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„Jemand hat es mir beigebracht", erwiderte sie und sah mich herausfordernd an.

„Gut. Es soll sehr gesund sein."

Ich füllte ein Glas und gab es ihr. Der Wein roch herber und aromatischer als die burgundischen Weine. Ich hatte keinen mehr getrunken, seit ich Deutschland verlassen hatte.

„Willst du nicht auch wissen, wer es mir beigebracht hat?" fragte Helen. „Nein."

Sie sah mich überrascht an. Früher hätte ich wahrscheinlich die ganze Nacht hindurch danach gefragt. Jetzt war nichts belangloser. Die schwerelose Unwirklichkeit des Abends war wieder da. „Du hast dich geändert", sagte sie.

„Heute abend hast du mir zweimal gesagt, ich hätte mich nicht geändert", erwiderte ich. „Das eine ist ebensowenig wichtig wie das andere."

Sie hielt ihr Glas, ohne zu trinken. „Vielleicht möchte ich, daß du dich nicht geändert hättest."

Ich trank. „Um mich leichter zu zerschlagen?" „Habe ich dich früher zerschlagen?" „Ich weiß es nicht. Ich glaube, nicht. Es ist sehr lange her. Wenn ich daran zurückdenke, wie ich damals war, wüßte ich nicht, warum um die Welt du es nicht versucht haben solltest."

„Man versucht es immer; weißt du das nicht?"

„Nein", sagte ich. „Aber ich bin jetzt gewarnt. Der Wein ist gut. Wahrscheinlich ist bei ihm die Fermentation nicht unterbrochen worden."

„Wie bei dir?"

„Helen", sagte ich. „Du bist nicht nur sehr aufregend — du bist auch komisch, und das ist eine außerordentlich seltene und reizvolle Kombination."

„Sei nicht so sicher", erwiderte sie ärgerlich und setzte sich auf das Bett, den Wein immer noch in der Hand.

„Ich bin nicht sicher. Aber äußerste Unsicherheit kann, wenn sie nicht zum Tode führt, zu einer Sicherheit führen, die nicht zu erschüttern ist", sagte ich lachend. „Das sind große Worte, aber sie sind nur die einfache Erfahrung eines Kugel-Daseins."

„Was ist ein Kugel-Dasein?"

„Meines. Eines, das nirgendwo bleiben kann; das sich nie ansiedeln darf; immer im Rollen bleiben muß. Das Dasein des Emigranten. Das Dasein des indischen Bettelmönches. Das Dasein des modernen Menschen. Es gibt übrigens mehr Emigranten, als man glaubt. Auch solche, die sich nie vom Fleck gerührt haben."

„Das klingt sehr gut", sagte Helen. „Besser als bürgerliche Stagnation."

Ich nickte. „Man kann es auch mit anderen Worten beschreiben; dann klingt es nicht so gut. Aber unsere Vorstellungskraft ist gottlob nicht sehr groß. Sonst würde es auch viel weniger Kriegsfreiwillige geben."

„Alles ist besser als Stagnation", sagte Helen und trank ihr Glas aus.

Ich betrachtete sie, während sie trank. Wie jung sie ist, dachte ich, wie jung, unerfahren, trotzig liebenswert, gefährlich und töricht. Sie weiß nichts. Nicht einmal, daß bürgerliche Stagnation ein moralischer Zustand ist; kein geographischer.

„Möchtest du in sie zurück?" fragte sie. „Ich glaube nicht, daß ich es könnte. Mein Vaterland hat mich wider meinen Willen zum Weltbürger gemacht. Nun muß ich es bleiben. Zurück kann man nie." „Auch nicht zu einem Menschen?" „Auch nicht zu einem Menschen", sagte ich. „Selbst die Erde führt ein. Kugel-Dasein. Sie ist ein Emigrant der Sonne. Man kann nie zurück. Oder man zerkracht." „Gott sei Dank." Helen hielt mir ihr Glas hin. „Wolltest du nie zurück?"

„Immer", erwiderte ich. „Ich folge nie meinen Theorien. Das gibt ihnen doppelten Reiz." Helen lachte. „Das alles ist nicht wahr!" „Natürlich nicht. Es ist ein bißchen Spinngewebe, tun anderes zu verdecken." „Was?" „Etwas ohne Worte." „Etwas, das es nur nachts gibt?"

Ich antwortete nicht. Ich saß ruhig im Bett. Der Wind der Zeit hatte aufgehört zu wehen. Er sauste mir nicht mehr in den Ohren. Es war, als ob ich aus einem Flugzeug in einen Ballon gekommen wäre. Ich schwebte und flog noch; aber der Lärm der Motoren war verstummt.

„Wie heißt du jetzt?" fragte Helen.

„Josef Schwarz."

Sie grübelte einen Augenblick. „Heiße ich dann jetzt auch Schwarz?"

Ich mußte lächeln. „Nein, Helen. Es ist nur irgendein Name. Der Mann, von dem ich ihn habe, hatte ihn auch schon geerbt. Ein ferner, toter Josef Schwarz lebt wie der Ewige Jude in mir bereits in der dritten Generation weiter. Ein fremder, toter Geistesahne."

„Du kennst ihn nicht?"

„Nein."

„Fühlst du dich anders, seit du einen anderen Namen hast?"

„Ja", sagte ich. „Weil ein Stück Papier dazugehört. Ein Paß."

„Auch wenn er falsch ist?"

Ich lachte. Es war eine Frage aus einer anderen Welt. Wie falsch und wie echt ein Paß war, lag an dem Polizisten, der ihn kontrollierte. „Man könnte darüber eine philosophische Parabel erfinden", sagte ich. „Sie müßte damit beginnen, zu untersuchen, was ein Name ist. Ein Zufall oder eine Identifikation."

„Ein Name ist ein Name", erwiderte Helen plötzlich störrisch. „Ich habe meinen verteidigt. Es war deiner. Jetzt kommst du und hast irgendwo einen anderen gefunden."

„Er ist mir geschenkt worden", sagte ich. „Es war das kostbarste Geschenk der Welt für mich. Ich trage ihn mit Freude. Er bedeutet Güte für mich. Menschlichkeit. Wenn ich verzweifeln sollte, irgendwann, wird er mich daran erinnern, daß Güte nicht tot ist. Woran erinnert dich deiner? An ein Geschlecht preußischer Krieger und Jäger mit dem Weltbild von Füchsen, Wölfen und Pfauen."

„Ich habe nicht vom Namen meiner Familie gesprochen", erwiderte Helen und ließ einen Pantoffel auf ihren Zehen balancieren. „Ich trage auch noch deinen. Den früheren, Herr Schwarz."

Ich öffnete die zweite Flasche Wein. „Man hat mir erzählt, daß es in Indonesien Sitte sei, ab und zu die Namen zu wechseln. Wenn jemand seiner Persönlichkeit müde wird, wechselt er sie, ergreift einen neuen Namen und beginnt ein neues Dasein. Eine gute Idee!" „Hast du ein neues Dasein angefangen?" „Heute", sagte ich.

Sie ließ den Pantoffel auf den Boden gleiten. „Nimmt man nichts in ein neues Dasein mit?" „Ein Echo", sagte ich. „Keine Erinnerung?"

„Das ist ein Echo. Erinnerung, die nicht mehr schmerzt und beschämt."

„Als sähe man einen Film?" fragte Helen. Ich blickte sie an. Sie sah aus, als würde sie mir im nächsten Augenblick ihr Glas an den Kopf werfen. Ich nahm es ihr aus der Hand und goß den Wein aus der zweiten Flasche ein. „Was ist das für einer?" fragte ich.

„Schloß Reinhartshausener. Ein großer Rheinwein. Voll ausgereift. Nicht unterbrochen in der Gärung. Gleichgeblieben in seinem Charakter. Nicht zu einem Pfälzer umgedeutet."

„Kein Emigrant also?" sagte ich.

„Kein Chamäleon, das seine Farbe wechselt. Nicht jemand, der sich seiner Verantwortung entzieht."

„Mein Gott, Helen!" sagte ich. „Höre ich die Flügel bürgerlicher Wohlanständigkeit rauschen? Wolltest du nicht ihrer Stagnation entgehen?"

„Du machst mich Dinge sagen, die ich nicht meine", erwiderte sie zornig. „Wovon reden wir hier? Und wozu? In der ersten Nacht! Warum küssen wir uns nicht oder hassen uns?"

„Wir küssen und hassen uns." „Das sind Worte! Woher hast du all die vielen Worte? Ist es richtig, daß wir hier so sitzen und so reden?" „Ich weiß nicht, was richtig ist." „Woher hast du dann all die Worte? Hast du drüben so viel geredet und so viel Gesellschaft gehabt?"

„Nein", sagte ich. „So wenig. Deshalb kommen die Worte jetzt herausgestürzt wie Äpfel aus einem Korb. Ich bin ebenso überrascht wie du."

„Ist das wahr?"

„Ja, Helen", sagte ich. „Es ist wahr. Siehst du denn nicht, was es heißt?"

„Kannst du es nicht einfacher sagen? Ich schüttelte den Kopf. „Warum nicht?"

„Weil ich Angst vor Feststellungen habe. Und Angst vor Worten, die etwas feststellen. Du magst es nicht glauben, aber es ist so. Dazu kommt noch die Angst vor der anonymen Angst, die irgendwo draußen durch die Straßen schleicht, an die ich nicht denken und von der ich nicht reden will, weil ein dummer Aberglaube in mir annimmt, daß die Gefahr nicht existiere, solange ich sie nicht zur Kenntnis nehme. Deshalb haben wir dieses abwegige Gespräch. Die Zeit scheint dadurch aufgehoben zu sein, so wie in einem Film, der gerissen ist. Plötzlich steht alles still, so daß nichts passieren kann."