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Narziß war sehr betreten. Die Worte hatten ihn mitgerissen, er hatte das Gefühl gehabt, besser als sonst zu sprechen. Nun sah er mit Bestürzung, daß irgendeines dieser Worte den Freund tief erschüttert habe, daß er irgendwo ins Lebendige getroffen habe. Es fiel ihm schwer, ihn in diesem Augenblick allein zu lassen, er zögerte sekundenlang, Goldmunds Stirnrunzeln mahnte ihn, und verwirrt lief er davon, um dem Freunde das Alleinsein zu gönnen, dessen er bedurfte.

Diesmal löste die Überspannung in Goldmunds Seele sich nicht in Tränen auf. Mit einem Gefühl tiefsten und hoffnungslosen Verwundetseins, als habe der Freund ihm plötzlich ein Messer mitten in die Brust gestoßen, blieb er stehen, schwer atmend, mit einem tödlich zusammengepreßten Herzen, wachsbleich im Gesicht, mit abgestorbenen Händen. Es war wieder das Elend von damals, nur um einige Grade verstärkt, es war wieder das Würgen im Innern, das Gefühl, etwas Furchtbarem ms Auge sehen zu müssen, etwas schlechterdings Unerträglichem. Aber kein erlösendes Schluchzen half diesmal das Elend überstehen. Heilige Mutter Gottes, was war denn nur? War denn etwas geschehen? Hatte man ihn gemordet? Hatte er getötet? Was war da Furchtbares gesagt worden?

Keuchend stieß er den Atem von sich, wie ein Vergifteter war er bis zum Zerreißen erfüllt von dem Gefühl, sich von etwas Tödlichem befreien zu müssen, das tief in ihm innen stecke. Mit Bewegungen wie ein Schwimmender stürzte er aus der Stube, floh unbewußt in die stillsten, menschenleersten Bezirke des Klosters, durch Gänge, über Treppen, und ins Freie, an die Luft. Er war in die innerste Zuflucht des Klosters, in den Kreuzgang geraten, über den paar grünen Beeten stand klar der sonnige Himmel, durch die kühle steinerne Kellerluft zog in süßen zögernden Fäden der Duft von Rosen.

Ahnungslos hatte Narziß in dieser Stunde das getan, was zu tun schon lange sein ersehntes Ziel war: er hatte den Dämon, von dem sein Freund besessen war, bei Namen gerufen, er hatte ihn gestellt. Von irgendeinem seiner Worte war das Geheimnis in Goldmunds Herzen angerührt worden und hatte sich in rasendem Schmerz aufgebäumt. Lange irrte Narziß durchs Kloster und suchte den Freund, fand ihn aber nirgends.

Goldmund stand unter einem der runden schweren Steinbogen, die aus den Gängen ins Kreuzgärtchen führten, von den Säulen des Bogens blickten je drei Tierköpfe, steinerne Köpfe von Hunden oder Wölfen, glotzend auf ihn herab. Schauerlich wühlte in ihm die Wunde, ohne Weg zum Licht, ohne Weg zur Vernunft. Todesangst schnürte ihm Kehle und Magen. Mechanisch aufblickend sah er über sich einen der Säulenknäufe mit den drei Tierköpfen, und alsbald war ihm, als säßen, glotzten, bellten die drei wilden Köpfe innen in seinen Eingeweiden.

»Gleich muß ich sterben«, empfand er ergrausend. Und gleich darauf, zitternd vor Angst, empfand er: »Jetzt verliere ich den Verstand, jetzt fressen mich die Tiermäuler.« Zuckend sank er am Fuße der Säule nieder, der Schmerz war zu groß, er hatte die äußerste Grenze erreicht. Eine Ohnmacht umhüllte ihn; er entschwand, mit einsinkendem Gesicht, in ein ersehntes Nichtmehrsein.

Abt Daniel hatte einen wenig erfreulichen Tag gehabt, zwei von den älteren Mönchen waren heut zu ihm gekommen, aufgeregt, keifend, anklägerisch wegen uralter eifersüchtiger Nichtigkeiten wieder einmal wütend verzankt. Er hatte sie angehört, allzulange, hatte sie ermahnt, doch erfolglos, hatte sie schließlich streng entlassen, jeden mit einer ziemlich harten Strafe belegt, und hatte im Herzen das Gefühl behalten, sein Tun sei nutzlos gewesen. Erschöpft hatte er sich in die Kapelle der Unterkirche zurückgezogen, hatte gebetet, war unerfrischt wieder aufgestanden. Jetzt trat er, vom leise herziehenden Rosenduft angezogen, für einen Augenblick, um Luft zu schöpfen, in den Kreuzgang. Da fand er den Schüler Goldmund ohnmächtig auf den Fliesen liegen. Traurig sah er ihn an, über die Blässe und Erloschenheit des sonst so hübschen jungen Antlitzes erschrocken. Es war kein guter Tag heute, nun auch dies noch! Er versuchte, den Jüngling aufzuheben, war aber der Last nicht gewachsen. Tief seufzend ging er weg, der alte Mann, um zwei von den jüngeren Brüdern zu rufen, daß sie ihn hinauftrügen, und schickte auch noch den Pater Anselm hin, der ein Heilkünstler war. Zugleich schickte er nach Narziß, der bald gefunden wurde und vor ihm erschien.

»Weißt du schon?« frage er ihn.

»Wegen Goldmund? Ja, gnädiger Vater, ich habe soeben gehört, er sei krank oder verunglückt, man habe ihn getragen gebracht.«

»Ja, ich fand ihn im Kreuzgang hegen, wo er ja eigentlich nichts zu suchen hat. Er ist nicht verunglückt, er ist ohnmächtig. Es gefällt mir nicht. Es scheint mir, daß du mit der Sache zu tun haben müssest, oder doch etwas darüber wissen, er ist ja dein Intimus. Darum rief ich dich. Sprich.«

Narziß, wie immer mit beherrschter Haltung und Sprache, gab einen kurzen Bericht über sein heutiges Gespräch mit Goldmund, und wie überraschend heftig es auf diesen gewirkt habe. Der Abt schüttelte den Kopf, nicht ohne Unmut.

»Merkwürdige Gespräche sind das«, sagte er und zwang sich zur Ruhe. »Was du mir da geschildert hast, ist ein Gespräch, das man einen Eingriff in eine fremde Seele nennen könnte, es ist, möchte ich sagen, ein seelsorgerliches Gespräch. Du bist aber nicht Goldmunds Seelsorger. Du bist überhaupt nicht Seelsorger, du hast die Weihen noch nicht. Wie kommt es, daß du mit einem Schüler im Ton des Beraters über Dinge sprichst, die bloß den Seelsorger angehen? Die Folgen, wie du siehst, sind üble gewesen.«

»Die Folgen«, sagte Narziß mit sanftem Ton, aber bestimmt, »kennen wir noch nicht, gnädiger Vater. Ich war etwas erschreckt über die heftige Wirkung, aber ich zweifle nicht daran, daß die Folgen unseres Gesprächs gute für Goldmund sein werden.«

»Wir werden die Folgen sehen. Ich rede jetzt nicht von ihnen, sondern von deinem Tun. Was hat dich veranlaßt, solche Gespräche mit Goldmund zu führen?«

»Wie Ihr wißt, ist er mein Freund. Ich habe zu ihm eine besondere Zuneigung, und ich glaube ihn besonders gut zu verstehen. Ihr nennt mein Verhalten gegen ihn seelsorgerlich. Ich habe mir keinerlei geistliche Autorität angemaßt, nur glaubte ich ihn etwas besser zu kennen, als er selbst sich kennt.«

Der Abt zuckte die Achseln.

»Ich weiß, dies ist deine Spezialität. Hoffen wir, daß du damit nichts Schlimmes angerichtet hast. – Ist Goldmund denn krank? Ich meine, fehlt ihm irgend etwas? Ist er schwächlich? Schläft er schlecht? Ißt er nichts? Hat er irgendwelche Schmerzen?«

»Nein, bis heute war er gesund. Am Leibe gesund.«

»Und sonst?«

»An der Seele ist er allerdings krank. Ihr wißt, er ist im Alter, wo die Kämpfe mit dem Geschlechtstrieb beginnen.«

»Ich weiß. Er ist siebzehn?«

»Er ist achtzehn.«

»Achtzehn. Nun ja. Spät genug. Aber diese Kämpfe sind ja etwas Natürliches, was jeder durchmachen muß. Darum kann man ihn doch nicht krank an der Seele nennen.«

»Nein, gnädiger Vater, darum allein nicht. Aber Goldmund war schon vorher seelenkrank, schon lange, darum sind diese Kämpfe für ihn gefährlicher als für andere. Er leidet, wie ich glaube, daran, daß er einen Teil seiner Vergangenheit vergessen hat.«

»So? Was ist das für ein Teil?«

»Es ist seine Mutter und alles, was mit ihr zusammenhängt. Auch ich weiß darüber nichts, ich weiß nur, daß dort die Quelle seiner Krankheit liegen muß. Goldmund nämlich weiß angeblich nichts von seiner Mutter, als daß er sie früh verloren hat. Es macht aber den Eindruck, als schäme er sich ihrer. Und doch muß sie es sein, von der er die meisten seiner Gaben geerbt hat; denn was er über seinen Vater zu sagen hat, läßt diesen Vater nicht als den Mann erscheinen, der einen so hübschen, vielbegabten und eigenartigen Sohn hat. Ich weiß dies alles nicht aus Berichten, ich schließe es aus Anzeichen.«

Der Abt, der anfangs diese Reden als altklug und überheblich in sich etwas belächelt hatte und dem die ganze Sache lästig und bemühend war, begann nachzudenken. Er erinnerte sich an Goldmunds Vater, an jenen etwas geschraubten und unverdaulichen Mann, und erinnerte sich jetzt auch, da er danach suchte, plötzlich wieder einiger Worte, die er damals über Goldmunds Mutter zu ihm geäußert hatte. Sie habe ihm Schande gemacht und sei ihm davongelaufen, hatte er gesagt, und er habe sich Mühe gegeben, in dem Söhnchen die Erinnerung an die Mutter und die etwaigen von ihr vererbten Laster zu unterdrücken. Dies sei auch wohl gelungen, und der Knabe sei willens, zur Sühnung dessen, was die Mutter gefehlt, sein Leben Gott darzubringen.

Nie hatte Narziß dem Abt so wenig gefallen wie heute. Und dennoch – wie gut hatte dieser Grübler geraten, wie gut schien er in der Tat Goldmund zu kennen!

Zum Schlüsse nochmals über die heutigen Vorgänge befragt, sagte Narziß: »Die heftige Erschütterung, in welche Goldmund heute geraten ist, war nicht von mir beabsichtigt. Ich habe ihn daran erinnert, daß er sich selbst nicht kennt, daß er seine Kindheit vergessen hat und seine Mutter. Irgendeines meiner Worte muß ihn getroffen haben und in das Dunkel gedrungen sein, gegen das ich schon so lange kämpfe. Er war wie entgeistert, er sah mich an, als kenne er mich und sich selbst nicht mehr. Ich habe ihm oft gesagt, er schlafe, er sei nicht richtig wach. Jetzt ist er geweckt worden, daran zweifle ich nicht.«

Er wurde entlassen, ohne Rüge, doch mit dem vorläufigen Verbot, den Kranken aufzusuchen.

Inzwischen hatte Pater Anselm den Ohnmächtigen auf ein Bett legen lassen und saß bei ihm. Ihn durch gewaltsame Mittel ins Bewußtsein zurückzuschrecken, schien ihm nicht geraten. Der Junge sah allzu schlecht aus. Wohlwollend blickte der alte Mann aus dem faltigen guten Gesicht auf den Jüngling. Vorläufig untersuchte er den Puls und horchte am Herzen. Gewiß, dachte er, hatte der Bursche irgend etwas Unmögliches gegessen, einen Haufen Sauerklee oder sonst etwas Dummes, man kannte das ja. Die Zunge konnte er nicht sehen. Er mochte Goldmund gern, aber seinen Freund, diesen frühreifen allzu jungen Lehrer, konnte er nicht leiden. Da hatte man es nun. Sicher war Narziß an dieser dummen Geschichte mitschuldig. Was brauchte auch so ein frischer, helläugiger Junge, so ein liebes Naturkind sich ausgerechnet mit diesem hochmütigen Gelehrten einzulassen, mit diesem eitlen Grammatiker, dem sein Griechisch wichtiger war als alles Lebendige auf der Welt! Als nach langer Zeit die Tür sich öffnete und der Abt hereinkam, saß der Pater noch immer und starrte in das Gesicht des Ohnmächtigen. Was war das für ein liebes, junges, argloses Gesicht, und da saß man nun daneben, sollte helfen und würde es wahrscheinlich nicht können. Gewiß, die Ursache konnte eine Kolik sein, er würde Glühwein verordnen, vielleicht Rhabarber. Aber je länger er in das grünbleiche, verzogene Gesicht blickte, desto mehr neigte sich sein Verdacht nach einer anderen Seite, einer bedenklicheren. Pater Anselm hatte Erfahrung. Mehrmals im Laufe seines langen Lebens hatte er Besessene gesehen. Er zögerte damit, den Verdacht auch nur vor sich selbst auszusprechen. Er würde warten und beobachten. Aber, dachte er grimmig, wenn dieser arme Junge wirklich verhext worden war, so würde man den Schuldigen wohl nicht weit zu suchen haben, und es sollte ihm nicht gut gehen. Der Abt trat näher, sah sich den Kranken an, hob ihm sachte ein Augenlid etwas in die Höhe.