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»Regt Euch doch nicht auf!«

»Wenn du unverschämt wirst, dann werde ich wohl noch wütend werden dürfen. Und jetzt scher dich zum Teufel und denk dran, daß du zwei Meilen Abstand zur Küste hältst.«

Sebastián nickte und ging die Steintreppe zum Strand hinunter. Doch schon auf der ersten Stufe drehte er sich um und fragte in einem ganz anderen Ton:

»Wißt Ihr etwas von meiner Schwester?«

»Nur daß sie im Haus dieses Hurensohns lebt.« Hauptmann Mendana hielt kurz inne, bevor er mit leicht ironischem Lächeln fortfuhr: »Aber mach dir keine Sorgen. Ich hab dir schon gesagt, daß deine Mutter dafür sorgt, daß es ihr an nichts fehlt.«

»Und ich habe Euch gesagt, daß sie nicht mehr meine Mutter ist«, lautete die trockene Antwort. »Meine Mutter ist gestorben.«

Unter den aufmerksamen Augen des Offiziers setzte er seinen Rückweg fort, kletterte in ein am Strand liegendes Boot und bat mit erhobenen Händen um Ruhe.

»Auf diesem Schiff gibt es alles, was ihr nur brauchen könnt. Und ab morgen früh wird das alles für ein Zehntel des Preises verkauft, den die Casa von euch verlangt. Doch denkt dran, wir nehmen nur Perlen an.«

Der Handel galt.

Für den pfiffigen Sebastián Heredia war es das erste große Geschäft seines Lebens. Sogar die Taue, Fässer und Segel der Nueva Esperanza schlug er los, und beinahe hätte er sogar noch den Anker verhökert, denn jeden Morgen strömten die Einheimischen aus allen Dörfern der Insel herbei, um zu Schleuderpreisen alles zu erwerben, was sie stets gebraucht und nie erhalten hatten.

In tiefer Nacht fuhren die Perlenfischer mit der ganzen Familie aufs Meer hinaus. Kaum dämmerte der Morgen, da tauchten sie schon ein ums andere Mal in die Tiefen hinab, während Frauen und Kinder mit flinken Händen die Austern knackten, um nach runden und schimmernden Perlen zu suchen.

Immer wenn sie eine gute Handvoll zusammen hatten, hißten sie die Segel und nahmen Kurs auf Juan Griego, um an Bord der Nueva Esperanza ihren Handel abzuschließen.

Als schließlich kein Nagel mehr übrig war, verließ Sebastián Heredia den alten Pott, der in der Bucht noch lange auf neue Segel warten würde, kehrte an Bord der Jacare zurück und legte vor dem lächelnden Kapitän zwei mittelgroße Säcke nieder.

»Im einen Sack ist das, was ich versprochen habe. Und im anderen der Überschuß. Die Hälfte davon gehört mir!«

»Was Jacare Jack verspricht, hält er auch«, lautete die Antwort. »Nimm dir, was dir zusteht.«

Als der Junge seinen Anteil entnommen hatte, ließ der Kapitän den Rest unter der Mannschaft verteilen, und zwar so, wie es die traditionellen Regeln der Bruderschaft der Küste vorschrieben. Danach kam dem Kapitän als Ausrüster des Schiffes ein Drittel der Beute zu, seinem Stellvertreter ein Zehntel. Was übrig blieb, wurde nach Rang und Dauer der Zugehörigkeit an die einzelnen Besatzungsmitglieder verteilt, wobei man einen Teil für Krankheiten und unvorhergesehene Notfälle beiseite legte.

In dieser Nacht veranstaltete die Besatzung ein enormes Saufgelage und prostete unzählige Male dem Jungen zu, der ihr ohne jegliches Blutvergießen zu so unerwartetem Reichtum verholfen hatte. Am nächsten Tag ließ der bereits nüchterne Kapitän Jacare Jack das Schiff in See stechen, winkte Lucas Castano zu sich und gab dem erstaunten Panamesen zu verstehen:

»Ich denke, wir sollten uns so viele Schiffe wie möglich holen, bevor sich herumspricht, daß es wesentlich lukrativer und ungefährlicher ist, Schiffe anzugreifen, die aus Europa kommen, anstatt dorthin zu fahren.«

»Ihr wollt doch nicht etwa das Ganze wiederholen?« entrüstete sich sein Stellvertreter.

»Warum denn nicht?« lautete die logische Antwort. »Wir sollten unsere Glückssträhne nutzen, solange sie andauert.«

»Das ist eines Piraten unwürdig, der etwas auf sich hält«, gab Lucas Castano zu bedenken.

»Hör mal zu, du Schwachkopf!« entgegnete sein Kapitän in aller Seelenruhe. »Ein Pirat hat nur eine Sorge: reich zu werden, bevor man ihn aufhängt. Und auf diese Weise klappt das doch wunderbar, also halt am besten den Schnabel wie bisher, und du wirst alt werden.«

Lucas Castano beherzigte den Rat, und so änderte die Jacare als erstes Schiff auf hoher See die in der Karibik herrschende Piratenstrategie. Statt zwischen der Insel Tortuga und den Bahamas den riesigen Galeonen aufzulauern, die gegen Ende des Sommers mit ihren Schätzen auf der Nordroute nach Spanien zurückkehrten, kreuzte die Jacare in den Gewässern von Barbados und Grenada, um die schwerfälligen Frachtschiffe zu überfallen, die sich ohne Begleitschutz der spanischen Flotte, die einmal jährlich von Sevilla nach Westindien fuhr, auf den Weg in die Neue Welt machten.

Die schwerfälligen spanischen Galeonen setzten fast ausschließlich quadratische Segel. Mit Rückenwind segelte man damit zwar wunderbar, Seitenwinde konnte man dagegen kaum ausnutzen. Daher gab es für die Steuermänner schon seit einem Jahrhundert nur zwei Atlantikrouten. Auf dem Weg in die Neue Welt nutzte man die Passatwinde, die im Oktober oder November zu blasen begannen. Mit diesem Rückenwind dauerte die Überfahrt von den Kanarischen Inseln nach Barbados nur einen guten Monat. Für die Rückkehr nach Europa nutzte man wiederum die Westwinde, die im Hochsommer wehten und die Schiffe von den Bahamas zu den Azoren und von dort an die spanische Küste trieben.

Aus diesem schlichten Grund entwickelte sich zwischen Sevilla, dem einzigen spanischen Hafen mit königlichem Patent, und einem riesigen Kontinent, von dessen wahren Grenzen man nur vage Vorstellungen hatte, ein unaufhörlicher Fluß an Menschen und Waren.

Die englischen, französischen und holländischen Korsaren hatten von ihren jeweiligen Kronen den ausdrücklichen Auftrag, dafür zu sorgen, daß Spanien durch Gold, Perlen, Diamanten und Smaragde aus seinen unendlich reichen Kolonien nicht noch mächtiger wurde. Also gab es für sie nur eins: die reichen Schätze auf ihrem Weg nach Spanien abzufangen, auch wenn man dafür besagte Galeonen auf den Grund des Meeres schicken mußte. Kein Wunder, daß die Korsaren spektakuläre Siege vermelden konnten. Schließlich hatten sie es ja nicht nötig, einen Feind gefangenzunehmen oder ihn in einer fairen Schlacht zu besiegen. Sie konnten sich darauf beschränken, schwer manövrierfähige Transportschiffe mit den modernsten Kriegstechniken zu zerstören.

Manchmal, wenn die Situation günstig und ohne großes Risiko schien, bemächtigten sich die Korsaren auch ihrer Beute. Damit handelten sie allerdings entschieden gegen den Auftrag ihrer Souveräne, die den Korsaren die berühmten Kaperbriefe ausgestellt hatten. Ein Korsar hatte demnach im Prinzip keine Wahl: Er konnte eine ganze Flotte versenken, ohne daß er daraus irgendeinen Nutzen hätte ziehen dürfen. Er war also in Wahrheit nichts weiter als eine Art »Staatsterrorist« seiner Zeit, der lediglich rein politischen Zwecken diente.

Die echten Seeräuber waren aus diesem Grund auf die Korsaren nicht gut zu sprechen. Wahllos so immense Reichtümer zu zerstören, von denen so viele hätten profitieren können, sahen die Piraten als idiotische Verschwendung und als Sicherheitsrisiko. Gold, Silber und Edelsteine ruhten nutzlos auf dem Meeresgrund, während die zahllosen Todesopfer, welche die barbarischen Attacken forderten, nur dazu dienten, daß die spanischen Behörden neue Kriegsschiffe schickten. Und die machten keinen Unterschied zwischen »ehrbaren Seeräubern« und barbarischen Korsaren.

Das soll nicht heißen, daß sich nicht bisweilen einige der skrupellosesten Piraten auf die Seite der Korsaren schlugen und mit ihnen gemeinsam eine mächtige Flotte oder eine Festung angriffen. Stets war jedoch klar, daß die einen nur den Auftrag hatten zu zerstören, während es den anderen ums Plündern ging.

Da es häufig zu solchen Allianzen kam, vergaßen die Opfer und später die Historiker mit der Zeit, worin ursprünglich der Unterschied zwischen Piraten und Korsaren bestanden hatte, und schließlich warf man beide in den gleichen Topf. Ob Korsar oder Pirat: Allein die bloße Erwähnung jagte Angst und Schrecken ein.