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Ravic schüttelte den Kopf. »Am besten, man bleibt,’ wo man ist, und lebt so, als wäre nichts geschehen.« »Nein. Diesmal nicht.« Ravic sah Morosow an. »Ich laufe nicht weg. Ich bleibe hier. Das gehört mit dazu. Verstehst du das nicht?« Morosow erwiderte nichts darauf. »Verbrenne zunächst einmal die Gepäckquittung«, sagte er.

Ravic nahm den Zettel aus der Tasche, zündete ihn an und ließ ihn über dem Aschenbecher verbrennen. Morosow nahm den Kupferteller und schüttete die dünne Asche aus dem Fenster. »So, das ist erledigt. Du hast sonst nichts mehr von ihm bei dir?«

»Geld.«

»Laß es sehen.«

Er examinierte es. Es waren keine Zeichen darauf. »Das ist leicht unterzubringen. Was willst du damit machen?« »Ich kann es dem Refugiéfonds schicken. Anonym.« »Wechsle es morgen, und schick es in zwei Wochen.« »Gut.« Ravic steckte das Geld ein. Während er es zusammen faltete, fiel ihm plötzlich ein, daß er gegessen hatte. Er ließ den Blick flüchtig auf seine Hände gleiten. Sonderbar, was er da morgens alles gedacht hatte. Er nahm ein anderes Stück des frischen, dunklen Brotes.

»Wo wollen wir essen?« fragte Morosow.

»Irgendwo.«

Morosow sah ihn an. Ravic lächelte. Es war das erstemal, daß er lächelte. »Boris«, sagte er. »Sieh mich nicht an wie eine Krankenschwester jemand, bei dem sie einen Nervenzusammenbruch befürchtet. Ich habe ein Vieh ausgelöscht, das es tausendundtausendmal schlimmer verdient hat. Ich habe Dutzende von Menschen in meinem Leben getötet, die mich nichts angingen, und ich bin dekoriert worden dafür, und ich habe sie auch nicht in fairem Kampf getötet, sondern sie beschlichen, belauert, von hinten, wenn sie nichts ahnten, und es war Krieg und war ehrenvoll. Das einzige, was mir ein paar Minuten in der Kehle saß, war, daß ich es dem Kerl nicht vorher ins Gesicht sagen konnte, und das war ein idiotischer Wunsch. Er ist erledigt, und er wird keine Menschen mehr quälen, und ich habe darüber geschlafen, und es ist so weit weg jetzt, als läse ich es in der Zeitung.«

»Gut.« Morosow knöpfte seinen Rock zu. »Dann laß uns gehen. Ich brauche was zu trinken.«

Ravic blickte auf. »Du?«

»Ja, ich!« sagte Morosow. »Ich.« Er zögerte eine Sekunde. »Ist heute das erstemal, daß ich mich alt fühle.«

31

Die Abschiedsfeier für Rolande begann pünktlich um sechs Uhr. Sie dauerte nur eine Stunde. Um sieben begann das Geschäft wieder.

Der Tisch war in einem Nebenraum gedeckt. Alle Huren waren angezogen. Die meisten trugen schwarze Seidenkleider. Ravic, der sie immer nur nackt oder mit ein paar dünnen Fetzen gesehen hatte, hatte Mühe, eine Anzahl von Ihnen wiederzuerkennen. Nur ein halbes Dutzend von ihnen war als Notfallsgruppe im großen Saal zurückgelassen worden. Sie würden sich um sieben Uhr umziehen und nachserviert bekommen. Keine von ihnen würde in Berufstracht herüberkommen. Es war nicht eine Vorschrift Madames — die Mädchen selbst hatten es so gewollt. Ravic hatte es nicht anders erwartet. Er kannte die Etikette unter Huren; sie war strenger als die der großen Gesellschaft.

Die Mädchen hatten zusammengelegt und Rolande sechs Korbsessel für ihr Restaurant geschenkt. Madame hatte eine Registrierkasse gestiftet, Ravic zwei Marmortische zu den Korbsesseln. Er war der einzige Außenseiter bei der Feier. Und der einzige Mann.

Das Essen begann fünf Minuten nach sechs. Madame präsidierte. Rechts von ihr saß Rolande, links Ravic. Es folgten die neue Gouvernante, die Hilfsgouvernante und dann die Reihen der Mädchen.

Die Hors d’œuvres waren hervorragend. Straßburger Gänseleber, Paté Maison, dazu alter Sherry. Ravic bekam eine Flasche Wodka. Er haßte Sherry. Es folgte Vichyoise feinster Qualität. Dann Turbot mit Meursault 1933. Der Turbot hatte die Klasse des Maxims. Der Wein war leicht und jung genug dazu. Dünne, grüne Spargel folgten. Dann am Spieß gebratene Hühner, knusprig und zart, ein erlesener Salat mit einem Hauch von Knoblauch, dazu Château St. Emilion. Am oberen Ende der Tafel wurde eine Flasche Romané Conti 1921 getrunken. »Die Mädchen verstehen das nicht«, erklärte Madame. Ravic verstand es. Er bekam eine zweite Flasche. Dafür verzichtete er auf den Champagner und die Mousse Chocolat. Er aß mit Madame einen fließenden Brie zu dem Wein, mit frischem, weißem Brot ohne Butter.

Die Unterhaltung bei Tisch war die eines Mädchenpensionats. Die Korbsessel waren mit Schleifen geschmückt. Die Registrierkasse glänzte. Die Marmortische schimmerten. Wehmut schwebte durch den Raum. Madame war in Schwarz. Sie trug Diamanten. Nicht zuviel. Eine Brosche und einen Ring. Ausgesuchte, blauweiße Steine. Keine Krone, obwohl sie Gräfin geworden war. Sie hatte Geschmack. Madame liebte Brillanten. Sie erklärte, Rubine und Smaragden seien Risiken. Diamanten seien sicher. Sie plauderte mit Rolande und Ravic. Sie war sehr belesen. Ihre Unterhaltung war amüsant, leicht und geistvoll. Sie zitierte Montaigne, Chateaubriand und Voltaire. Über dem klugen, ironischen Gesicht schimmerte das weiße, etwas blau gefärbte Haar.

Um sieben Uhr, nach dem Kaffee, erhoben sich die Mädchen wie folgsame Pensionstöchter. Sie bedankten sich höflich bei Madame und verabschiedeten sich von Rolande. Madame blieb noch eine Weile. Sie ließ einen Armagnac bringen, wie ihn Ravic noch nie getrunken hatte. Die Aushilfsbrigade, die Dienst gehabt hatte, kam herein, gewaschen, weniger geschminkt als bei der Arbeit, umgezogen, in Abendkleidern. Madame wartete, bis die Mädchen saßen und beim Turbot waren. Sie wechselte mit jedem ein paar Worte und bedankte sich, daß sie die Stunde vorher geopfert hatten. Dann verabschiedete sie sich graziös. »Ich sehe Sie noch, Rolande, bevor Sie gehen...«

»Gewiß, Madame.«

»Darf ich den Armagnac hier lassen?« fragte sie Ravic.

Ravic bedankte sich. Madame ging, jeder Zoll eine Dame erster Klasse.

Ravic nahm die Flasche und setzte sich zu Rolande hinüber. »Wann fährst du?« fragte er.

»Morgen nachmittag um vier Uhr sieben.«

»Ich werde an der Bahn sein.«

»Nein, Ravic. Das geht nicht. Mein Bräutigam kommt heute abend an. Wir fahren zusammen ab. Du verstehst, daß du da nicht kommen kannst? Er würde erstaunt sein.«

»Natürlich.«

»Wir wollen morgen früh noch einige Sachen aussuchen und alles abschicken lassen, bevor wir reisen. Ich ziehe heute abend ins Hotel Belfort. Gut, billig, sauber.«

»Wohnt er auch da?«

»Natürlich nicht«, sagt Rolande überrascht. »Wir sind doch noch nicht verheiratet.«

»Richtig.«

Ravic wußte, daß das alles keine Pose war. Rolande war eine Bürgerin, die einen Beruf gehabt hatte. Ob es ein Mädchenpensionat war oder ein Bordell, war dasselbe. Sie hatte ihren Beruf ausgefüllt, und jetzt war es vorbei, und sie kehrte zu ihrer bürgerlichen Welt zurück, ohne einen Schatten von der andern mitzunehmen. Es war ebenso bei vielen der Huren. Manche von ihnen wurden ausgezeichnete Ehefrauen. Hure zu sein war ein seriöser Beruf; kein Laster. Das sicherte vor Degradation.

Rolande nahm die Flasche Armagnac und goß Ravic ein neues Glas ein. Dann holte sie einen Zettel aus der Handtasche. »Wenn du einmal von Paris weg willst — hier ist die Adresse unseres Hauses. Du kannst immer kommen.«

Ravic blickte auf die Adresse. »Es sind zwei Namen«, sagte sie. »Einer für die ersten zwei Wochen. Er ist meiner. Danach ist es der meines Bräutigams.«

Ravic steckte den Zettel ein. »Danke, Rolande. Vorläufig bleibe ich in Paris. Außerdem würde dein Bräutigam sicher überrascht sein, wenn ich plötzlich hereingeschneit käme.«

»Du meinst, weil ich möchte, daß du nicht zur Bahn kommst? Das ist etwas anderes. Dieses hier gebe ich dir für jeden Fall, daß du einmal von Paris weg mußt. Rasch. Dafür.«

»Er sah auf. »Warum?«

»Ravic«, sagte sie. »Du bist ein Refugié. Und Refugiés haben manchmal Schwierigkeiten. Da ist es gut, zu wissen, wo man wohnen kann, ohne daß die Polizei sich kümmert.«