«Herr Archilochos?«fragte eine leise, zögernde Stimme. Archilochos erhob sich, kam mit dem Ärmel an die Tasse, wobei die Milch über seine Brille lief. Endlich hatte er sie wieder auf, und durch die Milchstriemen hindurch blinzelte er nach Chloé Saloniki, ohne sich zu rühren.

«Noch eine Tasse Milch«, sagte er endlich.

«O«, lachte Chloé,»mir auch.»

Archilochos setzte sich, ohne den Blick von ihr wenden zu können und ohne sie einzuladen, was er doch gerne getan hätte. Er fürchtete sich, die unwirkliche Situation bedrückte ihn, und er wagte nicht, an seine Annonce zu denken; verlegen nahm er die Rose von seinem Kittel. In jedem Augenblick erwartete er ihr enttäuschtes Sich-umwenden und Fortgehen. Vielleicht dachte er auch, daß er nur träume. Wehrlos war er der Schönheit dieses Mädchens ausgeliefert, dem Wunder dieses Augenblicks, das nicht zu begreifen war, und von dem er nicht hoffen durfte, daß es mehr denn eine kurze Zeitspanne daure. Er fühlte sich lächerlich und häßlich, riesengroß tauchte mit einem Male die Umgebung seiner Mansarde auf, die Trostlosigkeit des Arbeiterviertels, in welchem er wohnte, die Eintönigkeit seiner Buchhalterei; aber sie setzte sich einfach an seinen Tisch, ihm gegenüber, und sah ihn mit großen, schwarzen Augen an.

«O«, sagte sie glücklich,»so nett habe ich dich mir nicht vorgestellt. Ich bin froh, daß wir Griechen uns gefunden haben. Aber komm, deine Brille ist voll Milch.»

Sie nahm sie ihm vom Gesicht und reinigte sie, offenbar mit ihrem Halstuch, wie es dem kurzsichtigen Archilochos schien, hauchte an die Gläser.

«Fräulein Saloniki«, würgte er endlich hervor, als spreche er sein eigenes Todesurteil aus:»Ich bin vielleicht nicht so ganz ein richtiger Grieche mehr. Meine Familie ist zur Zeit Karls des Kühnen eingewandert.»

Chloé lachte:»Grieche bleibt Grieche.»

Dann setzte sie ihm die Brille auf, und Auguste brachte die Milch.

«Fräulein Saloniki…»

«Sag doch Chloé zu mir«, sagte sie,»und >du<, jetzt da wir heiraten, und ich will dich heiraten, weil du ein Grieche bist. Ich will dich einfach glücklich machen.»

Archilochos wurde rot.»Es ist das erste Mal, Chloé«, sagte er endlich,»daß ich mit einem Mädchen rede, sonst nur mit Madame Bieler.»

Chloé schwieg, schien über etwas nachzudenken, und beide tranken die heiße, dampfende Milch.

Nachdem Chloé und Archilochos das Lokal verlassen hatten, fand Madame Bieler die Sprache wieder.

«So was Piekfeines«, sagte sie.»Nicht zu glauben. Und ein Armband hatte sie, und eine Kette um den Hals, Hunderttausende von Franken. Muß tüchtig gearbeitet haben. Und hast du den Mantel gesehen? Was dies nur für ein Pelz ist! Eine bessere Frau kann man sich gar nicht wünschen.»

«Blutjung«, staunte Auguste noch immer.

«Ach was«, antwortete Georgette und füllte sich ein Glas mit Campari und Siphon,»die ist schon über dreißig. Aber hergerichtet. Die läßt sich jeden Tag massieren.»

«Tat ich auch«, meinte Auguste,»als ich die Tour de Suisse gewann«, und schaute wehmütig auf seine dünnen Beine:

«Und ein Parfüm!»

Chloé und Archilochos standen auf der Straße. Es regnete immer noch. Auch der Nebel war noch da, finster, und die Kälte, die durch die Kleider drang.

Am Quai gebe es ein alkoholfreies Restaurant gegenüber dem Weltgesundheitsamt, sagte er endlich:»Ganz billig.»

Er fror in seinem zerschlissenen, feuchten Konfirmandenanzug.

«Gib mir den Arm«, forderte ihn Chloé auf.

Der Unterbuchhalter war verlegen. Er wußte nicht recht, wie man das machte. Er wagte kaum, das Wesen anzusehen, das an seiner Seite durch den Nebel trippelte, um die schwarzen Haare ein silberblaues Tuch geschlagen. Er genierte sich ein wenig. Es war das erste Mal, daß er mit einem Mädchen durch die Stadt ging, und so war er eigentlich froh um den Nebel. Von einer Kirche her schlug es halb elf. Sie schritten durch leere Vorstadtstraßen, deren Häuser sich im nassen Asphalt spiegelten. Ihre Schritte hallten an den Wänden wider. Es war, als gingen sie durch Kellergewölbe. Kein Mensch war zu erblicken. Ein halbverhungerter Hund trottete ihnen aus dem Dunkel entgegen, ein verdreckter Spaniel, schwarzweiß, triefend vor Nässe, mit hängenden Ohren und hängender Zunge. Undeutlich waren die roten Straßenlichter zu sehen. Dann rollte sinnlos hupend ein Autobus vorüber, Richtung Nordbahnhof offenbar. Archilochos drängte sich in die weichen Haare ihres Mantels, von der leeren Straße, vom Sonntag, vom Wetter überwältigt, Platz unter ihrem kleinen roten Schirm zu finden. Sie schritten im Takt dahin, fast ein richtiges Liebespaar. Irgendwo sang blechern die Heilsarmee im Nebel, und manchmal drang aus den Häusern das Sonntagmorgenkonzert der Telediffusion, irgendeine Symphonie, Beethoven oder Schubert, mischte sich mit dem Tuten der im Nebel verirrten Automobile. Sie kamen gegen den Strom hinunter, wie sie ahnten, durch gleichförmige Straßen, nun stückweise zu sehen, als es heller wurde, sich immer noch in Grau auflösend. Dann ging es einem unendlichen Boulevard entlang mit immer gleichen langweiligen Häuserfronten, wie nun schon deutlich zu erraten war, mit Stadtvillen längst verkrachter Bankiers und vergilbter Kokotten mit dorischen und korinthischen Säulen vor den Türen, mit steifen Balkonen und hohen Fenstern im ersten Stock, meistens erleuchtet, meist beschädigt, schemenhaft, tropfend.

Chloé begann zu erzählen. Die Geschichte ihrer Jugend, wundersam wie sie selber. Sie erzählte zögernd, oft verlegen. Doch dem Unterbuchhalter kam alles Unglaubwürdige natürlich vor, war es doch ein Märchen, was er erlebte.

Sie war eine Waise (nach ihrer Erzählung), ein Kind griechischer Leute, aus Kreta eingewandert, die in den bösen Wintern erfroren. In einer Baracke. Dann war die große Verlassenheit gekommen. Sie wuchs im Elendsviertel auf, verdreckt, zerlumpt, wie der schwarzweiße Spaniel eben, stahl Obst und plünderte Opferstöcke. Die Polizei verfolgte sie, Zuhälter stellten ihr nach. Sie schlief unter Brücken zwischen Vaganten und in leeren Fässern, scheu und mißtrauisch wie ein Tier. Dann wurde sie von einem archäologischen Ehepaar aufgelesen, buchstäblich, bei einem Abendspaziergang, und in eine Schule gesteckt, zu Nonnen, und lebte nun bei ihren Wohltätern als Dienstmädchen, anständig gekleidet, anständig genährt, eine rührende Geschichte, alles in allem.

«Ein archäologisches Ehepaar?«wunderte sich Arnolph. Er hatte dergleichen noch nie vernommen.

Ein Ehepaar, das Archäologie studiert, verdeutlichte Chloé Saloniki, und in Griechenland Ausgrabungen gemacht habe.

«Sie entdeckten dort einen Tempel mit kostbaren Standbildern, im Moos versunken, und goldenen Säulen«, sagte sie.

Wie denn das Ehepaar heiße?

Chloé zögerte. Sie schien nach einem Namen zu suchen.

«Gilbert und Elizabeth Weeman.»

«Die berühmten Weemans?»

(Eben war im >Match< ein Artikel mit farbigen Bildern erschienen.)

«Die.»

Er werde sie in seine sittliche Weltordnung einbauen, sagte Arnolph. Als Nummer neun und zehn, doch vielleicht auch als Nummer sechs und sieben, indem Maître Dutour und der Rector magnificus Nummer neun und zehn einnehmen könnten, das sei ja immer noch eine Ehre.

«Du hast eine sittliche Weltordnung?«fragte Chloé verwundert.»Was ist denn das?»

Man müsse einen Halt haben im Leben, sittliche Vorbilder, sagte Archilochos, auch er habe es nicht leicht, wenn er auch nicht zwischen Mördern und Vagabunden aufgewachsen sei wie sie, sondern mit Bruder Bibi in einem Waisenhaus; und er begann mit der Schilderung seines moralischen Weltgebäudes.

Das Wetter hatte sich verändert, unmerklich zuerst für die beiden. Der Regen hatte aufgehört, der Nebel sich gelockert. Er war zu gespenstischen Figuren geworden, zu langgestreckten Drachen, zu schwerfälligen Bären und Riesenmännern, die über die Villen, Bankgebäude, Regierungsbauten und Palais rutschten, sich ineinander verschoben, aufstiegen und sich auflösten. Blauer Himmel schimmerte zwischen den Nebelmassen, undeutlich, zart zuerst, nur eine Ahnung von Frühling, der ja noch ferne war, von Sonnenlicht, unendlich fein, dann klarer, strahlender, mächtiger. Auf dem nassen Asphalt machten sich mit einem Male die Schatten der Gebäude, der Laternen, der Denkmäler, der Menschen bemerkbar, und plötzlich traten alle Gegenstände überdeutlich hervor, glänzend im niederbrechenden Licht.

Sie befanden sich am Quai vor dem Staatspräsidenten-Palais. Der Strom war braun und mächtig angeschwollen. Brücken mit rostigen Eisengeländern spannten sich über ihn, leere Lastschiffe zogen davon, windelnbehängt und mit frierenden Kapitänen, die, Pfeife rauchend, auf und ab schritten. Es wimmelte von sonntäglichen Spaziergängern, von feierlichen Großvätern mit herausgeputzten Enkeln, von Familien, die auf den Trottoirs Reihen bildeten. Polizisten standen herum, Reporter, Journalisten, offenbar den Staatspräsidenten erwartend, der denn auch in seiner historischen Karosse aus dem Palais hervorbrach, gezogen von sechs Schimmeln, von seiner berittenen Leibwache mit den goldenen Helmen und den weißen Federbüschen begleitet, irgendwo irgendeinen politischen Akt zu vollziehen, ein Denkmal einzuweihen, einen Orden an einen Busen zu heften oder ein Waisenhaus zu eröffnen. Pferdegetrampel, Fanfarengeschmetter, Hochrufe, Hüte erfüllten die vom Nebel, vom Regen geläuterte Luft.

Da geschah das Unfaßbare.

Im Moment als der Staatspräsident an Chloé und Archilochos vorbeifuhr und Arnolph, erfreut über seine unverhoffte Begegnung mit Nummer eins seiner Weltordnung (die zu erklären er im Begriffe war), nach der spitzbärtigen und ergrauten Exzellenz spähte, die, goldübersät, vom Fenster seiner Karosse eingerahmt, genau dem Bilde glich, das über den Pernod- und Campariflaschen Madame Bielers hing, grüßte mit einem Male der Staatspräsident den Unterbuchhalter, indem Seine Exzellenz mit der rechten Hand winkte, als wäre Archilochos ein alter Bekannter. Und so augenscheinlich war dieses Aufflattern eines weißen Handschuhs, und so deutlich galt es ihm, daß zwei Polizisten mit stattlichen Schnurrbärten Achtungstellung annahmen.

«Der Staatspräsident grüßte mich«, stotterte Archilochos fassungslos.

«Warum soll er dich denn nicht grüßen?«fragte Chloé Saloniki.

«Ich bin doch nur ein unbedeutender Staatsbürger!»

«Als Staatspräsident ist er unser aller Vater«, erklärte Chloé den seltsamen Vorgang.

Da trat ein weiteres Ereignis ein, das Archilochos zwar auch nicht begreifen konnte, das ihn aber mit neuem Stolz erfüllte.

Eigentlich wollte er gerade auf Nummer zwei seiner Weltordnung zu sprechen kommen, auf den Bischof Moser und auf den eminenten Unterschied, der sich zwischen den Altneu- und den Altpresbyteranern der vorletzten Christen gebildet hatte, um dann noch kurz die Neupresbyteraner zu streifen (diesen Skandal innerhalb der presbyteranischen Kirche), als ihnen Petit-Paysan begegnete (Nummer drei der Weltordnung, eigentlich noch nicht an der Reihe), sei es, daß er aus der Weltbank, fünfhundert Meter vom Staatspräsidenten-Palais entfernt, sei es, daß er aus der St. Lukas-Kathedrale kam, die neben der Weltbank stand. Er war in tadellosem Mantel, mit Zylinder und weißem Halstuch, knisternd vor Eleganz. Sein Chauffeur hatte schon die Türe des Rolls-Royce geöffnet, als Arnolph Petit-Paysans ansichtig wurde. Arnolph wurde unsicher. Das Ereignis war einmalig und im Hinblick auf die Erläuterungen, die er Chloé über seine Weltordnung eben gab, instruktiv. Der Großindustrielle kannte Archilochos nicht, konnte ihn auch nicht kennen, war er doch nur ein Unterbuchhalter in der Geburtszangenabteilung, was wiederum Archilochos den Mut gab, auf den Erhabenen hinzuweisen, wenn auch nicht den Mut, ihn zu grüßen (man grüßt keinen Gott). Und so war Archilochos zwar erschrocken, doch geborgen im Bewußtsein, unerkannt am Gewaltigen vorbeiziehen zu dürfen, als, wie eben beim Staatspräsidenten, das Unfaßbare zum zweiten Male geschah: Petit-Paysan lächelte, zog seinen Zylinder, schwenkte ihn, verbeugte sich artig vor dem erbleichenden Archilochos, ließ sich darauf in die Polster seiner Limousine fallen, winkte noch einmal und brauste davon.