»Deswegen hätte sie ihn aber doch heiraten können.«

»Zufällig ist Alaina verrückt danach, Kinder zu kriegen. Und Bjoot muß, so blöd er auch aussieht, der Träger geradezu phantastischer Gene sein. Mit ihm hat sie die Konzession für zwei Kinder gekriegt.« Gham’bia seufzte. »Jedenfalls hoffe ich, daß sie ihn wenigstens aus diesem Grund geheiratet hat und nicht, weil sie an galoppierender Geschmacksverirrung erkrankt ist.« Sie sah ihn keck von der Seite an. »Und du bist also der Tonak, der die ganzen alten Bücher liest.«

»Jeder scheint hier über mich Bescheid zu wissen«, wunderte sich Tonak. Er wußte nicht so recht, ob er sich geschmeichelt oder unwohl fühlen sollte.

»Ich glaube, meine Mutter und deine Mutter telephonieren ziemlich viel miteinander. Und am Eßtisch verkündet sie dann immer die neuesten Nachrichten aus Europa«, erklärte Gham’bia. »Das mit den Büchern finde ich echt interessant. Woher bekommst du die denn? Ich wüßte gar nicht, wo ich hier Bücher auftreiben sollte. Wenn mich etwas interessiert, frage ich es aus der Datenbank ab; das ist doch viel praktischer.«

»Bei uns im Wohnbereichszentrum gibt es eine Bibliothek; dorthin gehe ich immer zum Lesen«, erzählte Tonak.

»Und dort gibt es so alte Bücher? Dreihundert Jahre alt?«

»Ja. Manche sind sogar über vierhundert Jahre alt. Man darf sie nur in einem speziellen Lesesaal lesen, weil sie unerhört wertvoll sind.«

»Ist ja witzig. Ich muß mich glatt mal erkundigen, ob es sowas bei uns nicht auch gibt.«

»Bestimmt.«

»Und was für Bücher liest du da? Abenteuerromane, sagt meine Mutter, aber ich kann mir darunter nichts vorstellen.«

Tonak holte tief Luft. »Das sind spannende Erzählungen aus den Zeiten, als die verschiedenen Gegenden der Erde entdeckt und erstmals bereist wurden. Marco Polo… Jack London… Robinson Crusoe… Karl May… über die Konquistadoren, die Wikinger, die Ritter, die Großwildjäger…«

»Merkwürdig. Und das gefällt dir?«

»Ja, es ist einfach aufregend. Ich versuche immer, mir vorzustellen, was das für Zeiten gewesen sein müssen, als jemand zu einem anderen Erdteil aufbrechen konnte, über den er so gut wie nichts wußte. Manche zogen los und fanden sagenhafte Schätze, oder unbekannte Völker, oder sie entdeckten Tiere, die bis dahin unbekannt gewesen waren…«

»Das muß ziemlich gefährlich gewesen sein, oder?«

»Ja natürlich, das ist ja das Abenteuerliche daran: daß sie sich in Gefahr begaben und sie doch bewältigten, mit ihrer eigenen Kraft und Klugheit. Heutzutage ist das überhaupt nicht mehr möglich. Heute sieht es überall auf der Welt gleich aus, die ganze Erde ist eine Art Parklandschaft geworden, sauber, gepflegt und ungefährlich. Das ganze Leben läuft in seinen geregelten Bahnen.«

»Ich glaube, du bist ein ganz schöner Träumer, Cousin«, meinte Gham’bia. »Das war doch klar: wenn deine Abenteurer ständig ausziehen und die Welt erforschen, dann muß logischerweise der Tag kommen, an dem alles vollständig erforscht ist. Und so ist das eben heute. Vielleicht gibt es heute keine solchen Gefahren mehr, aber dafür muß niemand mehr hungern oder Angst um sein Leben haben.«

Tonak nickte betrübt. »Ja, sicher. Das weiß ich alles auch. Aber ist das denn das ganze Leben? Daß man zu essen hat und eine Wohnung, eine Arbeit, eine Familie… und weiter nichts?«

»Das ist doch schon eine ganze Menge«, meinte Gham’bia. »Was willst du denn außerdem noch?«

»Ich weiß nicht«, gab Tonak zu. »Ich habe nur irgendwie das Gefühl, daß das nicht genug ist.«

Gham’bia schüttelte den Kopf in einer Art, die etwas Mütterliches an sich hatte, trotz ihrer Jugend. »Ich glaube, du bist gerade in einer Umbruchsphase. Die Schule geht zu Ende, und du weißt noch nicht so recht, was kommt. Wenn du dich erst auf deinem Platz eingelebt hast, wirst du anders über das alles denken.«

Eine Umbruchsphase? Tonak seufzte innerlich. Wenn das eine Phase war, dann dauerte sie schon verflixt lange. Sein ganzes Leben lang.

Wahrscheinlich stimmte irgendwas mit ihm nicht.

»Liest du eigentlich nur solche alten Abenteuerromane?« fragte Gham’bia. »Sonst nichts? Das ist vielleicht ein bißchen einseitige Kost.«

Tonak dachte nach. Plagte ihn diese Sehnsucht, weil er so viele dieser Bücher las, oder las er so viele dieser Bücher, weil ihn diese Sehnsucht plagte – woher auch immer sie kommen mochte?

»Ich lese ziemlich viel, das stimmt«, gab er zu. »Und meistens Abenteuerromane. Manchmal auch Zukunftsromane.«

»Zukunftsromane?« wunderte sich Gham’bia. »Was ist denn das?«

»Das sind Erzählungen, wie sich die Leute früher ihre Zukunft vorstellten – also unsere Zeit heute. Fast alle waren davon überzeugt, daß wir über eine weitentwickelte Raumfahrt verfügen würden. Ich habe viele Romane gelesen, die beschreiben, wie Menschen der Zukunft mit Raumschiffen in die Tiefen des Weltraums vorstoßen, ferne Planeten erkunden und fremden Lebewesen begegnen.«

»So ein Unsinn. Was hätten wir denn davon?«

»Muß man denn immer etwas davon haben?« Tonak zeigte hinauf zum Nachthimmel, dessen funkelnde Sterne ihn auszulachen schienen. »Irgendwo dort draußen ist der Mars, mit seinen endlosen, roten Staubwüsten. Der Saturn, mit seinen grandiosen Ringen. Und unermeßlich viele weitere Wunder, von denen wir nicht einmal wissen. Wozu das alles, wenn niemals jemand dort oben stehen und das alles sehen soll?«

»Raumfahrt würde die Atmosphäre verschmutzen, und irgendwelche Raketen, die durchs All fliegen, kann man nicht mehr recyclen«, erklärte Gham’bia. »Meine Mutter hat mir das genau erklärt; sie sitzt schließlich auch im Forschungskontrollausschuß der Vereinten Nationen. Wir können uns keine Raumfahrt leisten, nur weil jemand die Ringe des Saturn sehen will.«

»Aber wozu sind wir denn geschaffen, wenn nicht, um alles anzuschauen, was es gibt?«

»Wir sind nicht geschaffen, wir sind entstanden. Und zufällig sind auch die Ringe des Saturn entstanden. Das eine hat nichts mit dem anderen zu tun. Und wenn jemand den Saturn anschauen will, soll er ein Teleskop benutzen.«

Tonak wußte nicht, was er darauf sagen sollte. Alles, was er gelernt und erfahren hatte, bestätigte ihm, daß Gham’bia recht hatte.

Sie hatten den Rundgang über den Parkweg gerade vollendet. »Komm«, forderte Gham’bia ihn auf, »setzt dich ein wenig zu uns an den Tisch.«

An dem Tisch herrschte eine ausgelassene Stimmung. Den Löwenanteil der Unterhaltung bestritt eine hochgewachsene blonde Frau mit dem Erzählen von Anekdoten. Das mußte Tante Vataia sein. Tonak wußte, daß sie seit einiger Zeit der Regierung von Südbrasilien angehörte und in allerlei wichtigen Gremien mitwirkte.

»…Die Bolivianer waren harte Burschen, wirklich hart. Da war harter Widerstand. Aber dann hatte jemand aus unserer Delegation die geniale Idee, die Berechnungen für die Umweltverträglichkeit des Sonnenkraftwerks auf dem Illampu nachzuprüfen, und siehe da – Fehler über Fehler! Das war der entscheidende Durchbruch. Der nahm den Falken buchstäblich die Waffen aus der Hand.«

»Bolivien!« warf eine untersetzte ältere Frau ein. »Ich weiß noch, wie entsetzt ich auf meiner ersten Reise dorthin war. Die klotzen ihre Häuser einfach in die Landschaft, und manchmal ihre Fabriken gleich daneben. Schrecklich. Wirklich tiefstes zwanzigstes Jahrhundert, möchte man meinen.«

Eine kleine Weckuhr, die Tante Vataia an einer silbernen Kette um den Hals trug, gab einen melodischen Ton von sich. Sie sah auf das Zifferblatt, dann erhob sie sich und klatschte in die Hände. »Liebe Gäste, darf ich kurz um eure Aufmerksamkeit bitten? Die Wetterkontrolle hat für zehn vor elf Regen angekündigt. Wir verlegen die Feier deswegen jetzt nach drinnen. Bitte seid so gut und helft alle, die Sachen hineinzutragen!«

Ein großes und lautstarkes Tischerücken, Stühleschleifen und Schüsseltragen brach los. Unter Gekicher und Geschnatter wurden Türen geöffnet, Vorhänge aufgezogen, Tischdecken zusammengefaltet und Anrichteplatten leergescharrt. Tonak überließ die klirrenden Getränkekisten den anderen und half den Frauen, die Kerzen von den Tischen einzusammeln und nach drinnen zu bringen.