Bärlach lehnte sich zurück und saß da, ein ergrauter, soignierter Herr, den Jungen neben sich aus seinen kalten Augenschlitzen ruhig betrachtend:

»Mein Gott, wir können nicht immer tun, was logisch ist, Tschanz. Lutz will nicht, daß wir Gastmann besuchen. Das ist verständlich, denn er mußte den Fall dem Bundesanwalt übergeben. Warten wir dessen Verfügung ab. Wir haben es eben mit heiklen Ausländern zu tun.« Bärlachs nachlässige Art machte Tschanz wild.

»Das ist doch Unsinn«, schrie er, »Lutz sabotiert mit seiner politischen Rücksichtnahme die Untersuchung. Von Schwendi ist sein Freund und Gastmanns Anwalt, da kann man sich doch sein Teil denken.«

Bärlach verzog nicht einmal sein Gesicht: »Es ist gut, daß wir allein sind, Tschanz. Lutz hat vielleicht etwas voreilig, aber mit guten Gründen gehandelt. Das Geheimnis liegt bei Schmied und nicht bei Gastmann.«

Tschanz ließ sich nicht beirren: »Wir haben nichts anderes als die Wahrheit zu suchen«, rief er verzweifelt in die heranziehenden Wolkenberge hinein, »die Wahrheit und nur die Wahrheit, wer Schmieds Mörder ist!«

»Du hast recht«, wiederholte Bärlach, aber unpathetisch und kalt, »die Wahrheit, wer Schmieds Mörder ist.«

Der junge Polizist legte dem Alten die Hand auf die linke Schulter, schaute ihm ins undurchdringliche Antlitz:

»Deshalb haben wir mit allen Mitteln vorzugehen, und zwar gegen Gastmann. Eine Untersuchung muß lückenlos sein. Man kann nicht immer alles tun, was logisch ist, sagen Sie. Aber hier müssen wir es tun. Wir können Gastmann nicht überspringen.«

»Gastmann ist nicht der Mörder«, sagte Bärlach trocken.

»Die Möglichkeit besteht, daß Gastmann den Mord angeordnet hat. Wir müssen seine Diener vernehmen!« entgegnete Tschanz.

»Ich sehe nicht den geringsten Grund, der Gastmann hätte veranlassen können, Schmied zu ermorden«, sagte der Alte.

»Wir müssen den Täter dort suchen, wo die Tat einen Sinn hätte haben können, und dies geht nur den Bundesanwalt etwas an«, fuhr er fort.

»Auch der Schriftsteller hält Gastmann für den Mörder«, rief Tschanz aus.

»Auch du hältst ihn dafür?» fragte Bärlach lauernd.

»Auch ich, Kommissär.«

»Dann du allein«, stellte Bärlach fest. »Der Schriftsteller hält ihn nur zu jedem Verbrechen fähig, das ist ein Unterschied. Der Schriftsteller hat nichts über Gastmanns Taten ausgesagt, sondern nur über seine Potenz.

Nun verlor der andere die Geduld. Er packte den Alten bei den Schultern.

»Jahrelang bin ich im Schatten gestanden, Kommissär«, keuchte er. »Immer hat man mich übergangen, mißachtet, als letzten Dreck benutzt, als besseren Briefträger!«

»Das gebe ich zu, Tschanz«, sagte Bärlach, unbeweglich in das verzweifelte Gesicht des Jungen starrend, »jahrelang bist du im Schatten dessen gestanden, der nun ermordet worden ist.«

»Nur weil er bessere Schulen hatte! Nur weil er Lateinisch konnte.«

»Du tust ihm Unrecht«, antwortete Bärlach, »Schmied war der beste Kriminalist, den ich je gekannt habe.«

»Und jetzt«, schrie Tschanz, »da ich einmal eine Chance habe, soll alles wieder für nichts sein, soll meine einmalige Gelegenheit hinaufzukommen in einem blödsinnigen diplomatischen Spiel zugrunde gehen! Nur Sie können das noch ändern, Kommissär, sprechen Sie mit Lutz, nur Sie können ihn bewegen, mich zu Gastmann gehen zu lassen.«

»Nein, Tschanz«, sagte Bärlach, »ich kann das nicht.« Der andere rüttelte ihn wie einen Schulbuben, hielt ihn zwischen den Fäusten, schrie:

»Reden Sie mit Lutz, reden Sie!«

Doch der Alte ließ sich nicht erweichen: »Es geht nicht, Tschanz«, sagte er. »Ich bin nicht mehr für diese Dinge zu haben. Ich bin alt und krank. Da braucht man seine Ruhe. Du mußt dir selber helfen.«

»Gut«, sagte Tschanz, ließ plötzlich von Bärlach ab und ergriff wieder das Steuer, wenn auch totenbleich und zitternd. »Dann nicht. Sie können mir nicht helfen.«

Sie fuhren wieder gegen Ligerz hinunter.

»Du bist doch in Grindelwald in den Ferien gewesen? Pension Eiger?« fragte der Alte.

»Jawohl, Kommissär.«

»Still und nicht zu teuer?«

»Wie Sie sagen.«

»Gut, Tschanz, ich fahre morgen dorthin, um mich auszuruhen. Ich muß in die Höhe. Ich habe für eine Woche Krankenurlaub genommen.«

Tschanz antwortete nicht sofort. Erst als sie in die Straße Biel-Neuenburg einbogen, meinte er, und seine Stimme klang wieder wie sonst:

»Die Höhe tut nicht immer gut, Kommissär.«

Fünfzehntes Kapitel

Noch am selben Abend ging Bärlach zu seinem Arzt am Bärenplatz, Doktor Samuel Hungertobel. Die Lichter brannten schon, von Minute zu Minute brach eine immer finsterere Nacht herein. Bärlach schaute von Hungertobels Fenster auf den Platz hinunter, auf die wogende Flut der Menschen. Der Arzt packte seine Instrumente zusammen. Bärlach und Hungertobel kannten sich schon lange, sie waren zusammen auf dem Gymnasium gewesen.

»Das Herz ist gut«, sagte Hungertobel, »Gott sei Dank!«

»Hast du Aufzeichnungen über meinen Fall?« fragte ihn Bärlach.

»Eine ganze Aktenmappe«, antwortete der Arzt und wies auf einen Papierstoß auf dem Schreibtisch. »Alles deine Krankheit.«

»Du hast zu niemandem über meine Krankheit geredet, Hungertobel?« fragte der Alte.

»Aber Hans?!« sagte der andere alte Mann, »das ist doch Arztgeheimnis.«

Drunten auf dem Platz fuhr ein Mercedes vor, leuchtete unter einer Straßenlaterne blau auf, hielt zwischen anderen Wagen, die dort parkten. Bärlach sah genauer hin. Tschanz stieg aus und ein Mädchen in weißem Regenmantel, über den das Haar in blonden Strähnen floß.

»Ist bei dir einmal eingebrochen worden, Samuel?« fragte der Kommissär.

»Wie kommst du darauf?«

»Nur so.«

»Einmal war mein Schreibtisch durcheinander«, gestand Hungertobel, »und deine Krankheitsgeschichte lag oben auf dem Schreibtisch. Geld fehlte keins, obschon ziemlich viel im Schreibtisch war.«

»Und warum hast du das nicht gemeldet?«

Der Arzt kratzte sich im Haar. »Geld fehlte, wie gesagt, keins, und ich wollte es eigentlich trotzdem melden. Aber dann habe ich es vergessen.«

»So«, sagte Bärlach, »du hast es vergessen. Bei dir wenigstens geht es den Einbrechern gut.« Und er dachte: Daher weiß es also Gastmann. Er schaute wieder auf den Platz hinunter. Tschanz trat nun mit dem Mädchen in das italienische Restaurant. Am Tage seiner Beerdigung, dachte Bärlach und wandte sich nun endgültig vom Fenster ab. Er sah Hungertobel an, der am Schreibtisch saß und schrieb.

»Wie steht es nun mit mir?«

»Hast du Schmerzen?«

Der Alte erzählte ihm seinen Anfall.

»Das ist schlimm, Hans«, sagte Hungertobel, »wir müssen dich innert drei Tagen operieren. Es geht nicht mehr anders.«

»Ich fühle mich jetzt wohl wie nie.«

»In vier Tagen wird ein neuer Anfall kommen, Hans«, sagte der Arzt, »und den wirst du nicht mehr überleben.«

»Zwei Tage habe ich also noch Zeit. Zwei Tage. Und am Morgen des dritten Tages wirst du mich operieren. Am Dienstagmorgen.«

»Am Dienstagmorgen«, sagte Hungertobel.

»Und dann habe ich noch ein Jahr zu leben, nicht wahr, Samuel?« sagte Bärlach und sah undurchdringlich wie immer auf seinen Schulfreund. Der sprang auf und ging durchs Zimmer.

»Wie kommst du auf solchen Unsinn!«

»Von dem, der meine Krankheitsgeschichte las.«

»Bist du der Einbrecher?« rief der Arzt erregt.

Bärlach schüttelte den Kopf: »Nein, nicht ich. Aber dennoch ist es so, Samuel; nur noch ein Jahr.«

»Nur noch ein Jahr«, antwortete Hungertobel, setzte sich an der Wand seines Ordinationszimmers auf einen Stuhl und sah hilflos zu Bärlach hinüber, der in der Mitte des Zimmers stand, in ferner, kalter Einsamkeit, unbeweglich und demütig, vor dessen verlorenem Blick der Arzt nun die Augen senkte.

Sechzehntes Kapitel