Joan stand rasch auf. Ihr Gesicht leuchtete. »Komm«, sagte sie. »Gib mir noch von dem Calvados. Er scheint wirklich ein Calvados der Träume zu sein.« Sie ging zum Bett hinüber und hob das Abendkleid hoch. »Mein Gott — und ich habe nur diese zwei alten, schwarzen Fetzen!«
»Vielleicht können wir da auch noch etwas tun. In zwei Wochen kann manches passieren. Ein Blinddarm in der besseren Gesellschaft oder ein komplizierter Bruch bei einem Millionär...«
14
Andre Durant war ehrlich entrüstet. »Man kann mit Ihnen nicht mehr arbeiten«, erklärte er.
Ravic zuckte die Achseln. Er wußte von Veber, daß Durant zehntausend Frank für die Operation bekam. Wenn er nicht vorher abmachte, was er haben wollte, würde Durant ihm zweihundert Frank schicken. Er hatte es das letztemal auch getan.
»Eine halbe Stunde vor der Operation. Ich hätte das von Ihnen nie erwartet, Doktor Ravic.«
»Ich auch nicht«, sagte Ravic.
»Sie wissen, daß Sie sich auf meine Generosität stets verlassen konnten. Ich verstehe nicht, weshalb Sie jetzt so geschäftlich sind. Es ist mir peinlich, in diesem Augenblick, wo der Patient weiß, daß wir sein Leben in der Hand halten, über Geld zu reden.«
»Mir nicht«, erwiderte Ravic.
Durant sah ihn eine Weile an. Sein faltiges Gesicht mit dem weißen Knebelbart zeigte Würde und Indignation. Er rückte an der goldenen Brille. »Was haben Sie denn gedacht?« fragte er widerstrebend.
»Zweitausend Frank.«
»Was?« Durant wirkte, als sei er erschossen worden, und glaubte es noch nicht. »Lächerlich«, sagte er dann kurz.
»Schön«, sagte Ravic. »Sie können ja leicht noch jemand andern finden. Nehmen Sie Binot; er ist ausgezeichnet.«
Er griff nach seinem Mantel. Durant starrte ihn an. In seinem würdigen Gesicht arbeitete es. »Warten Sie doch«, sagte er, als Ravic seinen Hut nahm. »Sie können mich doch nicht einfach so sitzenlassen! Warum haben Sie mir das nicht gestern gesagt?«
»Gestern waren Sie auf dem Lande und nicht zu erreichen.«
»Zweitausend Frank! Wissen Sie, daß ich das nicht einmal verlangen werde? Der Patient ist mein Freund, dem ich nur meine Auslagen berechnen kann.«
Andre Durant sah aus wie der liebe Gott in Kinderbüchern. Er war siebzig Jahre alt, ein leidlicher Diagnostiker, aber ein schwacher Operateur. Seine glänzende Praxis gründete sich hauptsächlich auf die Arbeit seines früheren Assistenten Binot, dem es vor zwei Jahren gelungen war, sich endlich selbständig zu machen. Seitdem benutzte Durant Ravic für seine schwierigen Operationen. Ravic machte die kleinsten Schnitte und arbeitete so, daß die Narben kaum sichtbar blieben. Durant war ein ausgezeichneter Bordeauxkenner, ein beliebter Gast auf eleganten Partys, und seine Patienten kamen meistens daher.
»Hätte ich das gewußt«, murmelte er.
Er wußte es immer. Das war die Ursache dafür, daß er vor größeren Operationen ein oder zwei Tage in seinem Haus auf dem Lande war. Er wollte vermeiden, vor der Operation über den Preis zu reden. Nachher war es einfacher — er konnte dann Hoffnung auf das nächstemal machen —, und das nächstemal war es dann wieder dasselbe. Diesmal war Ravic, zu Durants Überraschung, nicht im letzten Moment, sondern eine halbe Stunde vor der angesetzten Zeit zur Operation erschienen und hatte ihn erwischt, bevor der Patient eingeschläfert war. Es gab so keine Möglichkeit, das als Grund zu benutzen, um die Diskussion abzukürzen.
Die Schwester steckte den Kopf in die Tür. »Sollen wir mit der Narkose anfangen, Herr Professor?«
Durant schaute sie an; dann beschwörend und mit Menschlichkeit Ravic.
Ravic schaute menschlich, aber fest zurück.
»Was meinen Sie, Herr Doktor Ravic?« fragte Durant.
»Die Entscheidung liegt bei Ihnen, Professor.«
»Eine Minute, Schwester. Wir sind uns noch nicht ganz klar über den Verlauf.« Die Schwester zog sich zurück. Durant wandte sich an Ravic. »Was nun?« fragte er vorwurfsvoll.
Ravic steckte die Hände in die Taschen. »Verschieben Sie die Operation auf morgen — oder um eine Stunde, und nehmen Sie Binot.«
Binot hatte zwanzig Jahre fast alle Operationen Durants gemacht und war dabei zu nichts gekommen, weil Durant ihn systematisch von fast jeder Möglichkeit, etwas selbständig zu werden, abgeschnitten und ihn stets als besseren Handlanger gekennzeichnet hatte. Er haßte Durant und würde mindestens fünftausend Frank verlangen, das wußte Ravic. Durant wußte es auch.
»Doktor Ravic«, sagte er. »Unser Beruf sollte nicht in geschäftliche Diskussionen ausarten.«
»Das finde ich auch.«
»Warum überlassen Sie es nicht meiner Diskretion, die Sache zu regeln? Sie waren doch bisher stets zufrieden.«
»Nie«, sagte Ravic.
»Das haben Sie mir niemals gesagt.«
»Weil es wenig Zweck gehabt hätte. Außerdem hat es mich nicht sehr interessiert. Diesmal interessiert es mich. Ich brauche das Geld.«
Die Schwester kam wieder herein. »Der Patient ist unruhig, Herr Professor.«
Durant starrte Ravic an. Ravic starrte zurück. Es war schwer, einem Franzosen Geld zu entreißen, das wußte er. Schwerer als einem Juden. Ein Jude sieht das Geschäft, ein Franzose nur das Geld, das er hergeben soll.
»Eine Minute, Schwester«, sagte Durant. »Nehmen Sie Puls, Blutdruck und Temperatur.«
»Das habe ich schon.«
»Dann fangen Sie mit der Narkose an.«
Die Schwester ging. »Also gut«, sagte Durant mit einem Entschluß. »Ich werde Ihnen tausend geben.«
»Zweitausend«, korrigierte Ravic.
Durant ging nicht darauf ein. Er fuhr über seinen weißen Knebelbart. »Hören Sie, Ravic«, sagte er dann mit Wärme. »Als Refugié, der nicht praktizieren darf...«
»Dürfte ich auch bei Ihnen nicht operieren«, sagte Ravic ruhig. Er wartete jetzt nur noch auf die traditionelle Erklärung, daß er dankbar zu sein hätte, im Lande geduldet zu werden.
Aber Durant verzichtete darauf. Er sah, daß er nicht weiterkam, und die Zeit drängte. »Zweitausend«, sagte er so bitter, als sei das Wort eine Banknote, die ihm aus der Kehle flatterte. »Ich werde aus meiner eigenen Tasche zahlen müssen. Ich dachte, Sie würden sich erinnern, was ich für Sie getan habe.«
Er wartete. Sonderbar, dachte Ravic, daß Blutsauger so gern moralisch werden. Dieser alte Gauner mit der Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch wirft mir vor, daß ich ihn ausnütze, anstatt sich zu schämen. Und er glaubt es sogar noch.
»Also zweitausend«, sagte Durant endlich. »Zweitausend«, wiederholte er. Es war, als sagte er Heimat, lieber Gott, grüne Spargel, junge Rebhühner, alter St. Emilion. Dahin! »Können wir jetzt anfangen?«
Der Mann hatte einen fetten Spitzbauch und dünne Arme und Beine. Ravic wußte zufällig, wer er war. Er hieß Leval und war ein Beamter, zu dessen Ressort die Angelegenheiten der Emigranten gehörten. Veber hatte es ihm erzählt, als besonderen Witz.
Leval war ein Name, den jeder Refugié im International kannte. Ravic machte rasch den ersten Schnitt. Die Haut öffnete sich wie ein Buch. Er klammerte sie fest und sah auf das gelbliche Fett, das ihm entgegenquoll. »Wir werden ihn als Gratiszugabe ein paar Pfund leichter machen. Er kann sie sich dann wieder anfressen«, sagte er zu Durant.
Durant antwortete nicht. Ravic entfernte die Fettlager, um zu dem Muskel vorzudringen. Da liegt er nun, der kleine Gott der Refugiés, dachte er. Der Mann, der Hunderte von Schicksalen in seiner Hand hält, in dieser weißen Patschhand, die jetzt leblos daliegt. Der Mann, der den alten Professor Meyer ausgewiesen hat, Meyer, der nicht mehr die Kraft hatte, noch einmal den Kreuzweg zu beginnen, und der sich am Tage vor seiner Ausweisung schlicht in seinem Schrank im Hotel International erhängte. In seinem Schrank, weil nirgends sonst ein Haken war. Er konnte es; er war so leicht vom Hungern, daß der Haken, der für Kleider bestimmt war, hielt. Es war auch nicht mehr als ein Bündel Kleider mit etwas erwürgtem Leben darin, was das Mädchen morgens fand. Hätte dieser Spitzbauch hier Erbarmen gehabt, würde Meyer noch leben. »Klammer«, sagte er. »Tupfer.«