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Wie konnte man einem mißtrauischen Schotten und die gesamte finstere Besatzung davon überzeugen, daß weder er noch sein Vater die genaue Lage der Insel preisgeben würden?

Wer konnte garantieren, daß er schweigen würde wie ein Grab, falls er in die Hände der Schergen der Casa de Contratación fallen würde?

Und wer konnte ausschließen, daß eine saftige Belohnung die beiden nicht dazu verleiten würde, die Kameraden, mit denen sie so viele schwere Jahre geteilt hatten, zu verraten?

Ehrbarkeit hatte nie zu den Kardinaltugenden der Bruderschaft der Piraten gehört. Wie konnte man also von dieser üblen Meute »Seewölfe« erwarten, daß sie von sich aus an den Anstand eines ihrer Mitglieder glaubte?

Man hätte sich also wie die Marseiller bei Nacht und Nebel aus dem Staub machen müssen und wäre dabei Gefahr gelaufen, ebenfalls als Haifutter zu enden: ein Risiko, das der Junge um nichts in der Welt hätte eingehen wollen.

Und selbst wenn sie gefahrlos hätten fliehen können, wohin denn?

»Nach Hause«, hatte einige wenige Male der stets abwesende Miguel Heredia Ximénez zu diesem Thema gesagt. Die Schwester wiederzusehen war in der Tat auch der sehnlichste Wunsch seines Sohnes.

Was wohl aus ihr geworden war?

Inzwischen mußte sie fünfzehn Jahre alt sein, rechnete sich Sebastián aus, doch so sehr er sich auch Mühe gab, er konnte sich nicht vorstellen, wie aus dem Mädchen allmählich eine junge Frau wurde, und wenn sich die Schwester wie ein Schatten in seine Erinnerung schlich, dann stets als Kind.

Wenn das Boot seines Vaters am Kap vorbei in die weite Bucht von Juan Griego einfuhr, war das erste, was sie sahen, Sebastián mußte lächeln, wenn er daran dachte, das kleine Mädchen, das im Schatten der Festung La Galera saß, aufs Meer hinausschaute und sogleich fröhlich zu winken begann. Bis zum Schlafengehen wich es dann dem älteren Bruder nicht mehr von der Seite und folgte ihm wie ein treues Hündchen.

Nur zu oft hatte Sebastián den Spott seiner Freunde ertragen müssen, die nicht verstehen konnten, daß dieses kleine Mädchen, das eigentlich eher aussah wie ein kleiner Junge, stets wie eine Klette an ihm hing. Doch hatte die kecke Kleine ein so einnehmendes Wesen, daß die ungehobelte Jungenschar schließlich zähneknirschend ihre Anwesenheit duldete.

Schon mit vier Jahren zeigte Celeste Heredia Matamoros beeindruckend ihre Willenskraft, die sie allerdings hinter einem unschuldigen Lächeln und manchen schlagfertigen Antworten zu verbergen wußte.

Was mochte wohl aus ihr geworden sein, jetzt wo sie in einem Palast unter ganz anderen Menschen lebte?

Gelegentlich erinnerte sich Sebastián an die Wut, die in ihren rebellischen Augen funkelte, als man sie gewaltsam in die Kutsche des Abgesandten der Casa de Contratación von Sevilla zerrte, und er konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob der plötzliche Wandel in ihrer Lebensweise nicht Einfluß auf ihr mutiges und spontanes Wesen genommen hatte.

In Nächten wie dieser legte er sich mit dem Vorsatz schlafen, das Schiff zu verlassen und sich auf die Suche nach dem Mädchen zu machen.

Bald aber holte ihn das unendliche Meer in die bittere Wirklichkeit zurück: Er mochte zwar ein wahrhaft »freier Mann« sein, ein wilder Pirat ohne jegliche Bindungen, und doch war er ein Gefangener seines eigenen Berufs geworden, und die Taue, an die er sich beim Betrachten des weiten Horizonts klammerte, waren in Wirklichkeit nichts anderes als die schwachen Gitterstäbe eines Gefängnisses, aus dem die Flucht fast unmöglich erschien.

Eintönig flössen so die Tage dahin.

Und die Wochen.

Und die Monate.

Eine harte Strafe.

Zu hart in den Augen eines Menschen, der vom Leben wesentlich mehr erwartete.

An einem diesigen Nachmittag schließlich, bei dem man nicht wußte, ob ein Sturm oder eine der gefürchteten totalen Flauten drohte, die selbst stählerne Nerven auf die Probe stellten, entdeckten sie ein Schiff am Horizont.

Alle Augen folgten ihm.

Es war eine mittelgroße Galeone, deren Reling im Verhältnis zur Länge des Schiffs unverhältnismäßig hoch schien. Zunächst hielt das Schiff direkt auf die Piraten zu, dann schien es jedoch Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, indem es den Kurs änderte, offenkundig mit der Absicht, gut zwei Meilen luvseits zu kreuzen.

»Die Masten hoch!« befahl der Schotte angesichts dieses Manövers. »Und haltet die hohen Segel bereit.«

»Greifen wir an?« fragte verblüfft Lucas Castano.

Ein leichtes Kopfschütteln war die Antwort.

»Nein! Aber mit den Segeln, die er gesetzt hat, sollte er nicht nach Luv abfallen, sondern leeseits fahren. Ich trau ihm nicht.«

»Vielleicht eine Falle?«

»Unter einer so hohen Reling könnte er durchaus drei Kanonenreihen verbergen. Leute, paßt auf…!« rief er seiner Mannschaft auf Deck zu, die auf seine Befehle wartete. »Wenn das Schiff nur eine Idee auf uns zuhält, alle Segel setzen, Steuer hart Backbord und ab wie der Teufel!«

»Können wir ihn nicht stellen?« wollte Sebastián wissen.

Der Glatzkopf schaute ihn an wie einen Idioten.

»Hier und jetzt? Ich müßte verrückt sein! Wenn er uns ködern will, hat er wenigstens fünfzig Dreißigpfünder an Bord, mit denen er uns in Stücke reißen kann. Bei der Schlacht hätten wir keine Chance.«

Also warteten sie weiter ab, schweigend und angespannt, die Augen starr auf den Bug eines Geisterschiffs gerichtet, auf dessen Brücke kein menschliches Wesen auszumachen war.

»Gefällt mir nicht!« gab Lucas Castano schließlich zu. »Gefällt mir überhaupt nicht.«

»Macht die Rauchflöße fertig«, flüsterte der Schotte, und sein Befehl wurde von Mann zu Mann auf Deck weitergegeben.

Besagte »Flöße« waren in Wirklichkeit nur riesige, mit Öl und Schießpulver getränkte Strohballen. Angezündet verbreiteten sie einen dichten Rauch, der die Sicht der Kanoniere behinderte und die Flucht des in Bedrängnis geratenen Schiffs begünstigte.

Die Galeone, auf deren Bug man den provokanten Namen Vendaval (»Sturmwind«) entziffern konnte, setzte ihre schnelle Fahrt fort, wobei sie allmählich nach Steuerbord abfiel, als wollte sie so weit wie möglich an der Jacare vorbeisegeln. Doch als die Entfernung nur noch eine knappe Meile betrug, grollte Kapitän Jack vor sich hin und zog geräuschvoll den Rotz hoch:

»Entweder ändern die jetzt gleich den Kurs, oder sie können bei diesen Segeln ihr Manöver nicht fortsetzen, ohne längsseits zu gehen.«

Ohne Zweifel war er ein großartiger Seemann.

Der beste seines Metiers, von dem alle an Bord stets eine Menge lernen konnten. Denn kaum hatte er seinen Satz ausgesprochen, drehte der Bug der Vendaval langsam nach Backbord.

Unverzüglich brüllte der Schotte los:

»Alle Segel setzen, Steuer hart Backbord, Flöße ins Wasser!«

Drei Minuten später bot die Jacare der Vendaval nur noch ihr Achterschiff, machte geradezu einen Sprung nach vorn und glitt wie das schärfste Messer von Miguel Heredia durch die Wogen, während acht in ihrem Fahrwasser brennende Strohballen dichte, schwarze und stinkende Rauchsäulen aufsteigen ließen.

Die Kanonen der Galeone feuerten nur ein einziges Mal, ohne damit den Küstensegler zu gefährden, der in der Ferne verschwand. Die Besatzung amüsierte sich in der Zwischenzeit damit, dem Feind mit eindeutigen Handzeichen deutlich zu machen, wie wenig Respekt das schnellste Schiff der Karibik vor der Feuerkraft der Vendaval hatte.

Am Nachmittag war vom Angreifer keine Spur mehr zu sehen. Nun ließ der Kapitän die Glocke läuten, bis sich die gesamte Besatzung unterhalb des Achterkastells versammelt hatte.

»Jetzt sind wir an der Reihe!« sagte er.

»Greifen wir an?« riefen einige Stimmen im Chor, wobei sie eine Spur echter Begeisterung nicht verbergen konnten.

»Natürlich!« gab der Schotte zurück und wandte sich Lucas Castano zu. »Die schwarze Flagge hoch!«

Zustimmendes Raunen erfüllte das Deck, und bald grinsten die meisten Besatzungsmitglieder übers ganze Gesicht, als der riesige Totenschädel mit Krokodil am höchsten Mast flatterte.