür. Er saß auf dem Boden und streichelte den Schäferhund. Der Schäferhund knurrte; er hatte Angst. Die verfilzten Haare hingen ihm über das vernarbte Gesicht, und dazwischen funkelten die erschreckten Augen.»Ein Gewitter«, murmelte Ahasver.»Nichts als ein Gewitter! Ruhig, Wolf – ruhig!«509 kroch weiter in die Baracke hinein. Er begriff nicht, daß die anderen so gleichgültig waren.»Wo ist Berger?«fragte er.»Im Krematorium.«Er legte den Mantel und die Jacke auf den Boden.»Will keiner von euch 'raus?«Er sah Westhof und Bucher an. Sie erwiderten nichts.»Du weißt doch, daß es verboten ist«, sagte Ahasver schließlich.»Solange Alarm ist.«»Der Alarm ist vorbei.«»Noch nicht.«»Doch. Die Flieger sind fort. Sie haben die Stadt bombardiert.«»Das hast du nun schon oft genug gesagt«, knurrte jemand aus dem Dunkel. Ahasver blickte auf.»Vielleicht werden sie ein paar Dutzend von uns zur Strafe dafür erschießen.«»Erschießen?«Westhof kicherte.»Seit wann erschießen sie hier?«

Der Schäferhund bellte. Ahasver hielt ihn fest.»In Holland erschossen sie nach einem Luftangriff gewöhnlich zehn, zwanzig politische Gefangene. Damit sie keine falschen Ideen bekämen, sagten sie.«

»Wir sind hier nicht in Holland.«

»Das weiß ich. Ich habe auch nur gesagt, daß in Holland erschossen wurde.«

»Erschießen!«Westhof schnaubte verächtlich.»Bist du ein Soldat, daß du solche Ansprüche stellst? Hier wird erhängt und erschlagen.«

»Sie könnten es zur Abwechslung tun.«

»Haltet eure verdammten Schnauzen«, rief der Mann von vorher aus dem Dunkel. 509 hockte sich neben Bucher und schloß die Augen. Er sah noch immer den Rauch über der brennenden Stadt und spürte den dumpfen Donner der Explosionen.