Er begriff, daß es nicht ratsam war, bei völliger Dunkelheit durch einen Dschungel zu stolpern, von dem er nichts wußte. Er kehrte um und suchte sich einen geschützten Platz am Waldrand. Sein Körper glühte noch immer von dem kalten Wasser, und er spürte alle Lebenskräfte in sich beben und pulsieren, aber er spürte auch bleierne Müdigkeit aufsteigen, die Müdigkeit eines anstrengenden Transatlantikfluges, eines langen Tages und einer ereignisreichen Nacht. Er legte sich nieder, zwischen Moos und raschelnden Blättern, und schlief auf der Stelle ein.

Als er erwachte, war es hell. Er brauchte einen Moment, bis ihm wieder einfiel, was geschehen war. Wäre er an diesem Morgen in seinem Bett erwacht, er hätte das Erlebte bereitwillig als phantastischen Traum akzeptiert. Aber dies war die Wirklichkeit. Mit einem Schlag war er hellwach.

Die Sonne stand schon recht hoch am Himmel und brannte kraftvoll auf ihn herab. Er sah sich blinzelnd um. Bei Tag wirkte alles weit weniger bedrohlich, fast schon gewöhnlich. Da war der Fluß, den er durchschwommen hatte. Und wenn er sich umdrehte, der Wald mit seiner sinnverwirrenden Vielfalt verschiedener Pflanzen, Bäume, Sträucher und Blüten. Tonak nahm sein Bündel und stand auf. Der Dschungel wartete auf ihn. Mit dem großen, scharfen Messer, das er aus Tante Vataias Küche entwendet hatte, arbeitete er sich durch das Unterholz vorwärts. Jetzt war der Wald wach. Um ihn herum, unsichtbar im Dickicht, spektakelte und krakeelte es ohrenbetäubend, war unentwegt von irgendwoher ein Schnattern und Gackern, Zischen und Rascheln, Zwitschern und Gurren zu hören. Das grelle Sonnenlicht brach funkelnd durch das Dach der hohen Bäume und zauberte Schatten und Reflexe in unzählbaren Farben auf die Blätter, Blüten und Zweige ringsherum.

Tonak verspürte Hunger, und das in nicht geringem Maß. Er konnte sich kaum erinnern, jemals derart hungrig gewesen zu sein. Sein Blick fiel auf einige Beeren. Sie mochten eßbar sein oder das pure Gift, er wußte es nicht. Mißtrauisch pflückte er einige der Beeren und roch daran, zerquetschte eine zwischen den Fingern und schnupperte wieder. Sie roch nicht gut, faulig und stechend. Er warf die restlichen Beeren weg und setzte seinen Weg fort.

Er würde nicht umhin kommen, ein Tier zu töten, um es zu essen. Vorsichtshalber hatte er die Schußwaffe mitgenommen, die er im Keller in einer Schublade gefunden hatte und von der er vermutete, daß sie Onkel Peret gehörte. Es würde eine Weile dauern, bis er sich eine eigene Waffe, einen Bogen etwa, gebaut hatte und gelernt, damit umzugehen. Vordringlich mußte er eine Stelle finden, an der er ein ständiges Nachtlager errichten konnte und an der ihm frisches Wasser zur Verfügung stand.

Diese Überlegungen machten ihn beinahe trunken vor Ekstase. Nie hätte er zu hoffen gewagt, einmal tatsächlich Abenteuer zu erleben vergleichbar jenen, von denen er all die Jahre in dem unterirdischen, muffigen Lesesaal unter dem wachsamen Auge des Bibliothekars gelesen hatte. Und nun war es geschehen. Er war hier. Dies war die Erfüllung seines Lebens. Was immer jetzt noch kommen mochte, dies konnte ihm keiner mehr nehmen.

Und dann war da plötzlich das Tier. Eine große Raubkatze, die unvermittelt zwischen den Bäumen stand wie hingezaubert und ihn aus glühenden Augen musterte.

Tonaks Herz schien mit einem Mal groß und pochend seinen gesamten Brustkorb auszufüllen. Blitzartig wurde ihm klar, daß diese Situation gemeint gewesen war, wenn in den alten Büchern vom ’Gesetz der Wildnis’ die Rede gewesen war. Einer würde jetzt das Frühstück des anderen werden – es war nur noch nicht klar, wer.

Die Katze starrte ihn unverwandt und, wie es schien, unschlüssig an, während sie langsam und unhörbar näherkam. Offenbar konnte sie ihren Gegenüber noch weniger einordnen als dies umgekehrt der Fall war. Tonak griff mit einer langsamen, hoffentlich unauffälligen Bewegung nach dem Revolver in seiner Tasche. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, die Waffe zu entsichern, dann hob er den Lauf und feuerte.

Das Tier zuckte zusammen und wich fauchend zurück. Tonak feuerte erneut, und die Bestie jaulte auf. Es war nicht so leicht, zu töten, wie Tonak sich das vorgestellt hatte. Er hielt den Atem an und zielte zwischen die Augen, und gerade als die Katze zum Sprung ansetzen wollte, schoß er ein drittes Mal. Das Tier fiel um wie von einer Axt gefällt.

Mit einem nie zuvor erlebten Gefühl der Befriedigung blickte er auf das tote Tier herab. Sein Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals.

In den Protokoll der Polizei, das er später unterschreiben mußte und aufgrunddessen er angeklagt wurde wegen »unbefugten Eindringens in ein Naturreservat, unerlaubten und artfremden Tötens eines geschützten Tieres und vorsätzlicher Beschädigung staatlichen Eigentums«, erfuhr er, daß sich dieser Kampf im Planquadrat 234/9 zugetragen hatte. Davon wußte er in diesem Augenblick nichts. Er setzte das Messer an, um seiner Beute den Bauch aufzuschlitzen, sie zu zerlegen in eßbare Teile. Mitten im Schnitt blieb die Klinge an etwas Metallischem hängen, und als er nachsah, fand er eine kleine implantierte Plakette mit der Aufschrift:

»Staatl. Wildnisverwaltung, Inventar-Nr. 32/00072/14200278«.

© 1994

Die Haarteppichknüpfer

(Aus dieser Kurzgeschichte erstand der gleichnamige preisgekrönte Roman.)

Knoten um Knoten, tagein, tagaus, ein Leben lang, immer die gleichen Handbewegungen, immer die gleichen Knoten in das feine Haar schlingend, so fein und winzig, daß die Finger zittrig wurden mit der Zeit und die Augen schwach von der Anstrengung des Sehens – und die Fortschritte waren kaum zu merken; wenn er gut vorankam, entstand in einem Tag ein neues Stück seines Teppichs, das vielleicht so groß war wie sein Fingernagel. So hockte er an dem knarrenden Knüpfrahmen, an dem schon sein Vater gesessen war und vor ihm dessen Vater, in der gleichen gebeugten Haltung, die alte, halbblinde Vergrößerungslinse vor den Augen, die Arme auf das abgewetzte Brustbrett gestützt und nur mit den Fingerspitzen die Knotennadel führend. So knüpfte er Knoten um Knoten in der seit Generationen überlieferten Weise, bis er in einen Trancezustand geriet, in dem ihm wohl war; sein Rücken hörte auf zu schmerzen, und er spürte das Alter nicht mehr, das ihm in den Knochen saß. Er lauschte auf die vielfältigen Geräusche des Hauses, das der Großvater seines Urgroßvaters erbaut hatte – den Wind, der ewig gleich über das Dach strich und sich in offenen Fenstern fing, das Klappern von Geschirr und die Gespräche seiner Frauen und Töchter unten in der Küche. Jedes Geräusch war ihm vertraut. Er hörte die Stimme der Weisen Frau heraus, die seit einigen Tagen im Haus lebte, weil Garliad, seine Nebenfrau, ihre Niederkunft erwartete. Er hörte die halbstumme Türglocke scheppern, dann ging die Haustür, und Aufregung kam in das Gemurmel der Gespräche. Das war wahrscheinlich die Händlerin, die heute kommen sollte mit Lebensmitteln, Stoffen und anderen Dingen.

Dann knarzten schwerfällige Schritte die Treppe zum Knüpfzimmer empor. Das mußte eine der Frauen sein, die ihm das Mittagessen brachte. Unten würden sie jetzt die Händlerin an den Tisch einladen, um den neuesten Klatsch zu erfahren und sich irgendwelchen Tand aufschwatzen zu lassen. Er seufzte, zog den Knoten fest, an dem er gerade war, setzte die Vergrößerungslinse ab und drehte sich um.

Es war Garliad, die da stand mit ihrem enormen Bauch und einem dampfenden Teller in der Hand und wartete, bis er ihr mit einer ungeduldigen Handbewegung erlaubte, näherzutreten.

"Was fällt den anderen Frauen ein, dich arbeiten zu lassen in deinem Zustand?" knurrte er. "Willst du meine Tochter auf der Treppe gebären?"

"Ich fühle mich heute sehr gut, Ostvan", erwiderte Garliad.

"Wo ist mein Sohn?"

Sie zögerte. "Ich weiß es nicht."

"Dann kann ich es mir schon denken!" schnaubte Ostvan. "In der Stadt! In dieser Schule! Bücher lesen, bis ihm die Augen wehtun, und sich Flausen in den Kopf setzen lassen!"