»Rede nicht, Knabe. Ich habe die Aljechinische Variante über den Unterbrechungen verpfuscht. Dieser Läufer scheint verloren zu sein.« Morosow sah auf. »Mein Gott, da kommt schon wieder einer. Ein anderer Adjutant. Was für ein Volk!«
»Das ist der Oberst Gomez selbst.« Ravic lehnte sich behaglich zurück. »Dies wird eine Diskussion zwischen zwei Obersten.«
»Eine kurze, mein Sohn.«
Der Oberst war noch förmlicher als Navarro. Er entschuldigte sich bei Morosow wegen des Irrtums seines Adjutanten. Die Entschuldigung wurde entgegengenommen. Gomez lud nun, da alle Schwierigkeiten überstanden waren, äußerst zeremoniell ein, als Zeichen der Versöhnung gemeinsam das Glas auf Franco zu trinken. Diesmal lehnte Ravic ab.
»Aber als verbündeter Deutscher...« Der Oberst war sichtlich verwirrt.
»Oberst Gomez«, sagte Ravic, der allmählich ungeduldig wurde, »lassen wir die Situation, wie sie ist. Trinken Sie, auf wen Sie wollen, und ich spiele Schach.«
Der Oberst versuchte nachzudenken. »Dann sind Sie also ein...«
»Besser, Sie stellen nichts fest«, unterbrach Morosow ihn. »Führt nur zu Streitigkeiten.«
Gomez wurde immer verwirrter.
»Aber Sie, als Weißrusse und zaristischer Offizier, müßten doch gegen...«
»Wir müssen gar nichts. Wir sind veraltete Kreaturen. Wir haben verschiedene Meinungen und schlagen uns trotzdem nicht die Schädel ein.«
Gomez schien endlich ein Licht aufzugehen. Er straffte sich. »Ich sehe«, erklärte er schneidend. »Verweichlichte, demokratische...«
»Mein Lieber«, sagte Morosow plötzlich gefährlich. »Verschwinden Sie! Sie hätten schon vor Jahren verschwunden sein sollen. Nach Spanien. Um zu kämpfen. Statt dessen kämpfen Deutsche und Italiener da für Sie. Adieu!«
Er stand auf. Gomez trat einen Schritt zurück. Er starrte Morosow an. Dann machte er abrupt kehrt und ging zu seinem Tisch zurück. Morosow setzte sich wieder. Er seufzte und klingelte dem Serviermädchen. »Bringen Sie uns zwei doppelte Calvados, Clarisse.«
Clarisse nickte und verschwand. »Brave, soldatische Seelen.« Ravic lachte. »Einfacher Verstand und komplizierte Ehrbegriffe. Erschweren das Leben, wenn man betrunken ist.«
»Das sehe ich. Da kommt bereits der nächste. Das ist ja eine Prozession. Wer ist es diesmal? Franco selbst?«
Es war Navarro. Er hielt zwei Schritte vor dem Tisch und adressierte Morosow. »Oberst Gomez bedauert, Ihnen keine Forderung überbringen zu können. Er verläßt Paris diese Nacht. Außerdem ist seine Mission zu wichtig, um mit der Polizei Schwierigkeiten zu haben.« Er wandte sich an Ravic. »Oberst Gomez schuldet Ihnen noch das Honorar für Ihre Konsultation.« Er warf eine zusammengefaltete Fünf-Frank-Note auf den Tisch und wollte kehrtmachen.
»Einen Augenblick«, sagte Morosow. Clarisse stand gerade neben ihm mit dem Tablett. Er nahm das Glas Calvados, betrachtete es kurz, schüttelte den Kopf und stellte es zurück. Dann nahm er eines der Wassergläser vom Tablett und schüttete es Navarro ins Gesicht. »Das ist, um Sie nüchtern zu machen«, erklärte er ruhig. »Merken Sie sich künftig, daß man Geld nicht wirft. Und nun fort mit Ihnen, Sie mittelalterlicher Idiot.«
Navarro stand überrascht. Er trocknete sich das Gesicht ab. Die anderen Spanier kamen heran. Es waren vier. Morosow erhob sich langsam. Er überragte die Spanier um mehr als einen Kopf. Ravic blieb sitzen. Er sah Gomez an. »Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte er. »Sie sind alle nicht nüchtern. Sie haben nicht die geringste Chance. In ein paar Minuten würden Sie mit gebrochenen Knochen hier herumliegen. Selbst wenn Sie nüchtern wären, hätten Sie keine Chance.« Er stand auf, griff Navarro rasch an den Ellbogen, hob ihn an, drehte ihn herum und stellte ihn so dicht neben Gomez auf den Boden, daß Gomez beiseite treten mußte. »Und nun lassen Sie uns in Ruhe. Wir haben Sie nicht aufgefordert, uns zu belästigen.« Er nahm die Fünf-Frank-Note vom Tisch und legte sie auf das Tablett. »Das ist für Sie, Clarisse. Von den Herren hier.«
»Erstmals, daß ich von denen etwas bekomme«, erklärte Clarisse. »Danke.«
Gomez sagte etwas in Spanisch. Die fünf machten kehrt und gingen zu ihrem Tisch zurück. »Schade«, sagte Morosow. »Ich hätte die Brüder gern verprügelt. Geht leider deinetwegen nicht, du illegaler Findling. Bedauerst du es nicht manchmal, daß du es nicht kannst?«
»Nicht bei denen. Es gibt andere, die ich haben möchte.«
Man hörte von dem Tisch in der Ecke ein paar Worte Spanisch. Die fünf standen auf. Ein dreifaches Viva erscholl. Die Gläser wurden klirrend niedergesetzt, und die Gruppe verließ martialisch den Raum.
»Fast hätte ich ihm den guten Calvados ins Gesicht gegossen.«
Morosow nahm das Glas und trank es aus. »Und so was regiert jetzt in Europa! Waren wir auch einmal so blödsinnig?« »Ja«, sagte Ravic.
Sie spielten ungefähr eine Stunde. Dann sah Morosow auf. »Da kommt Charles«, sagte er. »Er will scheinbar etwas von dir.«
Ravic sah auf. Der Bursche aus der Conciergenloge kam heran. Er hatte ein kleines Paket in der Hand. »Dies hier ist für Sie abgegeben worden.«
»Für mich?«
Ravic betrachtete das Paket. Es war klein, in weißes Seidenpapier gewickelt und verschnürt. Eine Adresse stand nicht drauf. »Ich erwarte keine Pakete. Muß ein Irrtum sein. Wer hat es gebracht?« »Eine Frau... eine Dame...«, stotterte der Bursche.
»Eine Frau oder eine Dame?« fragte Morosow.
»So... so dazwischen.«
Morosow schmunzelte. »Ziemlich scharfsinnig.«
»Es steht kein Name darauf. Hat sie gesagt, es sei für mich?«
»Das nicht gerade. Nicht Ihren Namen. Sie hat gesagt, für den Arzt, der hier wohnt. Und... Sie kennen die Dame.«
»Hat sie das gesagt?«
»Nein«, platzte der Bursche heraus. »Aber sie kam doch neulich nachts mit Ihnen.«
»Es kommen ab und zu Damen mit mir, Charles. Aber du solltest wissen, daß Diskretion die erste Tugend eines Hotelangestellten ist. Indiskretion ist für die Kavaliere der großen Welt.«
»Mach das Paket auf, Ravic«, sagte Morosow. »Selbst wenn es nicht für dich ist. Wir haben schon Schlimmeres angestellt in unserem bedauernswürdigen Leben.«
Ravic lachte und öffnete es. Er wickelte einen kleinen Gegenstand aus. Es war die hölzerne Madonna, die er im Zimmer der Frau — er dachte nach — wie hieß sie doch? Madeleine- Mad-, er hatte es vergessen. Irgend so ein ähnlicher Name. Er sah in dem Seidenpapier nach. Es war kein Zettel dabei. »Gut«, sagte er zu dem Burschen. »Es stimmt.«
Er stellte die Figur auf den Tisch. Sie stand sonderbar fremd zwischen den Schachfiguren. »Russin?« fragte Morosow.
»Nein. Hatte ich anfangs auch gedacht.«
Ravic sah, daß das Lippenrot abgewaschen war. »Was soll ich nur damit machen?«
»Stelle es irgendwo hin. Man kann vieles irgendwo hinstellen. Es gibt für alles genug Platz in der Welt. Nur nicht für Menschen.«
»Sie werden den Mann beerdigt haben.«
»Ist es die?«
»Ja.«
»Hast du dich noch einmal um sie gekümmert?«
»Nein.«
»Sonderbar«, sagte Morosow, »daß wir immer glauben, etwas getan zu haben, und dann aufhören, wenn es für den anderen am schwierigsten wird.«
»Ich bin kein Wohltätigkeitsinstitut, Boris. Und ich habe schon Schlimmeres gesehen als das und nichts getan. Warum soll es für sie jetzt schwieriger sein?«
»Weil sie jetzt erst wirklich allein ist. Bisher war der Mann immer noch da, auch wenn er tot war. Er war über der Erde. Jetzt ist er unter der Erde — fort, nicht mehr da. Das da« — Morosow zeigte auf die Madonna — »ist kein Dank. Es ist ein Hilferuf.«
»Ich habe mit ihr geschlafen«, sagte Ravic, »ohne zu wissen, was los war. Ich will das vergessen.«
»Unsinn! So was ist das Unwichtigste von der Welt, solange es keine Liebe ist. Ich kannte eine Frau, die sagte, es sei leichter, mit einem Mann zu schlafen, als ihn beim Vornamen zu nennen.« Morosow beugte sich vor. Sein großer, kahler Schädel spiegelte sich im Licht. »Ich will dir etwas sagen, Ravic, wir sollen freundlich sein, wenn wir es können und solange wir es können — denn wir werden in unserem Leben noch einige sogenannte Verbrechen begehen. Ich wenigstens. Und du wohl auch.«