Achtes Kapitel

Am andern Morgen erwartete der alte Kommissär aus einer gewissen Erfahrung heraus einige Unannehmlichkeiten, wie er die Reibereien mit Lutz nannte. »Man kennt ja die Samstage«, meinte er zu sich, als er über die Altenbergbrücke schritt, »da zeigen die Beamten die Zähne bloß aus schlechtem Gewissen, weil sie die Woche über nichts Gescheites gemacht haben.« Er war feierlich schwarz gekleidet, denn die Beerdigung Schmieds war auf zehn Uhr angesetzt. Er konnte ihr nicht ausweichen, und das war es eigentlich, was ihn ärgerte.

Von Schwendi sprach kurz nach acht vor, aber nicht bei Bärlach, sondern bei Lutz, dem Tschanz eben das in der letzten Nacht Vorgefallene mitgeteilt hatte.

Von Schwendi war in der gleichen Partei wie Lutz, in der Partei der konservativen liberalsozialistischen Sammlung der Unabhängigen, hatte diesen eifrig gefördert und war seit dem gemeinsamen Essen anschließend an eine engere Vorstandssitzung mit ihm auf Du, obgleich Lutz nicht in den Großrat gewählt worden war; denn in Bern, erklärte von Schwendi, sei ein Volksvertreter mit dem Vornamen Lucius ein Ding der absoluten Unmöglichkeit.

»Es ist ja wirklich allerhand«, fing er an, kaum daß seine dicke Gestalt in der Türöffnung erschienen war, »wie es da deine Leute von der Berner Polizei treiben, verehrter Lutz. Schießen meinem Klienten Gastmann den Hund zusammen, eine seltene Rasse aus Südamerika, und stören die Kultur, Anatol Kraushaar-Raffaeli, weltbekannter Pianist. Der Schweizer hat keine Erziehung, keine Weltoffenheit, keine Spur von einem europäischen Denken. Drei Jahre Rekrutenschule das einzige Mittel dagegen.«

Lutz, dem das Erscheinen seines Parteifreundes peinlich war und der sich vor seinen endlosen Tiraden fürchtete, bat von Schwendi, Platz zu nehmen.

»Wir sind in eine höchst schwierige Untersuchung verstrickt«, bemerkte er eingeschüchtert. »Du weißt es ja selbst, und der junge Polizist, der sie zur Hauptsache führt, darf für schweizerische Maßstäbe als ganz gut talentiert gelten. Der alte Kommissär, der auch noch dabei war, gehört zum rostigen Eisen, das gebe ich zu. Ich bedaure den Tod eines so seltenen südamerikanischen Hundes, bin ja selber Hundebesitzer und tierliebend, werde auch eine besondere, strenge Untersuchung durchführen. Die Leute sind eben kriminalistisch völlig ahnungslos. Wenn ich da an Chicago denke, sehe ich unsere Lage direkt trostlos.«

Er machte eine kurze Pause, konsterniert, daß ihn von Schwendi unverwandt schweigend anglotzte, und fuhr dann fort, aber nun schon ganz unsicher, er sollte wissen, ob der ermordete Schmied bei von Schwendis Klienten Gastmann Mittwoch zu Besuch gewesen sei, wie die Polizei aus gewissen Gründen annehmen müsse.

»Lieber Lutz«, antwortete der Oberst, »machen wir uns keine Flausen vor. Das wißt ihr von der Polizei alles ganz genau; ich kenne doch meine Brüder.«

»Wie meinen Sie das, Herr Nationalrat?« fragte Lutz verwirrt, unwillkürlich wieder in das Sie zurückfallend; denn beim Du war es ihm nie recht wohl gewesen.

Von Schwendi lehnte sich zurück, faltete die Hände auf der Brust und fletschte die Zähne, eine Pose, der er im Grunde sowohl den Oberst als auch den Nationalrat verdankte.

»Dökterli«, sagte er, »ich möchte nun wirklich einmal ganz genau wissen, warum ihr meinem braven Gastmann den Schmied auf den Hals gehetzt habt. Was sich nämlich dort im Jura abspielt, das geht die Polizei nun doch wohl einen Dreck an, wir haben noch lange nicht die Gestapo.«

Lutz war wie aus den Wolken gefallen. »Wieso sollen wir deinem uns vollständig unbekannten Klienten den Schmied auf den Hals gehetzt haben?« fragte er hilflos. »Und wieso soll uns ein Mord nichts angehen?«

»Wenn ihr keine Ahnung davon habt, daß Schmied unter dem Namen Doktor Prantl, Privatdozent für amerikanische Kulturgeschichte in München, den Gesellschaften beiwohnte, die Gastmann in seinem Hause in Lamboing gab, muß die ganze Polizei unbedingt aus kriminalistischer Ahnungslosigkeit abdanken«, behauptete von Schwendi und trommelte mit den Fingern seiner rechten Hand aufgeregt auf Lutzens Pult.

»Davon ist uns nichts bekannt, lieber Oskar«, sagte Lutz, erleichtert, daß er in diesem Augenblick den lang gesuchten Vornamen des Nationalrates gefunden hatte. »Ich erfahre eben eine große Neuigkeit.«

»Aha«, meinte von Schwendi trocken und schwieg, worauf Lutz sich seiner Unterlegenheit immer mehr bewußt wurde und ahnte, daß er nun Schritt für Schritt in allem werde nachgeben müssen, was der Oberst von ihm zu erreichen suchte. Er blickte hilflos nach den Bildern Traffelets, auf die marschierenden Soldaten, die flatternden Schweizer Fahnen, den zu Pferd sitzenden General. Der Nationalrat bemerkte die Verlegenheit des Untersuchungsrichters mit einem gewissen Triumph und fügte schließlich seinem Aha bei, es gleichzeitig verdeutlichend:

»Die Polizei erfährt also eine große Neuigkeit; die Polizei weiß also wieder gar nichts.«

Wie unangenehm es auch war und wie sehr das rücksichtslose Vorgehen von Schwendis seine Lage unerträglich machte, so mußte doch der Untersuchungsrichter zugeben, daß Schmied weder dienstlich bei Gastmann gewesen sei, noch habe die Polizei von dessen Besuchen in Lamboing eine Ahnung gehabt. Schmied habe dies rein persönlich unternommen, schloß Lutz seine peinliche Erklärung. Warum er allerdings einen falschen Namen angenommen habe, sei ihm gegenwärtig ein Rätsel.

Von Schwendi beugte sich vor und sah Lutz mit seinen rotunterlaufenen, verschwommenen Augen an. »Das erklärt alles«, sagte er, »Schmied spionierte für eine fremde Macht.«

»Wie meinst du das?« fragte Lutz hilfloser denn je.

»Ich meine«, sagte der Nationalrat, »daß die Polizei vor allem jetzt einmal untersuchen muß, aus was für Gründen Schmied bei Gastmann war.«

»Die Polizei sollte vor allen Dingen zuerst etwas über Gastmann wissen, lieber Oskar«, widersprach Lutz.

»Gastmann ist für die Polizei ganz ungefährlich«, antwortete von Schwendi, »und ich möchte auch nicht, daß du dich mit ihm abgibst oder sonst jemand von der Polizei. Es ist dies sein Wunsch, er ist mein Klient, und ich bin da, um zu sorgen, daß seine Wünsche erfüllt werden.« -

Diese unverfrorene Antwort schmetterte Lutz so nieder, daß er zuerst gar nichts zu erwidern vermochte. Er zündete sich eine Zigarette an, ohne in seiner Verwirrung von Schwendi eine anzubieten. Erst dann setzte er sich in seinem Stuhl zurecht und entgegnete:

»Die Tatsache, daß Schmied bei Gastmann war, zwingt leider die Polizei, sich mit deinem Klienten zu befassen, lieber Oskar.«

Von Schwendi ließ sich nicht beirren. »Sie zwingt die Polizei vor allem, sich mit mir zu befassen, denn ich bin Gastmanns Anwalt«, sagte er. »Du kannst froh sein, Lutz, daß du an mich geraten bist; ich will ja nicht nur Gastmann helfen, sondern auch dir. Natürlich ist der ganze Fall meinem Klienten unangenehm, aber dir ist er viel peinlicher, denn die Polizei hat bis jetzt noch nichts herausgebracht. Ich zweifle überhaupt daran, daß ihr jemals Licht in diese Angelegenheit bringen werdet.«

»Die Polizei«, antwortete Lutz, »hat beinahe jeden Mord aufgedeckt, das ist statistisch bewiesen. Ich gebe zu, daß wir im Falle Schmied in gewisse Schwierigkeiten geraten sind, aber wir haben doch auch schon – er stockte ein wenig – beachtliche Resultate zu verzeichnen. So sind wir von selbst auf Gastmann gekommen, und wir sind denn auch der Grund, warum dich Gastmann zu uns geschickt hat. Die Schwierigkeiten liegen bei Gastmann und nicht bei uns, an ihm ist es, sich über den Fall Schmied zu äußern, nicht an uns. Schmied war bei ihm, wenn auch unter falschem Namen; aber gerade diese Tatsache verpflichtet die Polizei, sich mit Gastmann abzugeben, denn das ungewohnte Verhalten des Ermordeten belastet doch wohl zunächst Gastmann. Wir müssen Gastmann einvernehmen und können nur unter der Bedingung davon absehen, daß du uns völlig einwandfrei erklären kannst, warum Schmied bei deinem Klienten unter falschem Namen zu Besuch war, und dies mehrere Male, wie wir festgestellt haben.«