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Er ließ den Talbot in der Rue Poncelet stehen. Im Augenblick, als der Motor schwieg und er ausstieg, fühlte er, wie müde er war. Es war nicht mehr die gelöste Müdigkeit der Fahrt, es war ein hohles, leeres Nur-Schlafen-Wollen. Er ging zum »International«, und es machte ihm Mühe, zu gehen. Die Sonne lag wie ein Balken auf seinem Nacken. Er dachte daran, daß er sein Appartement im »Prince de Galles« aufgeben mußte. Er hatte es vergessen. Er war so müde, daß er einen Augenblick überlegte, ob er es nicht später tun sollte. Dann zwang er sich und fuhr mit einem Taxi zum »Prince de Galles«. Er vergaß fast, als er seine Rechnung bezahlt hatte, seinen Koffer holen zu lassen.

Er wartete in der kühlen Halle. Rechts, in der Bar, saßen ein paar Leute und tranken Martinis. Er schlief fast ein, bis der Gepäckträger kam. Er gab ihm ein Trinkgeld und nahm ein Taxi. »Zum Gare de l’Est«, sagte er. Er sagte es so laut, daß der Portier und der Träger es deutlich hören konnten.

An der Ecke der Rue de la Boëtie ließ er halten. »Ich habe mich um eine Stunde geirrt«, sagte er zu dem Taxi-chauffeur. »Bin zu früh. Halten Sie hier vor dem Bistro.«

Er zahlte, nahm seinen Koffer, ging zu dem Bistro und sah das Taxi verschwinden. Er ging zurück, nahm ein anderes und fuhr zum »International«.

Niemand war unten außer einem Jungen, der schlief. Es war zwölf Uhr. Die Patronne war beim Mittagessen. Ravic trug den Koffer zu seinem Zimmer. Er zog sich aus und drehte die Brause an. Er wusch sich lange und gründlich. Dann rieb er sich mit Alkohol ab. Es machte ihn frischer. Er verstaute den Koffer und versorgte die Sachen, die darin waren. Er zog frische Wäsche und einen anderen Anzug an und ging hinunter zu Morosow.

»Ich wollte gerade zu dir«, sagte Morosow. »Heute ist mein freier Tag. Wir können im ›Prince de Galles‹...« Er verstummte und sah Ravic genauer an.

»Nicht mehr nötig«, sagte Ravic.

Morosow sah ihn an. »Erledigt«, sagte Ravic. »Heute morgen. Frag mich nicht. Ich will schlafen.«

»Brauchst du noch was?«

»Nichts. Alles Erledigt. Glück.«

»Wo ist der Wagen?«

»Rue Poncelet. Alles in Ordnung.«

»Nichts weiter zu tun?«

»Nichts. Habe plötzlich verdammte Kopfschmerzen. Will schlafen. Ich komme später ’runter.«

»Gut. Ist nichts mehr zu erledigen?«

»Nein«, sagte Ravic. »Nichts mehr, Boris. Es war einfach.«

»Du hast nichts vergessen?«

»Ich glaube nicht. Nein. Ich kann das jetzt nicht noch einmal durchkauen. Muß erst schlafen. Später. Bleibst du hier?«

»Natürlich«, sagte Morosow.

»Gut. Ich komme dann herunter.«

Ravic ging zurück in sein Zimmer. Er hatte auf einmal schwere Kopfschmerzen. Er stand eine Weile am Fenster. Unter ihm schimmerten die Lilien des Emigranten Wiesenhoff. Gegenüber die graue Wand mit den leeren Fenstern. Es war alles zu Ende. Es war richtig und gut und mußte so sein, aber es war zu Ende, und da war kein Weiter mehr. Es war nichts mehr da. Nichts mehr von ihm. Morgen war sein Name ohne Sinn. Steil vor seinem Fenster fiel der Tag ab.

Er zog sich aus und wusch sich noch einmal. Er ließ seine Hände lange im Alkohol und ließ sie in der Luft trocknen. Die Haut spannte sich um die Gelenke der Finger. Sein Kopf war schwer, und sein Gehirn schien wie lose darin umherzurollen. Er holte eine Injektionsspritze und kochte sie in einem kleinen elektrischen Kocher auf der Fensterbank. Das Wasser bubbelte eine Zeitlang. Es erinnerte ihn an den Bach. Nur an den Bach. Er schlug die Köpfe von zwei Ampullen ab und zog den wasserhellen Inhalt in die Spritze. Er machte sich die Injektion und legte sich aufs Bett. Nach einer Weile holte er seinen alten Schlafrock und deckte sich damit zu. Es war ihm, als wäre er zwölf Jahre alt und müde und allein in der sonderbaren Einsamkeit des Wachsens und der Jugend.

Er wachte auf in der Dämmerung. Ein blasses Rosa hing über den Hausdächern. Von unten kamen die Stimmen von Wiesenhoff und Frau Goldberg. Er konnte nicht verstehen, was sie redeten. Er wollte es auch nicht. Er war in der Stimmung eines Menschen, der nachmittags geschlafen hat und es nicht gewohnt ist — herausgefallen aus allen Beziehungen und reif für einen raschen, sinnlosen Selbstmord. Ich wollte, ich könnte jetzt operieren, dachte er. Einen schweren, fast aussichtslosen Fall. Ihm fiel ein, daß er den Tag über nichts gegessen hatte. Er spürte plötzlich rasenden Hunger. Die Kopfschmerzen waren verschwunden. Er zog sich an und ging hinunter.

Morosow saß in Hemdsärmeln in seinem Zimmer am Tisch und löste eine Schachaufgabe. Der Raum war fast kahl. An der einen Wand hing ein Uniformrock. In einer Ecke eine Ikone mit einem Licht davor. In einer andern stand ein Tisch mit einem Samowar, in der dritten ein moderner Eisschrank. Es war der Luxus Morosows. In ihm hielt er Wodka, Lebensmittel und Bier kalt. Ein türkischer Teppich lag vor dem Bett.

Morosow stand ohne ein Wort auf und holte zwei Gläser und eine Wodkaflasche. Er schenkte die Gläser voll. »Subowka«, sagte er.

Ravic setzte sich an den Tisch. »Ich will nichts trinken, Boris. Ich bin nur verdammt hungrig.«

»Gut. Laß uns essen gehen. Einstweilen...« Morosow kramte schwarzes, russisches Brot, Gurken, Butter und eine kleine Büchse Kaviar aus dem Eisschrank, »... nimm das! Der Kaviar ist ein Geschenk des Küchenchefs der Scheherazade. Vertrauenswürdig.«

»Boris«, sagte Ravic. »Laß uns kein Theater spielen. Ich habe den Mann vor der ›Osiris‹ getroffen, ihn im Bois erschlagen und in St. Germain begraben.«

»Hat dich jemand gesehen?«

»Nein. Auch vor der ›Osiris‹ nicht.«

»Nirgendwo?«

»Im Bois kam jemand über die Wiese. Als alles erledigt war. Ich hatte ihn im Wagen. Man konnte nichts sehen als den Wagen und mich, der kotzte. Ich konnte besoffen sein, und mir konnte schlecht geworden sein. Nichts Außergewöhnliches.«

»Was hast du mit seinen Sachen gemacht?«

»Vergraben. Identitätsmarken herausgeschnitten und mit seinen Papieren verbrannt. Ich habe nur noch sein Geld und eine Quittung für sein Gepäck am Gare du Nord. Er hatte sein Zimmer schon aufgegeben und wollte abreisen heute morgen.«

»Verdammt, das war Glück! Irgendwelche Blutspuren?«

»Nein. Da war kaum Blut. Ich habe mein Zimmer im ›Prince de Galles‹ aufgegeben. Meine Sachen sind wieder hier. Es ist wahrscheinlich, daß die Leute, mit denen er hier zu tun hatte, annehmen, er sei abgereist. Wenn man das Gepäck abholen würde, würde keine Spur mehr von ihm hier sein.«

»Man wird in Berlin merken, daß er nicht ankommt, und hier zurückfragen.«

»Wenn das Gepäck nicht da ist, wird man nicht wissen, wohin er gefahren ist.«

»Man wird es wissen. Er hat seine Schlafwagenkarte nicht benutzt. Hast du sie verbrannt?«

»Ja.«

»Dann verbrenne die Quittung auch.«

»Man könnte sie an das Gepäckdepartement schicken und das Gepäck nach Berlin oder sonstwo gegen Nachnahme gehen lassen.«

»Das bleibt dasselbe. Es ist besser, sie zu verbrennen. Wenn du zu gerissen bist, wird man mehr vermuten als jetzt. So ist er einfach verschwunden. Das kommt vor in Paris. Man wird nachforschen und mit Glück herausfinden, wo er zuletzt gesehen worden ist. In der ›Osiris‹. Warst du drin?«

»Ja. Für eine Minute. Ich sah ihn. Er sah mich nicht. Ich habe dann draußen auf ihn gewartet. Da hat uns niemand gesehen.«

»Man kann nachfragen, wer um dieselbe Zeit in der ›Osiris‹ war. Rolande wird sich erinnern, daß du da warst.«

»Ich bin oft da. Das macht noch nichts.«

»Es ist besser, man fragt dich nichts. Emigrant, ohne Papiere. Weiß Rolande, wo du wohnst?«

»Nein. Aber sie kennt Vebers Adresse. Er ist der offizielle Arzt. Rolande gibt ihren Posten in einigen Tagen auf.«

»Man wird wissen, wo sie ist.« Morosow schenkte sich ein Glas ein. »Ravic, ich glaube, es ist besser, du verschwindest für einige Wochen.«

Ravic sah ihn an. »Das ist leicht gesagt, Boris. Wohin?« »Irgendwohin, wo Leute sind. Geh nach Cannes oder Deauville. Da ist jetzt viel los, und du kannst untertauchen. Oder nach Antibes. Du kennst es, und keiner fragt dich da nach Pässen. Ich kann von Veber und Rolande dann immer hören, ob die Polizei bei ihnen angefragt hat, um dich als Zeuge zu vernehmen.«